SPOX: Das müsste dann eigentlich einen Aufschrei geben.
Kistner: Naja, im Fußball werden solche Enthüllungen totgeschwiegen. Bestes Beispiel war der Fall des englischen Frauenarztes Dr. Mark Bonar, der im Frühjahr mit versteckter Kamera gefilmt wurde und gegenüber einem Lockvogel zugab, auch Fußballprofis etwa des FC Arsenal, des FC Chelsea oder auch vom späteren Überraschungsmeister Leicester City bei der Versorgung mit Dopingpräparaten zu unterstützen. Wer erinnert sich da jetzt noch dran?
SPOX: Ein gutes Beispiel.
Kistner: Das ist eben das Paradebeispiel, wie der Fußball mit Doping verfährt. Es gab damals einen riesigen weltweiten medialen Aufschrei. Die Vereine haben auch gleich wild dementiert. Das große Medientheater zog sich über einige Wochen hin, und wir kennen vor allem die englische Presse - das ist nicht sehr angenehm. Aber die betroffenen Vereine und ihre Spieler haben es hingenommen, und damit verbindet sich jetzt die Kernfrage: Warum ist kein Klub juristisch aktiv geworden? Warum hat keiner die Undercover-Reporter verklagt?
SPOX: Verraten Sie es uns.
Kistner: Weder die Klubs haben geklagt, noch Bonar und auch nicht Rob Brinded, der frühere Fitnesscoach des FC Chelsea, der in dem Video massiv als Mitwisser belastet wird. Die Beweislage auf den Videos erscheint absolut erdrückend. Im Übrigen ist auch bis ins Detail bewiesen, dass Bonar ein Dopingarzt war. Aber klar, in diese Faktenlage hat keiner reingestochen. Denn das Problem ist: In dem Moment, in dem ein Betroffener davon ausgehen muss, dass die Sache stimmt, ist die Gefahr enorm, dass er mit einer Klage direkt in die Enthüllung reinrennt. Vor Gericht hätte Bonar, um sich zu verteidigen, höchstwahrscheinlich seine Patientenakten präsentiert - und das wär´s dann gewesen mit dem sauberen Fußball. Zugleich haben aber auch Bonar und Brinded die Journalisten nicht verklagt, die sie mit versteckter Kamera ausgehorcht und als Doping-Mittäter einer internationalen Fußballöffentlichkeit vorgeführt haben. Warum ließen sie sich so eine enorme Rufschädigung widerstandslos gefallen? Weil es im Fall einer Klage zu etwas gekommen wäre, was der Fußball scheuen muss wie der Teufel das Weihwasser: zu einer unabhängigen, staatlich-juristischen Ermittlung. So hat man einfach die Füße still gehalten und gewartet, bis die nächste Sau durchs Dorf gejagt wird. Das Verhalten aller Beteiligten im Fall Bonar lässt nur den Schluss zu: Der Mann hat um die 150 Spitzenathleten gedopt, darunter zahlreiche Fußballer. Sogar Namen sind bekannt. Aber das schlummert jetzt alles unter der Decke: Wo kein Kläger, da kein Richter.
SPOX: Wie weit ist denn Doping im Fußball verankert, Ihrer Meinung nach?
Kistner: Der Fußball ist mit Sicherheit massiv durchdrungen. Gibt es Kontrollen? Nein. Die zwei Testchen pro Team, die brav nach jedem Bundesliga-Kick stattfinden, mit Ansage und dem Wissen, auf was getestet wird - die kann nur ein Träumer als Kontrollen bezeichnen. Wenn man aber nur in Internetforen surft, dann sieht man, was auch im gehobenen Amateurfußball los ist - bis hin zur 3. Liga. Hier in den unteren Ligen ist Doping also an der Tagesordnung - und trotzdem schaffen es die wenigsten Spieler in den Profifußball, wo nur saubere Topverdiener unterwegs sind?
SPOX: Wenn man den Fall Bonar in England betrachtet: Wo stehen andere Länder inklusive Deutschland in dieser Problematik?
Kistner: Vorsichtig formuliert: Die Namen, die ich gehört habe im Bezug auf Dr. Bonar, die beziehen sich nicht nur auf englische Fußballer.
SPOX: Generell stellt sich immer häufiger die Frage: Wo fängt denn Doping im Fußball überhaupt an? Wie ist es mit Schmerztabletten und dem Fitspritzen von Spielern.
