In keinem Fall sollte mit Blick auf diese Receiver-Klasse der Eindruck entstehen, dass es eine schwache Klasse ist, denn das ist sie nicht. Aber es dauert etwas, bis man mit ihr warm wird und bis man die hohe Qualität für spezifische Receiver-Rollen in dieser Klasse erkennt.
Denn: Diese Klasse hat nicht die dominante Spitze wie vergangene Jahre. Letztes Jahr gab es Ja'Marr Chase, DeVonta Smith und Jaylen Waddle. 2020 waren es - Pre-Draft gesprochen - Jerry Jeudy und CeeDee Lamb.
Für mich gibt es dieses Jahr ein Top-Tier bestehend aus sechs Receivern, die alle Erstrunden-Grades bekommen haben und die - je nachdem, welche Rolle man genau sucht - auch nahezu alle an Platz 1 setzen könnte, ohne dass ich großartig diskutieren würde.
Das ist Jahr für Jahr der Charme mit den Wide Receivern. In diesem Jahr ragt dieser Teil der Gesamtgleichung umso mehr heraus, weil es kein übergreifendes Elite-Prospect gibt.
Aber eben sehr viele sehr gute.
Watson, Tolbert, Bell: Wer fehlt in der Top-12?
23 Wide Receiver habe ich bis dato für die diesjährige Draft-Klasse analysiert, und bevor wir in die weiteren Rankings einsteigen, ist ein Hinweis gerade bei dieser Position erwähnenswert: Wide Receiver insbesondere sind in einem Ranking schwer abzubilden. Zu spezifisch sind die Rollen, die einzelne Receiver ausfüllen. Hunter Renfrow und DK Metcalf spielen technisch beide Receiver, sind innerhalb ihrer Offenses aber in sehr unterschiedlichen Rollen eingesetzt.
Verschiedene Offenses haben bisweilen drastisch unterschiedliche Anforderungen an ihre Receiver, was es gerade bei dieser Position schwer macht, ein Ranking im Vakuum zu erstellen. Nichtsdestotrotz kann es als Guideline dienen, um einen allgemeinen Überblick über die Klasse zu bekommen. Wie viele gute X-Receiver gibt es? Welche Role-Player lohnen sich früh im Draft? Wo ist viel Potenzial?
"Potenzial" ist in jedem Fall der direkte Übergang zu einem der in meinen Augen kontroversesten Receiver in dieser Klasse: North Dakotas Christian Watson. Nach einer absolut spektakulären Combine sind seine Draft-Aktien in die Höhe geschossen - ich habe ihn auch etwas nach oben korrigiert. Für mich bedeutete das allerdings Richtung Runde 3; zahlreich Draft-Experten und Mock-Drafts sehen Watson inzwischen in Runde 1.
Und natürlich sehe ich das Potenzial in Watson, man müsste schon ganz feste Scheuklappen aufsetzen, um das bei dieser Größe und diesem Speed nicht zu bemerken. Aber ich habe ernsthafte Fragezeichen dahingehend, wie viel Physis und Power er in seinem Frame und in seinem Spiel hat. Er verliert häufig am Catch Point, er verliert häufig physisch in der Route und auch nach dem Catch durch Kontakt.
Da sehe ich zumindest vorerst erhebliche Probleme in der NFL auf ihn zukommen, und in dem Fall bräuchte er eine spezifische Rolle, um den Sprung von North Dakota State in die NFL zu schaffen. Er hat die Agilität, um auch Inside und bei Jet Sweeps zum Einsatz zu kommen, das spricht für ihn.
Ähnliche Fragezeichen bringt Jalen Tolbert mit. Ein Downfield-Speedster, der bei South Alabama regelmäßig für Big Plays gesorgt hat; 16 Deep Catches verzeichnete er letztes Jahr. Aber auch Tolbert, der 23 in seiner Rookie-Saison sein wird, kann physisch aus der Route gebracht und am Catch Point geschlagen werden. Receiver mit diesen Problemen haben es in meiner Erfahrung schlicht sehr schwer, in der NFL wirklich als guter bis sehr guter Starting-Receiver Fuß zu fassen, deshalb bin ich bei Tolbert und Watson niedriger als der Konsens, die auf vergleichsweise niedrigem Level hier bereits Schwierigkeiten hatten.
Purdues David Bell hatte ich nie sonderlich hoch in meinen Rankings, und wer ihn höher hatte, dürfte nach einem in puncto Testing desolaten Pre-Draft-Prozess noch nach unten korrigieren. Bell hat eine gute Physis und Balance, er schirmt den Ball am Catch Point gut ab und gewinnt da auch viel. Aber er ist athletisch so limitiert, dass er nicht viel mehr als ein Kurzpass-Possession-Receiver auf dem nächsten Level sein kann. Und seine Dominanz am Catch Point wird sich nicht ansatzweise 1:1 auf die NFL übertragen.
Wie analysiert und bewertet man Wide Receiver?
