Ter Stegen erklärt, was er von der umstrittenen Amazon-Doku und Kai Havertz' Fan-Kritik hält, wie er dem Konkurrenzkampf mit Manuel Neuer und der Heim-EM entgegenblickt. Außerdem: Seine spezielle Beziehung zu Barca-Trainer Xavi Hernández - warum Kritik an dessen Spielweise "Quatsch" ist und worin "wir Deutsche generell gut" sind.
Dieses Interview wurde vor der Entlassung von Bundestrainer Hansi Flick geführt.
Herr ter Stegen, Sie haben Ihren Vertrag beim FC Barcelona kürzlich bis 2028 verlängert. Was hat den Ausschlag gegeben?
Marc-André ter Stegen: In Barcelona passt für mich sportlich und privat alles. Ich habe die Entscheidung mit meiner Familie getroffen. Wir fühlen uns sehr wohl in der Stadt, die Menschen respektieren uns. Wenn ich den Vertrag erfülle, was ich erwarte, werden wir 14 Jahre hier sein. Ich könnte mir vorstellen, mein restliches Leben in Barcelona zu wohnen.
Bei Vertragsende werden Sie 36 Jahre alt sein: Wie lange wollen Sie noch Fußball spielen?
ter Stegen: Das entscheidet letztlich die Gesundheit. Aber es ist nicht der Plan, dass das mein letzter Vertrag ist.
Wurde bei den Verhandlungen auch über eine mögliche Folge-Anstellung im Trainerstab oder Management gesprochen?
ter Stegen: Nein, das war kein Thema. Ich bereite mich aber parallel zum Fußball schon auf die Zeit nach meiner aktiven Karriere vor.
Inwiefern?
ter Stegen: Es gibt viele Themen, die mich sehr interessieren. Ich versuche, Firmenstrukturen und Ökosysteme zu verstehen. Ich lese darüber, bin mit Kollegen im Austausch, die sich in diesen Bereichen auskennen, und probiere mich in der Praxis. Investments, Venture Capital, Startups: Mit jedem neuen Projekt lerne ich dazu. Diese Themen will ich nach meiner Karriere noch intensiver behandeln.
In welchen Bereichen haben Sie bisher investiert?
ter Stegen: Ich bin in ein Startup für Hafermilch eingestiegen. Als Kaffee-Liebhaber habe ich ewig nach diesem Produkt gesucht. Als ich es ausprobiert habe, habe ich zu Kevin Trapp - einem der Gründer - spaßeshalber gesagt: Wenn ihr noch jemanden an Bord braucht, sagt Bescheid. Aus dieser Flachserei ist eine Zusammenarbeit entstanden. Ich habe richtig Spaß daran, Teil des Weges zu sein und bin mir sehr sicher, dass es ein überzeugendes Produkt ist. In Deutschland ist es schon präsent. Ich will mit dem Produkt gerne auch auf den spanischen Markt. Eines meiner ersten Investments war in ein Fahrrad-Startup in Barcelona. Man lernt sehr viel bei den Prozessen in Unternehmen und es macht mich stolz, dass das Thema so gut angenommen wird und die Mobilität innerstädtisch effizienter und nachhaltiger macht.
Sehen Sie sich nach Ihrer Karriere also in der Wirtschaft? Oder könnten Sie sich auch eine Trainer-Karriere vorstellen?
ter Stegen: Das weiß ich noch nicht. Trainer zu sein ist, glaube ich, anstrengender und zeitaufwändiger als selbst zu spielen. Als Trainer muss man sich um alles kümmern. Ich arbeite gerne mit jungen Menschen zusammen - vielleicht könnte das also passen.
Ein Sprung von der fernen in die etwas nähere Zukunft. Nächstes Jahr steigt die Heim-EM. Wie blicken Sie dem Turnier entgegen nach den zuletzt sehr enttäuschenden Ergebnissen und Leistungen wie beim 1:4 gegen Japan am Samstag?
ter Stegen: Nach unseren letzten Turnieren wäre es vermessen, den EM-Titel zu fordern. Das ist zwar unser Ziel, aber davon sind wir aktuell noch weit entfernt. Wir sind kein Topfavorit.
