Dieser Artikel wurde erstmals am 30. Mai 2020 veröffentlicht.
"Jerry, Erfolg ist eine lange Reise, doch das größte Kompliment, das ein Mann bekommen kann, ist der Respekt seiner Kollegen." Es war das Jahr 1971 und Jerry-West-Night im Forum von Los Angeles. Celtics-Legende und Trainer Bill Russell sprach über einen seiner größten Konkurrenten seiner Spieler-Karriere. "Respekt hast du mehr als genug. Du bist ein wahrer Champion. Mein Wunsch ist, dass du für immer glücklich bist."
Es war die Geschichte einer der angesehensten Spieler der 60er-Jahre. Nur ein Titel war dem schmächtigen, weißen Shooting Guard bis dahin nicht vergönnt gewesen. Sieben Finals erreichten seine Los Angeles Lakers, allein sechsmal waren die Boston Celtics um Russell der Gegner. Alle sieben gingen mehr oder weniger dramatisch verloren.
"Es tat weh, dass ich sie nie besiegen konnte. Egal, wie gut ich spielte, es schien nie genug zu sein", blickte West später auf seine zahlreichen Duelle mit den Celtics von Trainer-Legende Red Auerbach zurück. Dabei war West ein Spieler, der sich seine Skills hart erarbeitet hatte und seine Defizite mit unbändigem Willen und Ehrgeiz wieder wettmachte.
Jerry West: Aus West Virginia zu Gold
Als Teenager schaffte er es im ländlichen West Virginia nicht in die Auswahlteams der Football- oder Baseball-Mannschaften, weswegen er tagelang auf Körbe warf. Bei Wind und Wetter oder auch im Winter mit Handschuhen nahm er Jumper um Jumper. Dabei trainierte er sich selbst seinen schnellen Release an. Das letzte Dribbling wurde immer so hart ausgeführt, dass er sofort werfen konnte. Dies funktionierte anfangs nicht so ganz und so knallte der Ball immer wieder ins Gesicht des Jungen.
Doch die Mühen lohnten sich und aus West wurde ein echter College-Star, der WVU bis ins NCAA-Championship-Finale führte. Zur Tragik passte, dass dieses Spiel verloren ging, obwohl West während des Turniers 32 Zähler im Schnitt auflegte. Im gleichen Jahr gewann West dann doch noch etwas: Mit Oscar Robertson und West gewannen die Amerikaner Gold bei den Olympischen Spielen. Heute spricht man vor der ersten Auflage des "Dream Teams", wenn über die 1960er US-Boys gesprochen wird.
Die NBA wurde natürlich spätestens da auf den weißen Jungen aufmerksam. Die Lakers, die gerade von Minneapolis nach Kalifornien umzogen, schlugen im Draft 1960 an Position zwei zu. Speziell zu dieser Zeit dominierten aber noch, mit Ausnahme von "The Big O", die Center - auch weil keine Drei-Punkte-Linie existierte und Guards vornehmlich ihren Bigs den Ball bringen sollten.
Jerry West: "Er war Jordan, 20 Jahre vor Jordan"
Zwar legte West über 14 Jahre 27,0 Punkte im Schnitt auf, doch niemand hätte in dieser Ära vom Dreier mehr profitiert als die Lakers-Legende. Wie auch später ein Pete Maravich war der Shooting Guard der Entwicklung im Basketball weit voraus. "Jerry West war für mich Michael Jordan, 20 Jahre vor Jordan", adelte Celtics-Forward Tommy Heinsohn den Rivalen.
Dabei stach außer dem Wurf keine Qualität von West besonders ins Auge. Er war weder der Schnellste noch der Stärkste, und auch seine Dribbling-Moves waren weniger spektakulär als die eines Oscar Robertson. Dennoch entschied sich die NBA, seine Silhouette als Logo der Liga zu verwenden. Eine größere Ehre gibt es wohl kaum. Im Zusammenspiel mit Elgin Baylor (Mr. Inside & Mr. Outside) erlangten die Lakers wieder Relevanz und wurden zum Äquivalent der Celtics im Osten.
