Da stand die deutsche Handball-Nationalmannschaft und klatschte gequält in Richtung Zuschauerränge der Kristianstad Arena, um sich bei den mitgereisten deutschen Fans zu bedanken. Eine deutsche Handball-Nationalmannschaft, die soeben ein bemitleidenswertes und sogleich erschreckendes Bild von sich abgegeben hatte.
Nach einem guten Start ließ sich die DHB-Auswahl von Frankreich nicht nur besiegen. Das wäre ja noch zu ertragen gewesen. Nein, sie ließ sich komplett fertig machen. Hätten die Franzosen gewollt, sie hätten es noch viel schlimmer aussehen lassen können.
Dass Frankreichs überragender Superstar-Torwart Thierry Omeyer in einem Spiel gegen Deutschland frühzeitig Feierabend machen und auf der Bank Platz nehmen kann, weil der Vorsprung so riesengroß ist, das gab es in Spielen gegen Deutschland eigentlich nie.
Omeyer: "Nie gedacht, dass wir so hoch gewinnen würden"
Kiel-Keeper Omeyer zeigte sich nach dem Spiel im Gespräch mit SPOX dann auch sehr überrascht, wie leicht es Deutschland der Equipe Tricolore machte. "Wir haben ein enges Spiel erwartet, so wie immer. Wir hätten vorher nie gedacht, dass wir so hoch gewinnen würden. Aber wir haben in der Abwehr überragend gespielt und der deutsche Rückraum hat keine Lösung gegen uns gefunden", sagte Omeyer und verwies darauf, dass Deutschland gegen offensive Abwehrreihen wohl weiterhin so seine Probleme hätte. So seine Probleme? Das ist wohl die Untertreibung des Jahres.
Dass sich der deutsche Rückraum gerade gegen offensive Deckungsvarianten schwer tut, ist seit langem bekannt. Auch um zu wissen, dass die deutschen Rückraumspieler weit weg von dem Niveau sind, auf dem beispielsweise Frankreichs unumstrittener Anführer Nikola Karabatic spielt, muss man kein ausgewiesener Handballexperte sein.
Kolumne von Christian Schwarzer: "Die Spieler sind zu stark mit sich beschäftigt"
DHB-Team völlig willenlos
Aber jetzt kommt es. So komisch es sich anhören mag - alle diese Defizite waren an diesem Abend in Kristianstad nicht das Problem. Das Problem war, dass eine Mannschaft, die sich über ihren Teamgeist definiert, ganz kurz vor dem Spiel noch einen Kreis bildet und sich gegenseitig heiß macht, in der zweiten Hälfte komplett auseinandergebrochen ist. Kein Kampf, kein Wille, kein gegenseitiges Helfen, kein Team. Das war das Erschütternde.
"Die zweite Halbzeit war desolat. So hätten die Dämme nicht brechen dürfen. Dass der eine dem anderen dann auch noch Vorwürfe macht. Das geht nicht. Ich werde einige Worte sagen, aber ich denke, dass es jetzt vor allem auch angebracht ist, dass die Spieler sich mal untereinander unterhalten. So wie in der zweiten Halbzeit darf man sich nicht präsentieren. Das kann ich nicht akzeptieren", lautete das Fazit eines ernüchterten Heiner Brand.
Wenn ein Bundestrainer in der Auszeit an die Ehre appellieren und seine Spieler zum Kampf auffordern muss, gibt es wohl kein schlechteres Zeichen für eine Mannschaft. Und es ist geradezu schockierend, wenn man daran denkt, wie stark das Team in den ersten 15 Minuten begonnen hatte.
Brand fordert "Präsenz"
Es fiel alles in sich zusammen. Wenn Brand sagt, dass das Ergebnis den Leistungsunterschied zwischen beiden Mannschaften widerspiegelt und man nicht irgendwelchen Hirngespinsten (Stichwort: Halbfinale) hinterher jagen darf, dann hat er selbstredend Recht. Frankreich spielt in einer anderen Liga. Punkt.
Aber was Brand nach dem Spiel sichtbar viel mehr zu schaffen machte als der schlichte Qualitätsunterschied, ist die fehlende Bereitschaft oder die fehlende Fähigkeit seines Teams, sich für den Erfolg aufzuopfern. Immer wieder benutzte Brand ein Wort: Präsenz.
"Wenn ich sehe, was ein Nikola Karabatic oder Bertrand Gille für eine körperliche Präsenz haben, dann sieht das bei uns schon anders aus. Auch wenn ich dann mit einigen Toren hinten bin, muss ich mich doch hinstellen und zeigen, dass ich das jetzt noch biegen will. Ich muss Präsenz zeigen. Das hat mir gefehlt", kritisierte Brand.
