Es gibt eine Handvoll Ereignisse, die sich in das kollektive Gedächtnis der NBA-Gemeinde einbrennen und überleben, selbst wenn sie ewig zurückliegen und es immer weniger Fans gibt, die sie tatsächlich "live" erlebt haben. Es spielt keine Rolle: Die Ereignisse waren ikonisch, ihr Erbe wird fortan beschützt.
"There's a steal by Bird!" ist so ein Moment, oder auch "a spectacular Move!" von Michael Jordan. Mehr und mehr gesellt sich auch Allen Iversons Stepover über Tyronn Lue in diese Reihe, um ein etwas jüngeres Beispiel zu nennen.
Es gibt aber vielleicht kein einziges Ereignis, das mit Willis Reeds Spiel 7 in den Finals 1970 vergleichbar ist; mit einem einzigen Spiel, eigentlich nur mit zwei Jumpern, definierte Reed alles, was den New Yorker Basketball damals ausmachte und wonach sich das Publikum im Madison Square Garden seither verzehrt. Opferbereitschaft, Teamgeist, Inspiration, Mythos.
Willis Reed: Für immer unvergessen
"And here comes Willis!" war nicht das einzige Beispiel, bei dem ein verletzter Spieler auf die Zähne biss und trotzdem spielte - im Gegenteil. Es gab aber keine vergleichbare Situation, die unmittelbar das Ende der Saison bestimmte. Game 7, NBA Finals, Madison Square Garden, New York gegen L.A. Kein Wunder, dass über dieses Spiel, dieses Team, diese Typen ein ganzes Regal voller Bücher geschrieben und Filme gedreht wurden.
Reed, der amtierende MVP der Liga, hatte in den ersten vier Spielen der Serie im Duell gegen Wilt Chamberlain 37, 29, 38 und 23 Punkte aufgelegt, 15 Rebounds im Schnitt holte er gegen den viel größeren Chamberlain ebenfalls und verteidigte ihn aufopferungsvoll. Im fünften Spiel jedoch verletzte sich der Center am Oberschenkel - und zwar nicht nur ein bisschen.
Er riss sich einen Muskel. Wer das schon einmal erlebt hat, kann vielleicht nachvollziehen, warum Reed in Spiel 6 nicht antrat und mitansehen musste, wie Chamberlain die Fesseln ablegte und die Lakers mit 45 Punkten und 27 Rebounds zum 3-3-Serienausgleich führte. Was danach passierte, kann wohl wiederum nicht jeder nachvollziehen.
Willis Reed: Wie von den Toten auferstanden
Tagelang wurde vor Spiel 7 gerätselt, ob Reed vielleicht doch spielen würde - trotz monströser Schmerzen war das schließlich immer noch Reed, die Definition eines harten Hundes. Beim Warmup wussten selbst seine Mitspieler noch immer nicht endgültig Bescheid, bis Reed, voll mit Schmerzmittelinjektionen, auf den Court humpelte.
Die Fans, die den MSG natürlich schon fast gefüllt hatten, feierten das Erscheinen ihres Captains wie die Auferstehung von Jesus Christus - ganz anders als die Lakers, die ihr Warmup kurzfristig unterbrachen. "Als ich gesehen habe, wie sie Willis anstarrten, dachte ich mir, dass wir sie vielleicht in der Tasche hatten", sagte Walt Frazier.
"Ich wollte nicht eines Tages, in 20 Jahren oder so, in den Spiegel schauen und sagen: 'Ich wünschte, ich hätte es versucht'", erinnerte sich Reed später. Er riskierte eine noch schlimmere Verletzung und biss auf die Zähne - rückblickend wohl eine Entscheidung, die er in 100 von 100 Fällen wieder treffen würde.
Willis Reed: Statline a la Deron Williams
4 Punkte hatte Reed am Ende auf dem Konto, dazu 3 Rebounds und 1 Assist. Und 4 Fouls. In 27 Minuten Spielzeit. Das klingt nach Deron Williams in den Finals 2017, war tatsächlich aber einer der Hauptgründe dafür, dass die Knicks dieses Spiel vom Start weg dominierten. Von Zeit zu Zeit ist der Kontext wichtiger als die Handlung an sich - die Inspiration wichtiger als die Punkte.
