"Regenmeister". Noch heute existiert dieses Wort im englischen Sprachraum. Jackie Stewart bekam es verpasst, doch erstmals beschrieben die Gazetten im Vereinigten Königreich mit diesem Wort einen Deutschen: Rudolf Caracciola.
Der am 30. Januar 1901 in Remagen geborene "Caratsch" ist heute nur noch Insidern ein Begriff, obwohl ihm der legendäre Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer die größtmöglichen Fähigkeiten bescheinigte. "Ich bin mir sicher, dass Rudolf Caracciola von all den großen Fahrern, die ich kannte, Rosemeyer, Lang, Nuvolari, Moss oder Fangio, der größte war", schrieb Neubauer, der in den 1930er und 1950er Jahren den Mythos der Silberpfeile begründete.
Der frühere k.u.k.-Offizier mit dem stets auf Nabelhöhe des wohlgenährten Bauchs sitzenden Gürtel führte seinen Rennstall mit eisernem Regime zum Erfolg. Die Mercedes-Mechaniker waren gedrillt, schneller als die Konkurrenz. Davon profitierte später Juan-Manuel Fangio, der mit dem Silberpfeil die Formel 1 dominierte. Doch während der Argentinier bis heute in sämtlichen Historien des Motorsports seinen Platz findet, verblasste die Strahlkraft des deutschen Ausnahmetalents.
"Im wahnwitzigen 75-km-Tempo durch die steilen Kurven"
Caracciola hatte schon im Alter von 15 Jahren mit einer Sondererlaubnis den Führerschein gemacht. Statt wie vom Vater gewünscht zu studieren, ging er nach dessen Tod zum Aachener Automobilhersteller Fafnir. Er siegte beim Motorradrennen "Rund um Köln" 1922 und startete im selben Jahr auf der Automobil-Versuchs- und Übungsstrecke (Avus) in Berlin im Auto.
"Ein halsbrecherischer Anblick, die Wagen im wahnwitzigen 75-km-Tempo durch die steilen Kurven jagen zu sehen. Ich drückte auf das Gaspedal, was die Wadenmuskeln hergaben", erinnerte er sich Jahre später: "Nach der sechsten Runde brüllte mir mein Beifahrer zu: 'Langsamer, wir haben alle eingeholt!' Als wir am Ziel ankamen, gratulierten mir die Leute. Einem Journalisten musste ich meinen Namen buchstabieren."
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Sein vierter Platz im Gesamtklassement bedeutete den Klassensieg. Er brachte ihm Aufmerksamkeit. Zwar floh er aus Aachen nach Dresden, nachdem er einen belgischen Soldaten in einem Nachtclub geschlagen hatte, doch er bekam ein verlockendes Angebot aus Stuttgart. Hatte er bisher in einem möblierten Zimmer gewohnt und sich mit dem Verkauf der Fafnir-Kleinwagen irgendwie über Wasser gehalten, sah Daimler nun sein Talent. Caracciola bekam in der Dresdener Daimler-Niederlassung eine Stelle als "Verkaufsbeamter" angeboten. Für spärliche 100 Mark Grundgehalt.
Der Clou: Im Nebenjob bewegte Caracciola die Werkswagen bei Bergrennen und Zuverlässigkeitsfahrten, vier von acht Rennen gewann er. Die Erfolge des 25-Jährigen, von den Fahrerkollegen als "Milchbubi" betitelten Rheinländers, bewegten seinen Arbeitgeber dazu, ihn beim ersten Großen Preis von Deutschland an den Start gehen zu lassen. Glücklicherweise gab es einen Terminkonflikt. Das Werksteam weilte bei einem prestigeträchtigeren Rennen in Spanien, Caracciola reiste als Privatier an.
Blamage beim allerersten Deutschland-GP
Die große Chance war endlich gekommen. Doch sie verpuffte beinahe beim Start. Caracciola blamierte sich.
Sämtliche Autos rasen am 11. Juli 1926 in Berlin an der Startnummer 14 vorbei. Er hat die Kupplung zu schnell kommen lassen, den Motor abgewürgt. Beifahrer und Mechaniker Eugen Salzer springt aus dem Cockpit und versucht den Tag zu retten. Er schiebt das Ungetüm an, bis der 2-Liter-8-Zylinder wieder läuft. Zwei Minuten sind verloren.
Es folgt die erste Sternstunde Caracciolas. Er gibt Vollgas. Rücksichtslos. Nach zwei von zwanzig Runden über je 19,57 Kilometer liegt das Gespann schon an dritter Stelle. Die buckelige Piste, die zwei Tage zuvor bereits Luigi Platés Beifahrer Carlo Cattaneo das Leben gekostet hatte, scheint dem Jungspund keinerlei Probleme zu bereiten.
