Seit 1901 blickt die Welt jedes Jahr im Dezember nach Norwegen. Immer am 10.12., dem Todestag von Alfred Nobel, wird in Oslo der Friedensnobelpreis vergeben. Willy Brandt, Mutter Teresa, Michail Gorbatschow, Nelson Mandela, Barak Obama, sogar die gesamte Europäische Union wurde ausgezeichnet, weil sie für den Frieden im jeweils "verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben."
In Norwegen kann man noch ganz andere Preise abstauben. Beispielsweise den Architekturpreis "Betongtavlen", bei dem es sich - wie der Name schon verrät - um Beton handelt. Und zwar um denjenigen, der "umweltgerecht, ästhetisch und technisch in herausragender Weise verwendet wurde."
Neben Brücken, Kirchen, einem U-Bahn-Hof und einer Bohrinsel gewann auch eine Sportanlage den Titel: der Lysgardsbakken, das Skisprungschanzen-Zentrum der Olympischen Winterspiele 1994 in Lillehammer.
Geniale Stimmung in Lillehammer
Es gibt kaum einen Ort auf der Welt, der besser geeignet ist für eine sportliche Großveranstaltung auf Eis und Schnee als Norwegen. Die Spiele in Lillehammer gelten als die besten Winterspiele aller Zeiten, was die Begeisterung der Gastgeber angeht.
"Ich war bei sechs Spielen dabei. Alle Austragungsorte hatten ihren Reiz, aber Lillehammer war einfach einzigartig. Der Hammer!", sagte etwa der dreimalige Rodel-Olympiasieger Georg Hackl.
Auf dem Lysgardbakken waren zunächst die Nordischen Kombinierer an der Reihe. Der Norweger Fred Borre Lundberg legte den Grundstein für seinen späteren Olympiasieg in der Loipe.
Am 20. Februar stand das Springen von der Großschanze auf dem Programm. Und es kam zum erwarteten Showdown zwischen Jens Weißflog und Lokalmatador Espen Bredesen, der Deutschlands bestem Springer sechs Wochen zuvor den Sieg bei der Vierschanzentournee entrissen hatte. Diesmal drehte Weißflog den Spieß um - mit einem 137-Meter-Satz im zweiten Durchgang.
Trotz Überflieger Weißflog galt das deutsche Team beim Mannschaftswettbewerb zwei Tage später nicht zu den Goldfavoriten. Dieter Thoma, Christof Duffner und Hans-Jörg Jäckle waren in ihren Leistungen zu schwankend. Im Einzelbewerb landeten alle jenseits der Top 10.
Generell gab es keine Nation, die, wie in den letzten Jahren die Österreicher, die ein Abonnement auf erste Plätze hatte. Deutschland hatte Weißflog, Norwegen Bredesen, Japan Noriaki Kasai, Österreich Andreas Goldberger, Finnland Janne Ahonen und die Tschechen Jaroslav Sakala.
Am ehesten traute man den Norwegern und Japanern zu, acht vernünftige Sprünge zu landen. Norwegen hatte ein Jahr zuvor souverän WM-Gold geholt; Deutschland war übrigens fürchterlich abgestürzt und hatte als Elfter das schlechteste Teamergebnis aller Zeiten bei Weltmeisterschaften eingefahren.
Schwierige Windverhältnisse
Das ausgeglichenste Team stellte aber Nippon. Kasai gewann zwei Weltcups in jeder Saison, Jin'ya Nishikata wurde im Einzelspringen von der Großschanze Achter, Takanobu Okabe war als begnadeter Skiflieger gemacht für den riesigen Lysgardsbakken und Masahiko Harada war nicht als Frohnatur im Springerlager bekannt, sondern hatte auch schon einen WM-Einzeltitel vorzuweisen.
Bei Kaiserwetter und klirrender Kälte erlebten die Zuschauer einen eher müden ersten Durchgang. Die Windfahnen hingen schlaff herunter und wenn es mal ein Lüftchen gab, dann von hinten.
"Es war schon verdammt zäh. Die Jury ließ uns bei Rückenwind von sehr weit unten los", erinnert sich Dieter Thoma, der mit 128 Metern die drittbeste Weite im ersten Durchgang stand. Besser waren nur Kasai (129,5 Meter) und Jens Weißflog.
Deutschlands Nummer eins setzte als letzter Springer bei 131 Metern auf und brachte sein Team verdammt nah ran an die Japaner. Weißflog nahm Nippons letztem Springer Harada neun Meter ab.
Norwegen und Finnland waren schon nach der Hälfte des Wettbewerbs abgeschlagen, lediglich Österreich schnupperte noch an der Goldmedaille.