Und es begann mit dem Jump. Reed war 2,06 m groß und verletzt, trotzdem gelang es ihm, höher zu springen als der 2,16 m große Chamberlain. Wenig später erzielte er per Jumpshot die ersten Punkte des Spiels, auch der zweite Korberfolg der Knicks war ein Jumper von Reed. Es waren seine einzigen Punkte, aber sie reichten. Denn seine Mitspieler ließen sich von Reed und vom Publikum mitreißen und spielten in der Folge wie von einer Tarantel gestochen.
In Halbzeit eins führten sie zwischenzeitlich schon mit 29 Punkten, am Ende waren es 14 Punkte Unterschied beim ersten Titel für die Knicks-Franchise. Reed spielte den Großteil seiner Minuten in der ersten Hälfte und hielt Chamberlain bei 2/9 aus dem Feld, offensiv schmiss Frazier mit einer der großen Finals-Leistungen (36 Punkte, 19 Assists), die trotzdem überschattet wurde, die Show.
Willis Reed: Jeden Tag im Leben die Erinnerung
Als Finals-MVP wurde dennoch Reed ausgezeichnet, wegen seinen Monsterleistungen in den ersten Spielen, aber vor allem wegen seiner Wirkung in Spiel 7. Reeds Wille und Opferbereitschaft beeindruckten dermaßen, dass die Journalisten ihre Neutralität komplett über Bord warfen: "Du verkörperst das Beste, was der menschliche Geist anzubieten hat", sagte der berühmte New York Times-Reporter Howard Cosell nach dem Spiel im Fernsehen zu Reed.
Cosell war nicht der Einzige, der dies so empfand - Reed war bis zu seinem Tod einer der liebsten Söhne der Stadt und musste wahrscheinlich seit diesem Juni-Tag 1970 in keinem New Yorker Restaurant mehr die Rechnung bezahlen. Jeder liebte Reed - und immer aus einem Grund: "Es ist seitdem kein Tag in meinem Leben vergangen, an dem ich nicht an dieses Spiel erinnert werde", lachte Reed später.
Man könnte fast annehmen, seine Laufbahn hätte nur aus diesem Ereignis bestanden - das wäre aber weit gefehlt. Reeds beste Zeit dauerte nicht lange, dennoch gehört er ohne Zweifel nicht nur wegen diesem einen Spiel zu den besten Spielern seiner Ära.
Knicks waren schwach ohne Reed
Die Knicks waren eine ziemliche Gurkentruppe, bevor Reed 1964 an 8. Stelle gedraftet wurde. Zunächst auch mit ihm: Zwar war Reed schon als Rookie All-Star (siebenmal in Serie von da an), in seinen ersten beiden Jahren gehörten sie trotzdem zum Bodensatz der jungen NBA. Zwischen 1956 und 1966 stellten die Knicks stolze neunmal die schlechteste Bilanz der Liga.
Nach und nach wurde der Kader jedoch verstärkt, während Reed individuell für Ausrufezeichen sorgte. Mit seinem Spiel, wie als er den Lakers als Rookie 46 Punkte einschenkte, aber auch mit seiner Härte und Furchtlosigkeit, wie als er 1967 abermals gegen die Lakers binnen zehn Sekunden sage und schreibe drei Gegner ausknockte.
In einer Ära, in der Schlägereien noch absolut toleriert wurden und sogar zum guten Ton gehörten, galt Reed als der Typ, mit dem sich keiner anlegen wollte. Dass solche Typen im Big Apple gut ankommen, bewies rund 30 Jahre später Charles Oakley, der sich mit seinem "Körpereinsatz" ebenfalls in die Herzen des Publikums spielte.
Willis Reed: Dank Bellamy auf der falschen Position
Reed war aber weit mehr als ein Enforcer - und das zeigte sich mit der Zeit immer mehr. In seiner ersten Postseason 1967 etwa steigerte Reed seinen Punkteschnitt von 20,9 auf 27,5 Punkte und deutete an, dass die große Bühne ihm durchaus lag. Und das, obwohl er damals noch auf der falschen Position Power Forward spielen musste, da die Knicks an Walt Bellamy auf Center festhalten wollten.
Ab 1967 wendete sich das Blatt jedoch. Während der Saison übernahm der spätere Meistercoach Red Holzman das Team von Dick McGuire und führte das Team zur ersten positiven Bilanz in Reeds Karriere. Nicht ganz unbeteiligt daran waren auch die Rookies Frazier und Bradley - und auch ein gewisser Hustle-Player namens Phil Jackson debütierte in dieser Saison. Auch wenn dieser heutzutage nicht mehr "ganz" so beliebt in New York ist wie seine damaligen Mitspieler.