Geburt des Regenmeisters im Avus-Platzregen
"Weiter! Tempo! Tempo!", ruft Caracciola seinem Beifahrer zu, als ein heftiger Platzregen einsetzt. Während Salzer sich mühevoll im Cockpit festklammert, übernehmen sie die Führung.
Nur die Technik spielt einen Streich. Der Motor stottert. Caracciola legt einen Boxenstopp ein.
Laut Reglement muss er selbst die Reparaturen vornehmen. Zündkerze für Zündkerze baut er aus dem glühenden Achtzylinder aus. Erst als er nach über zwei Minuten Standzeit die letzte in den Händen hält, hat er den Defekt gefunden. Sie ist vollkommen verrußt.
Die Standzeit macht Caracciola nichts aus. Er fährt einfach noch schneller. Mit 154,8 km/h stellt er einen neuen Rundenrekord auf und kommt als Erster ins Ziel. Der "Regenmeister" ist geboren.
Hunderte umschwärmen das Auto, ziehen die beiden Insassen heraus. Siegerkränze werden umgehängt, die Nationalhymne erklingt. 17.000 Reichsmark und die Goldtrophäe verblassen aber neben der Botschaft, die ihn an der Siegertribüne erwartet: Seine Angebetete, Charlotte Liemann gibt ihm das Ja-Wort. Dass Mercedes den zweiten Platz verliert, weil Adolf Rosenberger in der Nordkurve bei einem Überholmanöver mit seinem Auto in Rundenzähltafel und Zeitnehmerhäuschen brettert, wobei zwei Studenten und der Zeitnehmer sterben, geht im Jubel über den prestigeträchtigen Sieg der deutschen Industrie unter.
Autorennen als Lebensinhalt
Rudolf Otto Wilhelm Caracciola, dessen ursprünglich aus Neapel stammende Familie seit dem 30-jährigen Krieg im Rheinland beheimatet war, ist fortan in aller Munde. Er eröffnet ein Autohaus am Kurfürstendamm, hält sich aber aus dem gesellschaftlichen Trubel heraus. Für ihn zählen nur Autorennen.
So ein Jahr später, als er zur Eröffnung einer brandneuen Strecke in die Eifel reist. 3000 Männer hatten zwei Jahre lang gearbeitet, um die "Erste Deutsche Gebirgs-Renn- und Prüfungsstraße" aus dem Boden zu stampfen. "Sowas hatten wir noch nicht erlebt", erinnerte sich Caracciola später an die heute als Nürburgring-Nordschleife bekannte Strecke: "Bei den spitzen, scharfen Ecken weiß jeder Fahrer, dass er langsam fahren muss, sonst wird er ohne Gnade aus der Bahn geschleudert."
Nicht so Caracciola. Erstmals steuert er den neuen "Typ S" von Mercedes in der deutschen Rennsportfarbe weiß. Schon bei den Testfahrten hatte er den fast fünf Meter langen Giganten mit Sechszylinder-Motor, 6,8 Litern Hubraum, 225 Pferdestärken und 2,3 Tonnen Gewicht kennengelernt. "Freilich, leicht zu fahren war diese deutsche Eiche von einem Auto nicht", gab er selbst zu.
Am 19. Juni 1927 säumen über 150.000 Zuschauer den Kurs, als um kurz nach 10 Uhr der Start zum Eröffnungsrennen erfolgt. Caracciola führt das Feld vom Start weg an, drei Stunden später erhält er den "Goldenen Nürburg-Ring" als Sieger aller Klassen.
Unerreichter Rekord beim Deutschland-GP
Die Strecke wird sein Wohnzimmer. Er gewinnt den Deutschland-GP nach dem Erfolg in Jahr 1926 auch noch 1928, 1931, 1932, 1937 und 1939. Sechs Siege sind bis heute die unerreichte Bestmarke. Nebenbei kam "Caratsch" auf die Idee, sich mit den inneren Rädern im Graben neben der Karussell-Kurve einzuhaken. Der Trick verschaffte ihm eine höhere Kurvengeschwindigkeit. Kurz darauf wurde der Graben entfernt und Betonplatten verlegt. Die legendäre Steilkurve war entstanden.
Abseits der Rundstrecke gewinnt er 1930 seine erste von drei Europameisterschaften bei den Bergrennen. Doch der sportliche Erfolg wird getrübt. Das Autohaus ist insolvent, Caracciola, mittlerweile im Schweizer Ort Ruvigliana bei Lugano wohnhaft, erhält im Dezember ein Einschreiben: Mercedes kündigt seinen Vertrag als Werksfahrer.