Dufner stürzt ab
Die Jury hatte ein Einsehen und ging zwei Luken nach oben. Am besten kamen damit die Japaner zurecht, allen voran Nishikata mit seinen 133 Metern. Dann kam Dufner und sein jämmerlichere Sprung auf 108 Meter. Deutschland war nach sechs Sprüngen praktisch raus aus dem Rennen um Gold.
Als dann Kasai Dieter Thoma noch einmal drei Meter abnahm, war die Geschichte endgültig durch. 55,2 Punkte betrug der Rückstand des DSV-Quartetts auf die Japaner vor dem letzten Sprung.
Jens Weißflog weiß, dass es für Deutschland "nur" noch um Silber geht und reicht Japans letztem Springer Masahiko Harada die Hand, um Japan zur Goldmedaille zu gratulieren, bevor er sich bei relativ günstigen Windverhältnissen vom Balken stößt.
"Ich habe ihm die Hand geschüttelt, weil er ja praktisch Gold sicher hatte", sagte Weißflog später. Harada nimmt die Glückwünsche an, was sollte angesichts des Wahnsinns-Vorsprungs auch noch passieren?
Weißflog trifft den Schanzentisch perfekt und setzt bei 135,5 Metern im norwegischen Schnee auf. - der weiteste Sprung des Wettbewerbs. Eine Telemark-Landung war in dieser Weitenregion nicht möglich, doch Weißflog sind die Abzüge für seine "Haferl-Landung" egal. Er reißt die Hände in den Himmel, feiert sich selbst und die Silbermedaille für Deutschland.
Oben hat Harada auf dem Balken Platz genommen, ihm genügt ein größerer Hüpfer für japanisches Gold. Der Anlauf passt, der Absprung kommt etwas spät, aber noch im Rahmen. Doch Harada kommt überhaupt nichts ins Fliegen, spürt null Wind unter dem Körper. Er geht vom V-Stil in den Gleitflug über und stürzt ab. 97,5 Meter - der kürzeste von 64 Sprüngen des gesamten Wettbewerbs.
Harada senkt im Auslauf den Kopf; er weiß, was er verbrochen hat. Er weiß, dass er versagt hat. Er ahnt, dass er Japans sicheren Olympiasieg weggeworfen hat. Und er weiß, dass er seine drei Teamkollegen im Stich gelassen hat. Sekunden später hat Harada Gewissheit: Hinter Japan leuchtet die "2" auf. Silber. Normalerweise ein Erfolg. Diesmal ein Witz.
Harada ist am Boden zerstört, wie ein Häufchen Elend geht er in die Knie, weint und schämt sich einfach nur. "Es tut mir so leid für alle Japaner", sagte er später unter Tränen. Läppische 105 Meter hätten zu Gold gereicht. Ein paar Meter weiter bejubelt das deutsche Team den Olympiasieg - den ersten einer Springer-Mannschaft in der Geschichte.
Doch außer den deutschen Zuschauern jubelt niemand im Publikum. Die norwegischen Zuschauer pfeifen Weißflog aus, weil sie der Meinung sind, er habe Harada mit seiner Gratulation irritieren wollen. Weißflog antwortet unsouverän: Er streckt dem Publikum den Mittelfinger entgegen.
Die Japaner bekommen das alles nicht mit. Sie sind damit beschäftigt, die größte Schmach der Spiele von Lillehammer zu verdauen. Im Skispringen über 55 Punkte mit einem Sprung zu verspielen, ist vergleichbar mit einer 4:5-Heimpleite des FC Bayern gegen Eintracht Braunschweig nach 4:0-Führung in Minute 70.
"Der, der uns den Krieg verlor"
Insbesondere Harada haderte mit allem. Und mit ihm seine Landsleute. "Die wahre Dimension dieser Gefühle zu verstehen, tun sich nüchterne Europäer und oberflächliche Amerikaner wahrscheinlich schwer", schrieb die Zeitung "Daily Yomiuri". Japanische Medien verwendeten für Harada den Begriff "Sempan". Was soviel heißt, wie "der, der uns den Krieg verlor".
Doch Harada sollte seinen großen Moment vier Jahre später erleben. Er holte Bronze im Einzel von der Normalschanze und endlich Gold mit dem Team - bei den Heimspielen in Nagano.
"Endlich können meine Kinder sagen 'Papa, du hast es geschafft' statt 'Papa, gib dein Bestes'", sagte Harada. "Die Einzelmedaille war für mich und meine Familie, die Mannschaftsmedaille für Japan und meine Seele." Ende gut, alles gut.