Im Land herrscht nicht der Hauch von Euphorie: Kai Havertz hat zuletzt fehlende Fan-Unterstützung als einen der Hauptgründe für schlechte Leistungen und das Scheitern bei der WM ausgemacht. Wie sehen Sie das?
ter Stegen: Wir Spieler sollten uns nur auf eines konzentrieren und zwar die Ergebnisse. Bei der WM gab es leider zu viele Themen rundherum, die uns genauso beschäftigt haben wie die Fans. Ich bin froh, dass die WM jetzt abgehakt ist. Ich wünsche mir, dass uns Fußball-Deutschland den Halt gibt, den wir brauchen. Und wir werden alles für eine schöne und erfolgreiche EM tun. Es ist ein Geben und Nehmen. Ich bin mir sicher, dass beide Seiten alles dafür tun werden.
Seit Manuel Neuers Verletzung im vergangenen Winter sind Sie im Tor gesetzt, aber demnächst dürfte der langjährige Stammkeeper sein Comeback feiern. Wie blicken Sie dem Konkurrenzkampf entgegen?
ter Stegen: Ich wünsche Manu, dass er so schnell wie möglich zurückkommt. Dass er glücklich und gesund ist und das Fußballspielen wieder genießt. Ich habe in den letzten Monaten gute Leistungen für die Nationalmannschaft und den Verein gezeigt. Ich bin aktuell die Nummer 1 und will diese Position verteidigen. Mein Ziel ist es, auch bei der EM die Nummer 1 zu sein. Aktuell geht es aber nicht um einzelne Spieler. Sondern nur darum, dass wir als Mannschaft positive Ergebnisse erzielen.
Es deutet sich ein ähnliches Torwart-Duell wie vor der Heim-WM 2006 zwischen Platzhirsch Oliver Kahn und Herausforderer Jens Lehmann an. Sie waren damals 14 Jahre alt: Mit wem haben Sie sympathisiert?
ter Stegen: Ich erinnere mich gut daran, das war ja eine große Aufregung. Oliver Kahn war für mich wie für viele andere die Nummer 1. Aber Jens Lehmann hat es am Ende trotzdem gut gemacht. Für Oliver Kahn muss die Entscheidung sehr, sehr hart gewesen sein.
Bei Ihrem Duell mit Neuer ging es im Herbst 2019 hoch her. Nachdem Sie wiederholte Startelf-Nichtberücksichtigungen einen "Tiefschlag" genannt hatten, attackierte Sie der damalige Präsident des FC Bayern Uli Hoeneß scharf. Ihre Aussagen seien "ein Witz" gewesen und Sie hätten "überhaupt keinen Anspruch", in der Nationalmannschaft zu spielen. Wie haben Sie das damals aufgenommen?
ter Stegen: Manu ist Spieler des FC Bayern München. Es ist völlig normal, dass sich Uli Hoeneß für ihn eingesetzt hat. Bevor Sie mich darauf angesprochen haben, hatte ich das aber schon wieder vergessen. Ich bin null nachtragend.
Am Freitag ist eine Amazon-Doku über die Nationalmannschaft bei der WM in Katar erschienen. Wie war es für Sie, während intimen Kabinen-Momenten gefilmt zu werden?
ter Stegen: Für mich war das nichts Neues, wir haben auch in Barcelona dauerhaft einen Kameramann dabei. Fast jeder Spieler kannte das schon aus seinem Verein. Am Anfang ist das schon komisch, aber irgendwann entsteht Vertrauen und der Kameramann wird zu einem Teil der Mannschaft.
Wurde im Vorfeld der WM die Meinung der Spieler über die geplante Doku eingeholt?
ter Stegen: Ja, wir haben vorher darüber gesprochen. Die Mehrheit der Spieler war mit der Doku einverstanden. Wir verstehen, dass sich die Fans für diese Einblicke interessieren. Leider haben wir keine gute WM gespielt. Auch im Misserfolg sollten Hintergründe gezeigt werden. Nicht nur, wenn es läuft.
Für Aufsehen sorgte eine Szene im Vorfeld des Auftaktspiels gegen Japan, als der damalige Bundestrainer Hansi Flick zur Motivation einen Film über den Flug der Graugänse gezeigt hat. Wie fanden Sie das?
ter Stegen: Das war mal ein anderer Ansatz. Ich mag neue Impulse und Reize, die mich zum Nachdenken anregen.
Welches Motivationsvideo eines Trainers hat Sie richtig gepackt?
ter Stegen: Xavi hat mal ein gutes Video zusammenschneiden lassen. In dem Video ging es um die Verbindung und Emotionen zwischen Fans und Spielern. Das war super.