Jerry West: Das Kryptonit Boston
Nur mit dem Titel wollte es einfach nicht klappen. Auerbachs Celtics hatten allein in vier Entscheidungsspielen der Finals die Nase vorn. Mal war Baylor angeschlagen, mal traf Sam Jones einen wilden Buzzerbeater oder Don Nelson versenkte einen Game Winner mit der Oberkante des Bretts. Die Lakers waren der chronische Verlierer eines ganzen Jahrzehnts.
Wohl niemanden traf diese Wahrnehmung mehr als West, der Niederlagen nicht ertragen und akzeptieren konnte. 1969 schien dann der große Moment endlich gekommen: West schenkte den Celtics in Spiel 1 der Finals 53 Punkte ein und Russell nannte dies "die beste Clutch-Performance", die er je gesehen hatte. Neben Mr. Clutch stand nun auch Wilt Chamberlain im Team, nachdem dieser im Sommer zuvor in die Stadt der Engel geholt worden war.
Zwar verletzte sich West im Laufe der Serie am Oberschenkel, doch L.A. bekam ein siebtes Spiel im heimischen Forum. Es war angerichtet: Lakers-Owner Jack Kent Cooke ließ sogar Luftballons mit dem Druck "Lakers World Champion" unter dem Hallendach aufhängen. "Das machte mich so sauer wie nie zuvor. Es war so respektlos und letztlich die ultimative Blamage für uns", sagte West später. Die Celtics gewannen natürlich auch dieses Spiel. Die Ballons erreichten nie den Hallenboden.
Im Anschluss bekam der untröstliche West den Finals-MVP zugesprochen: In der Geschichte der Liga war und ist dies einmalig. Mr. Clutch hatte 38 Punkte im Schnitt aufgelegt und in Spiel 7 mit einem Muskelfaserriss ohne den verletzten Wilt einen zweistelligen Rückstand im vierten Viertel aufgeholt und ein Triple-Double aufgelegt - es reichte nicht.
"Es war der Horror. Ich wollte in diesem Moment meine Karriere beenden. Es war für mich ein Spiel um Leben und Tod und ich wollte nicht ein weiteres Mal sterben", blickte West später zurück.
Jerry West: Eine Pleite schlimmer als die andere
Er tat es nicht - und wieder war Baylor und ihm das Glück nicht hold. 1970 behielten die Knicks in sieben Spielen die Oberhand, auch dank des heroischen Comebacks von Willis Reed, welches die Massen im Madison Square Garden elektrisierte. Zuvor hatte West in Spiel 3 mit einem Halfcourt-Shot seine Lakers in die Overtime gerettet. Zur Erinnerung: Mit einer Dreierlinie hätte L.A. das Spiel gewonnen, so setzte es eine Pleite nach Verlängerung.
West kämpfte, wie eigentlich seine komplette Karriere, zu diesem Zeitpunkt mit Verletzungen. Die Finals bestritt er mit gleich zwei gebrochenen Fingern. "Für mich war das keine Entschuldigung. Wir haben einfach verloren", so West. So soll der Guard in seiner Karriere mindestens neun Nasenbrüche erlitten haben.
1970 war West endgültig in der Blüte seines Schaffens angekommen. Die Dominanz der Celtics schwächte ohne Russell ein wenig ab, Mr. Clutch legte über 31 Zähler im Schnitt auf und war der beste Spieler der Liga, auch wenn dies nicht mit einem MVP-Award belohnt wurde. Was noch immer fehlte, war der Erfolg mit dem Team, auch wenn ihn seine Mitspieler liebten - anders als es zum Beispiel bei Oscar Robertson der Fall war.