Kistner: Die vielen begleitenden Maßnahmen kann man ja zum Beispiel nach juristischer Sichtweise als Doping betrachten. Im Urteil des obersten italienischen Gerichts zum Fall Juventus ist beispielsweise festgehalten, dass auch der Einsatz nichtsteroidaler Schmerzmittel als Doping zu betrachten ist. Sobald sie nicht mehr als Schmerzmittel eingesetzt werden, sondern als Mittel zum Zweck.
SPOX: Das heißt?
Kistner: Ganz einfach: Wenn ich mich bis oben hin mit Schmerzmitteln vollpumpe, dann setze ich meine Leistungsgrenze massiv herauf, weil der Schmerz ja maximal ausgesetzt wird. Und wenn dann einer so in das Spiel, in die Schlacht zieht, dann kriegt das der Gegner zu spüren.
SPOX: Ist Ihnen in dieser Problematik in der jüngeren Vergangenheit etwas aufgefallen?
Kistner: Wir können nicht mit bloßem Auge in die Körper schauen. Wir können aber Entwicklungen erkennen, die Fragen aufwerfen: Die Fälle der Dopingärzte Fuentes, Bonar und andere, die auch Fußballer versorgt haben. Oder die immer rasantere Entwicklung der Körperleistung im Fußball. Bei den Besten geht es heute um bis zu 70 Spiele im Jahr. Und wir können im Spitzenbereich immer wieder rätselhafte Phänomene beobachten. Schauen wir uns Bayern München unter Pep Guardiola an. Extrem energetische Spielweise, zugleich aber haben es die Bayern in der Tabelle der Verletztenstatistik geschafft, von der verletzungsunanfälligsten Mannschaft, insbesondere bei Muskelverletzungen, auf den Schlussplatz durchgereicht zu werden in der vergangenen Saison. Es war statistisch in Relation an Arbeitstagen niemand häufiger verletzt als der Bayernkader. Aber Guardiolas Credo lautet: Wenn der Arzt sagt, der Spieler ist in vier Wochen fit, will ich ihn in drei Wochen haben.
SPOX: Haben Sie ein Beispiel parat für konkrete Dinge, die Sie verwundern?
Kistner: Für mich persönlich zum Beispiel ist bis heute ein klärungsbedürftiges, einmaliges Phänomen die schwere Muskelverletzung von Holger Badstuber im Viertelfinal-Rückspiel des FC Bayern gegen Porto 2015 in der Champions League, das sie 6:1 gewannen. Das war ein extrem energetisches Spiel - das Hinspiel wurde damals 1:3 in Porto verloren. Zwischen diesen beiden Begegnungen verließ Dr. Müller-Wohlfahrt den FC Bayern aufgrund der ständigen Reibereien mit Pep Guardiola.
SPOX: Was ist danach passiert?
Kistner: Nur ein paar Tage später war dieses extrem wichtige Match - es stand viel auf dem Spiel für die Bayern. Und dann legt das Team dieses legendäre Spiel hin. Es war meines Wissens das bisher einzige Spiel in der Geschichte der Champions League in der K.o.-Runde, in dem es zur Halbzeit bereits 5:0 stand. Und das gegen ein Team, gegen das sie nur wenige Tage zuvor beim 1:3 überrollt worden waren.
SPOX: Inwiefern ist Badstubers Rolle beim 6:1 bemerkenswert?
Kistner: In diesem Spiel hat sich Badstuber so schwer den Muskel im Oberschenkel gerissen, dass dieser erstens genäht werden musste und der Spieler zweitens im Nachgang ein halbes Jahr ausfiel. Jeder, der sich ein bisschen mit Sportverletzungen auskennt, weiß, wie viel da bei einem Muskel durchgerissen sein muss, dass es genäht werden muss. Und die Ausfalldauer spricht ja außerdem für sich. Mir hat bis heute kein Sportarzt vernünftig erklären können, wie es generell möglich sein kann, mit so einer brutalen Verletzung, die gewöhnlich zu Funktionseinschränkungen führt, ein Champions-League-Spiel zu bestreiten und durchzuspielen. Und die Verletzung dann noch erst einen Tag später, bei einer medizinischen Untersuchung zu bemerken. Das sind so Phänomene, da steige ich dann langsam aus mit dem Glauben.