Sie haben mit Xavi einst selbst zusammengespielt und 2015 die Champions League gewonnen. Wie ist Ihr Verhältnis in der Konstellation Spieler/Trainer?
ter Stegen: Nach seinem Abschied aus Barcelona haben wir Kontakt gehalten. Wir pflegen eine spezielle Verbindung, ein sehr offenes Verhältnis. Wenn er sportliche Kritik äußert, bin ich sehr offen dafür. Das ist wichtig für unsere Beziehung. Ich kann Privates und Berufliches trennen. Ich denke, darin sind wir Deutsche generell gut.
Barcas Meistertitel in der vergangenen Saison war vor allem auf eine stabile Defensive zurückzuführen. Bisweilen hieß es, der Trainer Xavi hätte die einst von ihm selbst geprägte Barca-DNA des schönen Spiels verraten.
ter Stegen: Das ist völliger Quatsch. Jede Philosophie muss sich weiterentwickeln. Als Xavi selbst gespielt hat, war die Qualität der Barca-Mannschaft im Vergleich zur Konkurrenz deutlich höher. Seitdem ist alles ausgeglichener geworden, vor allem im physischen Bereich. Deshalb muss man jetzt andere Lösungen finden als damals. Gerade am Anfang hat er versucht, uns eine gewisse Stabilität zu geben - und das war sehr notwendig.
Barca steckt seit Jahren in einer schweren Finanzkrise. Wie präsent ist dieses Thema in der Mannschaft?
ter Stegen: Natürlich bekommen wir Spieler das mit, aber wir sprechen kaum darüber. Der Klub tut alles, um unsere Mannschaft trotz der schwierigen Situation zu verbessern. In den letzten Jahren wurden viele richtige Entscheidungen getroffen, die den Klub sowohl finanziell als auch sportlich nach vorne gebracht haben. Manche davon waren aber sehr, sehr schmerzhaft. Speziell, wenn es um Entlassungen ging.
Berichten zufolge sind Sie Barca bei Ihrer Vertragsverlängerung mit einer speziellen Klausel entgegengekommen: Demnach kassieren Sie im ersten Jahr ein geringeres Gehalt, anschließend aber entsprechend mehr. Stimmt das?
ter Stegen: Da möchte ich nicht ins Detail gehen. Wir haben eine gute Lösung gefunden, die für beide Seiten okay ist. Ich bin dem Klub sehr dankbar, dass ich von Anfang an absolutes Vertrauen bekommen habe. Insofern will ich auch etwas zurückgeben.
Für Begeisterung sorgt bei Barca aktuell der erst 16-jährige Lamine Yamal. Wie erleben Sie ihn?
ter Stegen: Seine Unbekümmertheit tut uns gut. Ich hoffe, dass er sie sich beibehält. Im physischen Bereich wird er arbeiten müssen, aber er ist gerade einmal 16 Jahre alt. Abseits des Platzes ist Lamine ein ruhiger Typ. Wir sollten ihm die Zeit geben, dass er sich in Ruhe entwickeln kann. Er hat eine große Zukunft vor sich.
Mit dem gleichaltrigen Noah Darvich ist im Sommer auch ein deutsches Talent nach Barcelona gewechselt.
ter Stegen: Er hat schon ein paarmal bei den Profis mittrainiert, da habe ich kurz mit ihm gesprochen. Genau wie bei Lamine hoffe ich auch bei Noah, dass man ihm die nötige Zeit gibt.
Gescheitert ist in der zurückliegenden Transferphase unterdessen eine Rückkehr von Lionel Messi, stattdessen ist er zu Inter Miami gewechselt. Hätten Sie ein Messi-Comeback in Barcelona begrüßt?
ter Stegen: Sicherlich wäre er ein Gewinn für uns gewesen. Vielleicht kehrt er irgendwann in anderer Funktion zurück. Barcelona ist sein Verein und wird immer ein großer Teil seines Lebens bleiben. Viele Leute hier stehen noch in Kontakt mit ihm. Ein paar Spieler, mit denen er sehr eng war, sind jetzt mit ihm in Miami.
Messi wählte die USA, viele andere Spieler zog es diesen Sommer dank der dortigen Verdienstmöglichkeiten nach Saudi-Arabien.
ter Stegen: Es wurden schon sehr viele gute Spieler verpflichtet, noch hat die dortige Liga kein Europa-Niveau. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Die Transferoffensive dürfte sicherlich noch nicht vorbei sein.
Sehen Sie die Champions League durch diesen Exodus von Weltklasse-Spielern entwertet?
ter Stegen: Je mehr gute Spieler nach Saudi-Arabien wechseln, desto dringlicher wird dieses Thema. Aber diese Gedanken müssen sich andere machen - mein Fokus liegt auf anderen Themen.