Jerry West: Die Zunge der Schlange
Trotz großer individueller Zahlen stand für West immer der Teamerfolg im Mittelpunkt. Nach einem inoffiziellen Quadruple-Double (Blocks und Steals wurden nicht notiert) mit 44 Punkten, 12 Rebounds, 12 Assists und 10 Blocks (16/17 FG, 12/12 FT) nörgelte West an seiner Leistung: "Ich glaube, defensiv habe ich dem Team nicht geholfen."
Dabei war gerade die Verteidigung eine weitere große Stärke des Aufbauspielers: "Leute vergessen, dass West einer der besten Defensiv-Guards aller Zeiten war", erinnerte sich Auerbach später. Da das All-Defense Team erst 1969 eingeführt wurde, kam der Laker auf lediglich fünf Berufungen (in sechs Jahren).
"Seine Hände waren so schnell wie die Zunge einer Schlange", schwärmte auch Lenny Wilkens. Als 1974 erstmals Steals erhoben wurden, stand West bei 81 Balleroberungen in nur 31 Spielen - mit fast 36 Jahren!
Jerry West: Die Erlösung
Im Herbst seiner Karriere wurde West vom neuen Coach Bill Sharman zum Point Guard umfunktioniert. Für den Erfolg opferte der beste Shooter der Liga sein Scoring und wurde zum Floor General. Mit harter Defense und Fast Breaks gewannen die Lakers 1971/72 33 Spiele in Serie - ein Rekord, der noch immer Bestand hat. L.A. bewunderte Showtime, lange bevor sich Magic ein Lakers-Jersey überstreifte.
Am Ende des Jahres war es dann endlich soweit. Die Lakers überrollten im Finale die Knicks in fünf Spielen. Nach acht verlorenen Finals bekam West endlich seinen Ring. "Es war ein schönes Gefühl, doch es ersetzte niemals die Schmerzen der Niederlagen zuvor", erklärte der Leidgeplagte auch Jahre später. Statt zu feiern, besuchte er lieber einen Boxkampf.
Die NBA-Statistiken von Jerry West
Saisons | Spiele | Minuten | Punkte | FG% | Rebounds | Assists | |
Regular Season | 14 | 932 | 39,2 | 27 | 47,4 | 5,8 | 6,7 |
Playoffs | 14 | 153 | 41,3 | 29,1 | 46,9 | 5,6 | 6,3 |
Jerry West: "The Logo" auf ewig
Zwei Jahre später beendete West seine großartige Karriere. In 14 Jahren erreichte er neunmal die Finals, stand zehnmal im All-NBA-Team, erzielte 25.192 Punkte und revolutionierte auf seine Art und Weise die Guard-Position. Seine 860 verwandelten Freiwürfe in einer Saison sind noch immer unerreicht. Die NBA verewigte ihn auf ihrem Logo, die Lakers bauten ihm vor dem Staples Center eine Statue. Neben Magic Johnson und Kobe Bryant ist er wohl der wichtigste Spieler, der je die Sneakers für "Purple and Gold" geschnürt hat.
Trotz acht verlorener Finals erinnert sich die Basketball-Welt auch heute noch an Mr. Clutch, an einen der gefürchtetsten Spieler der Geschichte. "Ich bin überrascht, wenn der Ball nicht in den Korb geht. Ich denke, ich sollte jeden Wurf versenken", behauptete West. Er hatte die Einstellung eines Champions und führte ein Lakers-Team gleich mehrfach fast ins gelobte Land - wären da nicht die unbesiegbaren Celtics gewesen, gespickt mit fünf Hall-of-Famern.
Es spricht für sich, dass vor allem der Erzrivale von der Ostküste nur in höchsten Tönen von ihm sprach. "Im Rückblick auf meine Karriere bedauere ich nur, dass ich nie die Chance hatte, Jerry West zu coachen", adelte Auerbach. Ein größeres Kompliment gibt es nicht - auch wenn Jerry West das anders sah.