The Battle of the Carmens

Witt wiederholte in Calgary ihren Olympiasieg von Sarajevo als erste Eiskunstläuferin seit Henie
© getty

Am 7. Februar 2014 beginnen die Winterspiele in Sotschi. SPOX erzählt bis dahin in der Serie Olympic Moments zehn der spektakulärsten Geschichten rund um Olympia. Los geht es mit dem dramatischen Triumph von Katarina Witt 1988 in Calgary.

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Katarina Witt ist zahllose Küren gelaufen in ihrem Leben. Oft gewann sie dank ihrer Eleganz und Ausstrahlung den Wettbewerb, triumphierte regelmäßig auch über technisch höherwertige Konkurrentinnen. Aber kein Kürtanz blieb den Zuschauern weltweit so in Erinnerung wie Witts Carmen in Calgary 1988.

Das lag nicht nur an ihrer Darbietung voller Esprit oder am sportlichen Wert - es war vor allem die Inszenierung, die den Eiskunstlauf-Wettbewerb der Damen zum Höhepunkt dieser Olympischen Winterspiele machte.

Kalter Krieg auf dem Eis

Das Duell zweier junger Athletinnen als Kampf Ost gegen West, Kalter Krieg auf dem Eis, das Duell zweier Carmens. Denn die Wahl der Kürmusik schürte die Brisanz des Aufeinandertreffens noch: Sowohl Witt als auch ihre US-Rivalin Debi Thomas traten 1988 als Carmen aus der gleichnamigen Oper von George Bizet an.

Dem US-Publikum war Witt spätestens seit ihrem ersten Olympiasieg 1984 ein Begriff. Als 18-Jährige stach sie in Sarajevo die Amerikanerin Rosalynn Sumners aus. Mit 5:4 Punktrichterstimmen und um 0,2 Punkte.

1988 war Witt längst ein Weltstar, reiste als dreifache Weltmeisterin nach Calgary. Nur US-Sprungwunder Thomas hatte Witt 1996 bei den Titelkämpfen bezwungen. Geht es nach der nordamerikanischen Öffentlichkeit, sollte das der ersten dunkelhäutigen Spitzenläuferin in Calgary wieder gelingen.

Der Rummel ist riesig

Einige Wochen vor den Spielen war Witt als erste ostdeutsche Sportlerin auf dem Cover des europäischen "Time-Magazine" zu sehen, von der US-Ausgabe grüßte Thomas. Es war abzusehen, dass der Rummel in Calgary neue Ausmaße annehmen würde.

Und dennoch war Witt überrascht. "Dass das so extrem sein würde, hätte ich nicht gedacht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie so ein Medienrummel funktioniert", erzählte sie später einmal der "Welt". Um der Anfragen Herr zu werden, berief die DDR-Sportführung eine Pressekonferenz ein. Die 608 Sitzplätze im Archie Boyce Pavillon reichten nicht, die Reporter saßen noch auf den Treppenstufen. "So etwas hatte es vorher noch nie bei Olympischen Spielen gegeben", so Witt.

Die Einzeldisziplinen im Eiskunstlauf wurden zu dieser Zeit noch in drei Teilen an drei Tagen ausgetragen. Los ging es mit drei Pflichtfiguren, ehe in Kurzprogramm und Kür die Entscheidung fiel.

Drama in drei Akten

Witt erinnert sich bis heute gut an den Start. Kein Wunder, muss sie doch am langen Pflichttag als Erste aufs Eis. Um halb fünf Uhr morgens. Die Mensa im Olympischen Dorf hatte da noch kein Frühstück parat. "Es gab Pumpernickel mit Salami von zu Hause, geschmiert von Frau Müller", erzählte Witt. Jutta Müller, Witts Trainerin seit sie elf Jahre alt war, siezt sie noch heute.

Witt landete nach drei Pflichtfiguren hinter Thomas auf Rang drei, die Deutsche schob sich mit einem Sieg im Kurzprogramm aber an die US-Amerikanerin, die wieder Zweite wurde, heran. Klar war: Wer die Kür am letzten Wettkampftag der Spiele gewinnt, ist Olympiasiegerin.

