Die Chancenlosen aus Neukölln

Von Maximilian Schmeckel
108 Gegentreffer kassierte Tasmania Berlin in der Saison 1965/66
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Die Gegner waren schneller, technisch besser, fitter und fortschrittlicher. Während bei Köln etwa schon Gegnerbeobachtung und Taktikschulung betrieben wurde, kam es bei Berlin schon mal vor, dass die Spieler gegen Kaliber wie Jupp Heynckes oder Gerd Müller nichts als taktische Anweisung mitbekamen als das übliche "Haltet dieses Mal besser dagegen, Männer". Die Abwehr war zu langsam, schwerfällig, es wirkte als hätte man einer Altherrenmannschaft erlaubt wegen früherer Verdienste ein Jahr beim neuen Vorzeigeprodukt Bundesliga mitzuwirken.

Und auch der Zuschauerzuspruch sank mit den vielen Pleiten rapide, so kamen im Januar 1966 gegen Borussia Mönchengladbach lediglich 827 zahlende Zuschauer, auch das ist trauriger Rekord. Der Niedergang war beispiellos, es war ein freier Fall eines Teams, das niemals in die erste Liga gehört hätte. "Für den Verein wäre es das beste, wenn wir die Lizenz zurückgäben", gestand Tasmania-Schatzmeister Heinz Hermann im Januar 66.

"Ein, zwei Portweinchen"

Bereits im November 1965 wurde Trainer Linken entlassen, es kam Heinz Ludwig Schmidt, ein Diplom-Sportlehrer, der vormittags schwererziehbare Kinder unterrichtete und nun auch den schwer Disziplin beizubringenden Tasmania-Akteuren anderes Benehmen eintrichtern sollte. Schließlich ergaben sich die Spieler ihrem Schicksal sehr früh in der Saison und passten ihren Lebensstil entsprechend an.

"In der Folgezeit haben wir auch nicht mehr so gelebt, wie es der Profisport erfordert, sondern nach dem Motto: 'Trinken wir noch einen, dann ist das Ganze besser zu ertragen'", erinnert sich Torwart Heinz Rohloff im 11-Freunde-Magazin. "Vor dem Training genehmigten wir uns zwei Portweinchen, die Szymaniak aus Italien mitgebracht hatte, und aßen zwei Curry-Buletten. Nach dem Training das gleiche Programm." Neben Partygelagen reagierten die Spieler auf die Niederlagen und Pleiten mit Humor. "Nur drei heute", hieß es dann oder: "Das war eine Steigerung um über 100 Prozent."

Trauerkranz zum Dreistelligen

Rohloff war es auch, der Hauptprotagonist einer bezeichnenden Szene war. Nach dem 100. Gegentreffer gegen die Frankfurter Eintracht durch Jürgen Grabowski legten die Tasmania-Fans hinter seinem Tor einen Trauerkranz mit einer goldenen 100 ab. Der Humor blieb den letzten Gebliebenen bis zum Schluss. Am Montag darauf erschien das Foto von Ruhloff und dem Kranz bundesweit. "Das traurige Jubiläum", stand darunter.

"Tasmania sollte nicht zu lange warten, sonst können auch wir nicht mehr helfen", drohte DFB-Generalsekretär Hans Paßlack. Tasmania und Michel ersparten sich den vorzeitigen Abgang jedoch und hielten bis zum Schluss durch, wenn auch insolvent bis zum letzten Pfennig. Altlasten räumten die Konten leer und Michel reagierte mit dem Plan, die Spieler-Gehälter zu halbieren. Die Spieler schalteten die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft ein und bekamen weiter ihr Geld.

Die Neugegründeten erleben Fußball in Reinform

Nach dem blamablen Abstieg ging es wieder in die Regionalliga. Nach weiteren harten Jahren wurde der Verein 1973 mit fast einer Million Euro Schulden aufgelöst, das Ende eines bloßgestellten und traditionsreichen Klubs. Eltern von Jugendspielern des bankrotten Vereins gründeten SV Tasmania 73 Neukölln, der offiziell kein Rechtsnachfolger ist, allgemeinhin aber als Nachfolger des Sportclubs angesehen wird.

"Wir waren ein gutes Team und sind es bis heute. Wir treffen uns jedes Jahr und erinnern uns zusammen an die gemeinsame Zeit bei der Tasmania", erzählt Becker. Während die vielleicht tragischsten Figuren der Bundesliga-Geschichte sich bei einem Pils an 0:9-Niederlagen gegen den MSV Duisburg oder das knappe 1:2 gegen den FC Bayern um Beckenbauer, Müller und Co. erinnern, wird an der Oderstraße 5a Fußball gespielt. Die Akteure heißen Arafa El-Moghrabi oder Salvatore Rogoli.

"Ist doch nicht so schlimm"

"Ist doch nicht so schlimm, schließlich treiben wir die Liga vor uns her", scherzte Kabinenclown Eckhardt Peschke in den Sechzigern. Heute, im Jahr 2015, ist es andersherum, da werden die Neuköllner gejagt, sie sind ganz oben. Vom Aufstieg redet freilich keiner. "Sonst fallen wir wieder so auf die Schnauze wie die damals", scherzt ein Fan in einem YouTube-Video. Es zählt weder Vergangenheit noch Zukunft, nur das nächste Spiel, wie auch die altmodische Webseite klar macht: "Unterstützt unsere Mannschaft am 06. September", steht dort auf der Startseite.

Dann geht es im Pokal gegen den Friedenauer TSC. Und es wird wieder der Geruch von Wurst über das Sportgelände ziehen und Berliner Fußball in seiner Reinform zelebriert werden. Mit dem Ziel und der Chance zu gewinnen. Ganz anders als vor einem halben Jahrhundert.

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