Wide Receiver zu analysieren erfordert neben den technischen und physischen Details auch eine Berücksichtigung der Offense: Was war die Rolle des Receivers? Welche der gezeigten Eigenschaften übertragen sich auf die NFL? Und wie, beziehungsweise in welcher Rolle?
Noch schwieriger: Was konnte der Receiver vielleicht nicht zeigen, obwohl er dazu in der Lage ist? Justin Jefferson war vor zwei Jahren das Paradebeispiel: Spielte bei LSU quasi nur im Slot, wie viel mehr er kann, hat er seitdem bei den Vikings gezeigt.
Um einen generellen Eindruck für die gröbsten Unterscheidungen der Position (Slot-, Z-, X-Receiver) zu bekommen, wäre der Artikel, den ich vor drei Jahren zu genau dieser Frage geschrieben habe, zu empfehlen.
Einige Kernkompetenzen für Wide-Receiver-Play - auch hier gibt es im verlinkten Artikel noch mehr Details zu den jeweiligen Punkten - sind:
- Route-Running
- Explosivität
- Speed
- Agilität
- Release
- Hände
- Yards nach dem Catch
- Contested Catches
- Physis und Blocking
NFL Draft 2022: Das Wide Receiver Ranking
12. John Metchie III, Alabama
Receiver-Typ: Slot Receiver/Nummer 3
Stärken:
- Sehr smooth in seinen Bewegungen. Kleine, effektive Körpertäuschungen in der Route, spielt hier auch mit seinem Tempo.
- Metchie hat einen klaren Plan als Route-Runner. Richtungswechsel erfolgen auf hohem Tempo, er arbeitet, um offen zu sein und findet konstant Lücken, wodurch er dem Quarterback Anspielfenster bietet.
- Technisch insgesamt einfach sehr weit. Sehr verlässliches Target Underneath, kreiert hier Separation und findet Räume. Ein Techniker mit offensichtlichem Spielverständnis.
Schwächen:
- Das Ceiling ist schlicht limitiert. Metchie ist bereits so weit, dass ich seinen Floor in einem guten Allrounder als Nummer-3-Receiver sehe - sein Ceiling allerdings in einem guten Allrounder als High-End-Nummer-3. Metchie kann - sofern er fit ist - in einer Offense sofort starten, aber er ist niemand, der für Spektaktel in einer Offense sorgt.
- Metchie hat keine dominanten physischen Traits. Er ist nicht übermäßig explosiv, schnell, oder physisch stark. Vertikal beispielsweise muss er auch mit dem Release gewinnen, ansonsten hat er echte Probleme, hinter die Defense zu kommen.
- Catch-Radius ist limitiert und ich könnte mir vorstellen, dass er in der NFL Outside Probleme mit physischen Cornerbacks mit langen Armen bekommen wird. Vermutlich eher im Slot auf dem nächsten Level zuhause.
- Was die Fitness angeht: Er hat sich im College-Playoff-Halbfinale das Kreuzband gerissen. Reha-Zeit sowie den entsprechenden Impact auf seine Rookie-Saison muss man also mit einkalkulieren
SPOX-Empfehlung: 3. Runde
11. Justyn Ross, Clemson
Receiver-Typ: Big Slot/Possession Receiver
Stärken:
- Sehr groß und hat den entsprechenden Catch-Radius. Ross könnte auch als Big Slot auf dem nächsten Level glänzen, generell als Possession Receiver kann ich ihn mir sehr gut vorstellen.
- Bewegt sich für seine Größe wirklich gut. Hat eine gewisse Quickness in seinen Bewegungen in der Route, zeigt kleine Körpertäuschungen und überraschend flotte Richtungswechsel. Kreiert so auch im Kurzpassspiel Separation, weshalb ich ihn mir gut Inside vorstellen kann. Er ist groß, er bewegt sich gut und er kommt gut vom Snap weg.
- Hat auch nach dem Catch Schaden angerichtet. Clemson setzte ihn auch bei Jet Sweeps und dergleichen ein.
- Agilität und Körperkontrolle in Kombination mit gutem Ball-Tracking führen zu einigen Zirkus-Catches auf seinem Tape
- Hatte bereits 2018 1.000 Yards und neun Touchdowns, 2019 dann nochmal über 850 Yards und acht Touchdowns.
Schwächen:
- Ross ist kein Speedster, immer wieder fiel bei ihm auf, dass der Corner bei vertikalen Outside-Routes an ihm dran klebt.
- Athletisch insgesamt überschaubar, hat hier keine Trumpfkarte, abgesehen von seinem Catch-Radius. Hier haben die Pre-Draft-Tests den Eindruck auf Tape leider bestätigt, und mehr.
- Spielt am Catch Point mit weniger Physis als erhofft. Wenn er den Ball gut abschirmen kann, funktioniert es für ihn, aber er könnte den Ball noch deutlich aggressiver attackieren und Verteidiger verdrängen.
- Die Medizinchecks werden ein Faktor bei ihm sein. Ross brauchte einen Eingriff an der Wirbelsäule, was ihn die gesamte 2020er Saison gekostet und zwischenzeitlich sogar seine Karriere bedroht hat.
SPOX-Empfehlung: 2.-3. Runde