Samstagabend. Prime Time. Der Saddledome zu Calgary war mit 16.800 Zuschauern voll besetzt. Italiens Superstar Alberto Tomba hatte am Nachmittag im Slalom seine zweite Goldmedaille in drei Tagen gewonnen. Und jetzt ließ es sich der Strahlemann, erklärter Bewunderer der "schönen Kati", nicht nehmen, sie anzufeuern. Im italienischen Fernsehen hatte er zuvor sogar erklärt, Witt seine zweite Goldmedaille zu schenken, falls sie ihren Olympiasieg von Sarajevo nicht wiederholt.

Mehr Charme, mehr Flamenco, mehr Carmen

Witt musste als Erste aufs Eis. Ihr schwarz-rotes Kostüm war sexy und versprühte spanisches Feuer. "Zum Glück hatten wir Zugang zu den Stoffen im Friedrichstadtpalast, wo die großen Revuen stattfanden. Deshalb hatte ich mehr Ähnlichkeit mit einem Showgirl als mit einem Wintersportler", sagte Witt.

Anmutig ihre Anfangspose. Als Bizets Flamenco-Musik einsetzte, lief sie aus einer vielseitigen Schrittkombination heraus mit viel Tempo den ersten technischen Höhepunkt an. Keine Angst, kein Zögern. Dreifach-Toeloop, Doppel-Toeloop. Beides beeindruckend hoch, blitzsauber auf rückwärts gelandet.

Zweithöchste Quote einer Sportsendung

Selbst die beiden US-Kommentatoren gaben zu: "That was smashing." Und "Yes, what a powerful opening". Der übertragende Sender ABC fuhr an diesem Abend mit 40,2 Prozent die bis dahin zweithöchste Quote ein, die im Sport erreicht worden war.

Es folgte Witts Lieblingssprung, der dreifache Salchow. An diesem Abend im Saddledome gelang er ihr besonders hoch. Dann der Dreifach-Flip sowie ein Doppel-Axel aus einer Kreisschrittfolge heraus. Scheinbar ohne Vorbereitung. Und ohne sichtbares Atemschöpfen.

Und auch wenn der Auslauf beim Axel ein wenig kurz geriet: Von der Kombination abgesehen, an deren Stelle die Weltelite heute mit Vierfach-Sprüngen zu glänzen versucht, Witt würde mit dieser fehlerfreien Anfangssequenz auch heute noch für Aufsehen sorgen.

Flirt mit Publikum und Preisrichtern

Und dabei folgte ihre große Stärke jetzt erst: die Schauspielerei auf dem Eis. Als im Mittelteil ihrer Kür das berühmte Carmen-Motiv einsetzte, war Witt in ihrem Element. Gespreizte Finger, der Hüftschwung, ein charmantes Lächeln hier, ein koketter Blick da. Mit großer Leichtigkeit zog die 22-Jährige die Zuschauer in ihren Bann. Thomas' Trainer Alex McGowan hatte zuvor gestichelt: "Es kann ein Vorteil für Witt sein, dass sieben der neun Preisrichter Männer sind."

Und es funktionierte. Kolumnist Mitch Albom vom Calgary Harold staunte: "Wenn Witt Französin wäre, wäre der Glamour selbstverständlich. Aber aus Ostdeutschland?" Die US-Kommentatoren aber hofften noch auf die Chance ihrer Debi, erst recht, als Witt den ungeliebten Rittberger nur doppelt sprang.

Doch die fehlende Drehung blieb der einzige Makel dieser Gold-Kür. Blitzschnelle Twizzles, die einen vom Zuschauen schwindeln ließen, noch eine Kombination aus Dreifach-Salchow und Doppel-Toeloop hinterher und den zweiten Doppel-Axel auf den Punkt. Mit der Landung synchron zum Paukenschlag Bizets leitete sie die Sterbeszene ein.

Standing Ovations

Als sie schließlich nach einer letzten Pirouette aufs Eis sank, die sterbende Carmen, tobte das Publikum längst. Es feierte die junge Deutsche aus Karl-Marx-Stadt mit stehenden Ovationen. Auch Tomba war aus dem Häuschen.

Die B-Note fiel gewohnt grandios aus, sieben Mal bekam Witt die 5,9. Dass die 6,0 nicht fiel, war nicht verwunderlich, es kamen ja noch Athletinnen. Der amerikanische und der japanische Preisrichter ließen sich mit der 5,8 allerdings sehr viel Spielraum. Entschieden war gar nichts.

