EM

Sie hassten und sie liebten ihn

Von Haruka Gruber
Roman Schirokow (h.) bejubelt mit Konstantin Syrjanow das 2:0 gegen Tschechien
© Imago

Der Star heißt Andrei Arschawin, der Aufsteiger ist Alan Dschagojew - doch das russische Herz schlägt im Dreier-Mittelfeld, das zeigte auch das 1:1 gegen Polen. Roman Schirokow, Konstantin Syrjanow und Igor Denissow stehen bei Zenit unter Vertrag, spielten aber noch nie im Ausland. Drei ungewöhnliche, tragische Geschichten.

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Roman Schirokow (englische Schreibweise: Shirokov)

Alter: 30 Jahre

Verein: Zenit St. Petersburg

Debüt in der Nationalelf: mit 26 Jahren (2008)

Wer ihn bei der EM spielen sieht, mag nicht glauben, wie hirnlos sich ein derart umsichtiger Stratege in den ersten Profi-Jahren verhalten hat. Lange Zeit glich Schirokows Sicht auf die Welt mehr dem eines pubertären Halbstarken: Er soff, er zechte und er zockte.

Er schwänzte während einer Ausleihe von seinem Heimatverein ZSKA Moskau zum FK Moskau das Training, um ein Grillfest seiner Freunde zu besuchen, und meldete sich erst zwei Monate später wieder. Sein dreister Versuch der Vertuschung: Er gab an, dass er wegen eines Beinbruchs gefehlt hätte, und legte sich selbst einen Gips an, um überzeugender zu wirken. Die Lüge flog auf.

Im Versuch, den so begnadeten und zugleich widerspenstigen Nachwuchsspieler zu zähmen, befahl ihn der Armeeklub ZSKA zum Zwangsdienst beim Militär, wo er Gräben auszuheben und Wände in den Klub-Farben Rot/Blau zu übermalen hatte. Trainieren durfte er nur mit der Reserve.

"Berdiyew ist ein gieriger Bastard"

Doch Schirokow blieb renitent - wobei sich das Rebellische nur noch in seinen bis heute umstrittenen Äußerungen zeigt. Die Hochzeit mit Katya, einer früheren Partybekanntschaft, "stoppte meinen freien Fall", sagt Schirokow über den Wandel hin zu einem verlässlichen Profi.

Mit 22 Jahren ließ er den feierwütigen Schirokow hinter sich und begann in der dritten Liga seine Karriere nach der Karriere. Langsam verbreitete sich die Geschichte von der Wiedergeburt eines vergessenen Talents, so dass der russische Topklub Rubin Kasan ihn im Sommer 2006 verpflichtete.

Nach einem halben Jahr musste Schirokow aber den Klub verlassen, weil er nicht irgendjemanden, sondern dem in Kasan fast schon religiös verehrten Trainer Gurban Berdiyew Korruption unterstellte: "Berdiyew ist ein gieriger Bastard, der nur an Geld interessiert ist. Den einzigen Gott, den er anbetet, ist Mr. Franklin von der 100-Dollar-Note."

Schirokows schroffe Replik

Erst mit 26 wurde er heimisch: Nach einer Station bei Khimki und insgesamt acht Vereinen in sechseinhalb Jahren unterschrieb er bei Zenit und verlängerte 2011 den Vertrag sogar bis 2014. Dabei stand auch St. Petersburg davor, an seinem Wesen zu verzweifeln.

Der damalige Zenit- und heutige Nationalmannschafts-Coach Dick Advocaat sah in Schirokow das Besondere und zog ihn ob seiner Vielseitigkeit aus dem mit Stars überquellenden Mittelfeld in die Innenverteidigung zurück.

Seine wohlgemeinte Erklärung: "Eines Tages könnte Schirokow der beste Abwehrspieler des Landes sein." Schirokow schroff: "Abwehrspieler? Ich will kein Abwehrspieler sein, ich will zum besten Mittelfeldspieler Russlands werden."

Weil Schirokow im Abwehrzentrum trotz des Unwillens vorzüglich spielte und Zenit auf dem Weg zum UEFA-Cup-Triumph selbst den FC Bayern dominierte (4:0 im Rückspiel), wurde er nach wenigen Wochen vom russischen Trainer Guus Hiddink in den Kader für die EM 2008 und in die Startelf für das Auftaktspiel gegen Spanien berufen.

Streit mit allem und jedem

Nach dem bitteren 1:4 und dem Verschulden zweiter Gegentore verlor er allerdings erst seinen Platz, dann an Glaubwürdigkeit. Seine Meinung über Spanien, die er vor dem Anpfiff kundtat: "Die Spanier sind Nobodys. Die Spanier sind ein Nichts. Sie besitzen immer den Ball, aber kreieren keine Chancen."

Dass jenes Erlebnis ihn nicht dazu bewegte, sich zu ändern und sich zukünftig vorsichtiger zu geben, sagt wohl am meisten über ihn aus. In den folgenden Jahren stritt er sich mit allem und jedem. Mit den zu Gewalt neigenden Zenit-Fans ("Ich spiele nicht für Abschaum wie Euch!"), mit den rivalisierenden Spartak-Moskau-Fans ("Schweine"), mit den slowakischen Nationalspielern ("Eine Bande von Bauern"), mit dem vermeintlich unfähigen Zenit-Platzwart ("Er sollte auf dem Rasen Schafe hüten").

Selbst seine Ehefrau wird nicht verschont von seiner gnadenlosen Rhetorik, die aus Schirokow den beliebtesten und zugleich meist gehassten Fußballer Russlands machte.

Auf die Frage, ob er mit der Gattin über Fußball sprechen würde, antwortet er: "Warum sollte ich? Sie versteht nichts über meinen Job, daher berede ich alles nur mit meinem Berater." Kann sie zumindest eine Stütze in Zeiten der Krise sein? "Ich weiß selbst am besten, ob ich einen Fehler begangen habe oder nicht. Und ich selbst weiß am besten, wie ich sie dann ausmerze."

Wechsel nach Westeuropa?

Diese Mischung aus Geradlinigkeit und Verschrobenheit ist vielleicht sein wesentliches Merkmal, welches sich auch in den bisherigen EM-Auftritten zeigt. Statt sich an die Spielweise anderer zu orientieren, bewahrte sich Schirokow etwas Einzigartiges.

Er besitzt die Statur eines Innenverteidigers, das Passgefühl eines spielenden Sechsers, die aufreizende Lässigkeit eines Zehners und den Instinkt eines Stürmers. In den letzten sieben Länderspielern erzielte er fünf Tore, mit der gleichen Anzahl an Treffern war er in der Champions-League-Saison der gefährlichste Mittelfeldspieler.

Nach einem starken und einem ordentlichen Auftritt in den ersten beiden EM-Spielen kennt ihn Europa. "Ich würde sehr gerne in eine der Topligen wechseln. England ist meine Priorität, dann kommen Spanien und Italien", sagt Schirokow. Dass er fünf Tage nach dem Finale 31 Jahre alt wird, interessiert ihn nicht. Warum auch.

Roman Schirokow: Der beliebteste und meistgehasste Russe

Konstantin Syrjanow: Der tragische Sommertag 2002

Igor Denissow: Schachspieler und Wüterich

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