Dahin gehen, wo es wehtut
Dabei geht es vor allem auch um körperliche Präsenz. In der Abwehr verloren die deutschen Spieler nahezu jeden Zweikampf in einer Eins-gegen-eins-Situation, vorne konnten sie sich erst recht nicht durchsetzen und fanden keine Mittel, um das französische Bollwerk zu knacken.
"Wir brauchen Spieler auf den zentralen Positionen, die, wenn mal eine kleine Lücke da ist, da mit allem was sie haben reingehen. Egal, ob es dafür von einem Franzosen eins auf die Nase gibt. Da muss ich körperliche Präsenz zeigen und reingehen. Dann bekomme ich den Siebenmeter oder hole die 2 Minuten raus", erklärte Brand.
So war es dann das genaue Gegenteil. Die im Zweikampf viel geschickteren Franzosen blieben ohne viele Strafzeiten, dafür wanderten die Deutschen für häufig auch noch "blöde" Fouls auf die Bank. Statt rechtzeitig bei der Ballaufnahme am Gegenspieler dran zu sein, kamen die Deutschen immer wieder zu spät und hingen nur noch an den Franzosen dran. Die Überzahlsituationen, die Frankreich dann immer wieder eiskalt ausnutzte, waren nur die logische Folge.
Knappe Niederlage gegen Tunesien reicht
Lange Zeit, um nach der Demütigung Trübsal zu blasen, bleibt aber nicht. Gegen Tunesien geht es im letzten Vorrundenspiel jetzt um alles. Sogar der GAU mit dem Namen Vorrunden-Aus ist theoretisch möglich.
Theoretisch ist deshalb die richtige Bezeichnung, weil Deutschland dafür den kompletten Offenbarungseid ablegen müsste. Denn: Geht man davon aus, dass Ägypten Bahrain schlägt - alles andere wäre kompletter Wahnsinn -, dann darf sich das DHB-Team gegen Tunesien eine Niederlage mit bis zu vier Toren Unterschied leisten und wäre im Dreiervergleich mit Ägypten und Tunesien (alle hätten dann vier Punkte) immer noch weiter. Wenn sie das nicht schaffen...
"Jetzt haben wir ein absolutes Endspiel. Es geht um die Zukunft des deutschen Handballs. Wir müssen die Hauptrunde erreichen. Etwas anderes gibt es für uns nicht. Da können wir uns jetzt richtig beweisen", gab Michael Kraus die Marschroute vor.
Kritisierter Kraus trotz Treffern ein Schwachpunkt
Der Hamburger war gegen Frankreich mit sieben Toren zwar bester Torschütze, gehörte aber dennoch erneut zu den großen Schwachpunkten. Fünf Fehlversuche leistete sich Kraus in Halbzeit eins. Zu allem Überfluss ist beim 27-Jährigen nicht nur das Selbstvertrauen in Mitleidenschaft gezogen worden, jetzt kommt in einigen Momenten auch noch Pech dazu.Die harsche Kritik des Bundestrainers an ihm hat Kraus inzwischen abgehakt. "Ein Teil der Kritik war denke ich auch ein bisschen ungerechtfertigt. Das hat er auch eingesehen und wir haben miteinander gesprochen. Er hat mir ein paar Dinge gesagt, mit denen ich einverstanden war. Und ich habe ihm meine Meinung gesagt. Es ist alles okay und wir schauen nach vorne", so Kraus.
Platz sieben ist das Minimalziel
Es bleibt der deutschen Mannschaft gar nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen. Die Demütigung a la francaise muss abgehakt werden. Statt mit Übermächten sollte man sich mit machbaren Aufgaben beschäftigen. Heißt: Tunesien schlagen und dann in der Hauptrunde gegen Island, Norwegen und Ungarn zumindest die beiden zuletzt genannten Teams bezwingen, um das Spiel um Platz sieben zu erreichen. Dort noch ein Sieg - und die WM würde im Hinblick auf das Erreichen eines Olympia-Qualifikationsturniers noch einen einigermaßen versöhnlichen Abschluss finden.
Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Jetzt muss die DHB-Auswahl gegen Tunesien erst einmal Wiedergutmachung betreiben und zeigen, dass sie überhaupt noch ein Team ist. Einen Kreis bilden reicht da nicht, auf der Platte müssen sie es leben. Brand bringt es auf den Punkt: "Ich kann der Mannschaft nicht absprechen, dass sie will. Aber sie steht jetzt in der Verantwortung."