Als Privatier bei der Mille Miglia
Aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen sich die Stuttgarter aus dem Motorsport zurück. Den Tränen nahe droht Carraciola bei einem Werksbesuch mit einem Wechsel zu Alfa Romeo und deren Rennleiter Enzo Ferrari. Bei Neubauer klingeln die Alarmglocken. Er schlägt Generaldirektor Wilhelm Kissel einen Kompromiss vor: "Caratsch" kauft für die nächste Saison einen leichteren Rennwagen vom Typ SSKL, das Werk liefert Ersatzteile, Benzin, Reifen und stellt einen Mechaniker sowie den Rennleiter ab. Alle Seiten sind einverstanden.
Nur Caracciolas Dackel Moritz macht Neubauer Sorgen. Immer wieder organisiert er persönlich passendes Futter für den Vierbeiner und lässt Tierärzte zum Rennen bringen. "Nichts als Ärger macht der Moritz", notiert der Rennleiter im Frühjahr 1931 in sein Tagebuch: "Aber schließlich muss ich den Rudi bei Stimmung halten." Geht es seinem Dackel schlecht, fährt Caracciola langsamer.
Doch als im April mit der Mille Miglia das härteste Rennen der Welt ansteht, sind beide in Topform. Caracciola startet als einziger Deutscher ohne ein einziges Training gegen Ferraris Flotte aus einem Dutzend Alfa Romeos mit fast 100 Mechanikern. Überall an der 1600 Kilometer langen Strecke haben die Italiener Hilfskräfte verteilt. Dagegen das Vier-Personen-Team um Caracciola, Neubauer, Ehefrau und Zeitnehmerin Charly, den Mechaniker und Dackel Moritz.
Das Undenkbare gelingt: Nach 16:10:10 Stunden kommt Caracciola mit neuem Geschwindigkeitsrekord als Erster ins Ziel. Mehr als zehn Minuten beträgt sein Vorsprung auf den Zweitplatzierten, Guiseppe Campari. "Caratsch" ist nicht nur der erste Deutsche, der das Rennen gewinnt, er ist der erste Ausländer überhaupt, dem das Kunststück gelingt. Neun große Rennen fährt das Privatteam im Jahr 1931, alle enden siegreich. 180.000 Reichsmark Prämien und der Aufstieg Mercedes-Benz' zur besten Marke im Motorsport sind der stolze Lohn.
Erfolg führt zur Existenznot
Doch die Anstrengungen führen in die Existenznot. Die ständig wechselnden Regierungen der Weimarer Republik bekommen aufgrund der hohen Reparationszahlungen die Wirtschaft nicht in den Griff. Mercedes-Benz friert sämtliche Ausgaben ein, um das Überleben zu sichern.
"Soll ich etwa Hunger leiden, nur weil es in Deutschland keine einzige Firma mehr gibt, die sich noch einen Rennstall leisten kann?", fragt Caracciola seinen Förderer Neubauer. Er macht seine Drohung war, heuert bei Ferrari in Mailand an, gewinnt Nürburgring-, Avus-, Monza- und weitere Rennen und krönt sich zum dritten Mal in Folge zum Berg-Europameister.
Als Alfa Romeo selbst wegen Finanznöten nach der Saison den Stecker zieht, reist Caracciola auf eigene Faust zum Monaco-Grand-Prix 1933. Er hat er mit seinem französischen Kollegen Louis Chiron ein Privatteam gegründet.
Horror in Monaco
Erstmals erfährt Caracciola am eigenen Leib, wie gefährlich der Motorsport ohne Sicherheitsgurte, ABS, Airbags und andere Hilfsmittel ist. Am 21. April versagen im Training bei 130 km/h vor der Tabac-Kurve plötzlich drei der vier Bremsen. Erst blockiert ein Vorderrad, dann schleudert der gekaufte Alfa in die Absperrung, immerhin kann er den Flug in den Hafen vermeiden.
Caracciola steigt zwar selbst aus dem demolierten Auto, kollabiert dann aber. Chiron fängt ihn auf. Er war hinter ihm hergefahren, um die Strecke kennenzulernen. Bewusstlos wird der Deutsche mit gebrochenem Bein ins Krankenhaus gebracht. Das Hüftgelenk ist zertrümmert und zersplittert. Spezialisten nehmen sich in Bologna seiner Verletzung an. Über sechs Monate liegt er eingegipst im Bett. Erst im Dezember kehrt er auf Krücken nach Lugano zurück. Und erhält von Neubauer eine Einladung nach Stuttgart.