Besonders schmerzte der doppelte Rittberger, der fünfte Dreifache fehlte, und das rächte sich in der A-Note. Für die Technik bekam Witt im Durchschnitt nur eine 5,7. Der amerikanische und der britische Punktrichter ließen sich mit der 5,6 jede Menge Platz, andere Läuferinnen in der Kürwertung dazwischen zu schieben. Und Witt brauchte den zweiten Platz in der Kür dringend. Sonst konnte es nicht zum Sieg reichen.

Die Tür ist offen

Doch Witt strahlte. Noch in der Kiss-and-cry-Corner wurde sie vom amerikanischen Fernsehen interviewt. Sie sei zufrieden mit ihrer Kür. Und natürlich werde sie sich nun Debi Thomas anschauen. Die andere Carmen war da schon auf dem Eis. Witt hatte ihr ein Hintertürchen offen gelassen.

Thomas' Kostüm war ein typisches Eislaufkleidchen. Eng, glitzernd, kurz. Spanischen Flamenco-Flair aber versprühte es nicht. McGowan stand an der Bande, hielt Thomas' Hände und schwor sie ein: "Du bist die Beste. Ich weiß, dass du es kannst. Das ist dein Moment." Doch das Abklatsch-Ritual der beiden ging diesmal daneben.

"An dem Tag verfehlten sich ihre Hände. Da wusste ich, dass da etwas nicht stimmte", erinnerte sich Witt, die die Kür von der Tribüne aus verfolgte: "In so einem Moment braucht man als Leistungssportler eine große Portion Draufgängertum. Die fehlte ihr."

Tatsächlich: Das Sprungwunder verpatzte die Kombination zum Auftakt, der zweite dreifache Toeloop war nicht auf rückwärts, dafür aber auf zwei Füßen gelandet. Der Flip kam nur doppelt, bei der Salchow-Kombi wackelte erneut der Doppel-Toeloop. Es half nicht mehr, dass der Doppel-Axel aus der Mond-Position heraus blitzsauber geriet, die Goldchance war dahin.

Auch in puncto Schwung, Dramatik und Dichte der Choreografie konnte Thomas nicht mithalten. Der Zauber, den Witts Carmen versprüht hatte, fehlte. Die US-Carmen sollte wohl Lebensfreude ausdrücken, das misslang nach den Fehlern gründlich.

Eklat auf dem Treppchen

In McGowans Armen brach Thomas in Tränen aus. Ihr Auftritt reichte in der Kürwertung nur zu Rang vier, so dass sich die Kanadierin Elizabeth Manley dank einer furiosen Kür noch am US-Girl vorbei auf den Silberrang schieben konnte. Thomas blieb nur Bronze.

Bei der Siegerehrung kam es zu einem Zwischenfall, der in den Medien zum Eklat stilisiert wurde: Witt streckte Thomas ihre Hand zur Gratulation hin, doch das US-Girl reagierte nicht. Die Empörung im Blätterwald und bei den Fans war groß.

Doch Witt war am Ziel ihrer Träume. Als erste Eiskunstläuferin seit Dreifach-Olympiasiegerin Sonja Henie verteidigte sie ihr Olympisches Gold. Sie feierte mit Eberswalder Bockwürstchen und Rotkäppchen-Sekt.

Deal mit der DDR

Viel später verriet "das schönste Gesicht des Sozialismus" ihren Deal mit der DDR-Regierung: "Nur bei einer Goldmedaille durfte ich nachher bei den Shows in Amerika und Kanada laufen. Ich wusste: Ich brauchte diesen Olympiasieg, um meinen Traum zu verwirklichen, weiterhin eislaufen zu dürfen. Das war extrem wichtig für mich."

Die Carmen bescherte Witt 1988 noch ihren vierten WM-Titel, ehe sie in den Profizirkus wechselte und mit Eisrevuen ihr Geld verdiente. Sie verkaufte gemeinsam mit Brian Boitano den Madison Square Garden aus, sogar Hollywood klopfte an.

"Ich wusste in Calgary sofort, dass ich den absoluten Höhepunkt meines Lebens erreicht hatte", sagte Witt. Er öffnete ihr die Türen in ein anderes Leben.