Im Dezember 1968 erfolgte dann der letzte und vielleicht wichtigste Move auf dem Weg zum Topteam. Bellamy wurde für DeBusschere getradet, was für Reed in zweierlei Hinsicht perfekt war. Einerseits war der Power Forward ein Vorzeige-Hustler und nahm ihm beim Rebounding und defensiv einige Last von den Schultern - andererseits war er ein Power Forward.
"Seit dem Trade fühle ich mich wie ein ganz neuer Mensch", sagte Reed damals. "Center ist meine Position." Und er sollte sie von nun an auch nicht mehr abgeben. Dieser Trade war der Grundstein für die beste Zeit von Reeds Karriere - und die beste Zeit der Knicks-Franchise.
Zweiter Titel, dann Karriereende
1969 war in den Playoffs gegen die Celtics noch Endstation, im folgenden Jahr passte dann alles - die Knicks holten nicht nur die beste Bilanz der Liga, sie holten sich auch den Titel. 1972 erreichten sie ein weiteres Mal die Finals, verloren ohne Reed, der in der gesamten Saison nur elf Spiele absolvierte, aber gegen die Lakers - 1973 revanchierten sie sich prompt und Reed schnappte sich seinen zweiten Finals-MVP-Award.
Über andere Center dieser Zeit ist mehr geschrieben und gesprochen worden, was angesichts der kurzen Blütezeit Reeds auch verständlich ist. Beim zweiten Knicks-Titel war Reed schon kein All-Star mehr, während der Saison danach beendete er seine Karriere. Er konnte in seiner besten Zeit aber mehr als nur mithalten.
In den Playoffs 1969 und 1970 absolvierte Reed fünf Serien gegen Wes Unseld (zweimal), Russell, Chamberlain und Kareem Abdul-Jabbar und legte dabei 25 Punkte und 14 Rebounds im Schnitt auf - und sein Team gewann vier der Serien. Seine Größennachteile kaschierte er beeindruckend mit enormer Kraft und Einsatzwillen - und einem für die Zeit extrem guten Jumper.
Willis Reed: Vorreiter moderner Big Men?
Gerade aufgrund letzterer Eigenschaft darf man davon ausgehen, dass Reed auch im heutigen Spiel recht gut klarkommen würde - die Knicks dieser Zeit gelten aufgrund ihrer selbstlosen Offense, ihrer vielen Cuts und der Blöcke abseits des Balles ohnehin ein wenig als Vorreiter des modernen Stils, auch wenn es zu Reeds Zeiten keine Dreierlinie gab. Seinen Hang zur Prügelei hätte er sich freilich abgewöhnen müssen.
Mit relativ großer Sicherheit aber hätte Reed von der heutigen Medizin profitiert. Mit gerade einmal 31 Jahren war sein Körper, gezeichnet von Verletzungen an Knie, Rücken und (wie erwähnt) Oberschenkel, nicht mehr bereit für NBA-Basketball.
Nach bloß zehn Jahren in der NBA hörte Reed auf, gezeichnet von einer Zeit, in der die Teams noch mit dem Bus quer durchs Land fuhren und die Sneaker eher an die Sandalen eines Römischen Soldaten erinnerten denn an einen Schuh von Air Jordan.
"Er macht einen auf Willis Reed"
Reeds "Erbe" ist - vor allem dank Game 7 - dennoch gesichert: "Ich erinnere mich an ein Playoff-Spiel der Celtics, das ich gesehen habe, in dem sich Paul Pierce verletzte, dann aber zurückkam", sagte Reed 2010 zu ESPN. "Die Kommentatoren sagten: 'Er macht einen auf Willis Reed.' Das ist irgendwie schön, als Synonym für so etwas zu gelten."
Bis zu seinem Tod spielte Reed seine Bedeutung in diesem Spiel allerdings herunter und verwies stattdessen auf die Rolle der Fans. "Ich habe eine Standing Ovation bekommen", erinnerte sich Reed an den Moment, in dem er die Halle betrat. "Und ich denke nur: Jetzt bist du hier und musst gegen den besten Big Man aller Zeiten spielen. Aber das war großartig. In so einer Situation sind die Fans sehr wichtig, um das Team zu motivieren."
Dass jeder andere Mensch - egal ob Mitspieler, Gegner oder Fan - darauf schwört, dass er dieses Spiel entschieden hat und niemand sonst, interessierte Willis nie. Kein Wunder, dass sie sich in New York nach einem Captain wie ihm sehnen.