WM

Wenn Stärke zur Schwäche wird

Von Stefan Rommel und Andreas Lehner
In Buenos Aires sind die Straßen wie leergefegt, wenn Messi - pardon - Argentinien spielt
© getty
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Die Stärken:

Argentinien setzt in erster Linie auf eine geordnete Defensive und hat dabei bisher überzeugt. Der Pragmatismus der Südamerikaner verblüfft nur auf den ersten Blick - nach dem Desaster vor vier Jahren in Südafrika mit Diego Maradona hat sich der Verband auf diese neue Linie mit Alejandro Sabella eingelassen und darf sich nun bestätigt fühlen.

Sabella wurde von den Fans kritisch gesehen, der Trainer ist kein Strahlemann, eher introvertiert. Ein Schattenmann, dessen große Leistung darin besteht, seinen Superstar bei Laune zu halten. Die Hierarchie der Argentinier ist atypisch: Ohne Messis Zustimmung geht nichts. Dass der Kapitän selbst die Aufstellung mitbestimmt, ist mehr als ein Gerücht. "Ich diskutiere immer gerne mit meinen Spielern über Fußball", sagt Sabella. "Dabei kann ich auch noch etwas lernen."

Was in anderen Mannschaften zu einem heillosen Chaos führen würde, funktioniert bei den Argentiniern und ist sogar eine Stärke. Die Zuständigkeiten sind klar verteilt: Messi steht über allem, Mascherano führt das Team und die Truppe folgt ihm. Und Sabella überwacht und schreitet notfalls ein. Aber im Prinzip lässt der Trainer sein Team gewähren.

Das hat bei Messi immerhin schon zu vier Turniertoren geführt. Und wenn der Star gut drauf ist, ist die Mannschaft gut drauf. "Ich will ein Team, das Messi unterstützt, das ihm den Rücken stärkt, das ihm hilft, sich wohl zu fühlen. Dass er weiter das zeigen kann, was ihn auszeichnet", sagt Sabella.

Er verantwortet immerhin das Defensivkonzept, in dem Mascherano und dahinter Garay die zentralen Figuren sind. Argentinien versteht es perfekt, das Tempo einer Partie zu variieren. Die Mannschaft hat ein feinfühliges Gespür dafür, wann Kontrolle und wann Dynamik angebracht sind. Das Zentrum gibt die Alibceleste nicht preis - auch wenn über die Flügel auf hoher Position im Feld dann die eine oder andere Lücke klafft.

Erst je näher der Gegner dem eigenen Tor kommt, wird auch konsequent auf die Seiten verschoben. Die Reihen in der Mitte bleiben dabei aber stets durch die beiden Sechser geschlossen, was es den Gegner bisher bis auf wenige Ausnahmen so schwer gemacht hat, sich bis zum Tor durchzukombinieren.

Mascherano ist mittlerweile der Spieler mit den meisten geglückten Zuspielen des Turniers. 478 Pässe hat Mascherano an den Mitspieler gebracht, 20 mehr als Philipp Lahm, der in dieser Statistik auf Rang zwei liegt.

Im Offensivspiel stechen zwei Sonderheiten heraus: Argentinien ist aus der Tiefe die gefährlichste Mannschaft des Turniers. Nach teilweise langen Sprints oder Dribblings schlossen Di Maria (16 Mal) und Messi (13 Mal) schon von außerhalb des Sechzehners ab. Das Angriffsspiel ist bestimmt vom hohen Tempo in der Umschaltbewegung, verantwortlich sind hierfür die raumgreifenden Dribblings von Di Maria, Lavezzi und natürlich Messi.

Auch die Anzahl an Flanken ist erstaunlich hoch. Im Achtelfinale gegen die Schweiz versuchte es die Mannschaft in 120 Minuten mit unglaublichen 57 Flanken in den Strafraum. Das Spiel über die Flügel wird stark akzentuiert. Obwohl mit Higuain nur ein Abnehmer in der Mitte positioniert war. Di Maria, Lavezzi oder Messi rücken kaum mit nach.

Messi ist wie nicht anders erwartet derjenige für die speziellen Momente. Ob mit seinen Standards oder aus dem Spiel heraus bleibt der Kapitän eine Waffe, besonders wenn ihm der Gegner auch nur wenige Meter Platz gewährt, um Tempo aufzunehmen. Jeder Verteidiger der Welt kennt seine Bewegungen, weiß wie er den Ball führt, dass er am Ende mit dem linken Fuß abschließen wird - und trotzdem ist er von einem Einzelnen nicht zu verteidigen.

Argentinien schafft es auch wegen ihm und der Dribblingstärke Di Marias oder Lavezzis, sich unter großem Druck aus engsten Situationen zu befreien. Das ist eine echte Gefahr für den Gegner, der vermeintlich gut positioniert ist und vermeintlich gleich den Ball erobert - und nach einem Durchbruch Messis dann plötzlich massive Probleme bekommt.

Argentinien kommt definitiv in der Rolle des Außenseiters daher. In den bisherigen Spielen, das Halbfinale gegen die Niederlande mal ausgenommen, war die Albiceleste der große Favorit. Dementsprechend war die Erwartungshaltung an die Spielweise der Mannschaft. Aber zum einen haben sich die Fans in der Heimat wegen der Erfolge mit dem Stil zumindest arrangiert. Und zum anderen wird deshalb jeder verstehen, wenn Argentinien gegen die deutsche Mannschaft noch mehr Augenmerk auf die Defensive legen wird. Sich also voll auf seine große Stärke fokussiert.

Für jeden Einzelnen kann es kaum etwas Größeres geben, als im Maracana, der Heimstatt des Erzrivalen, das wichtigste Spiel der Kariere zu spielen. Argentinien kann die Atmosphäre nichts anhaben, eher könnte sogar das Gegenteil der Fall sein: Dass sich die Albiceleste noch mehr in ihrer Trutzburg verschanzt.

So unerträglich für die Brasilianer ein Titelgewinn der Argentinier im Maracana wäre, so unsterblich würden sich die Spieler in Himmelblau und Weiß damit in der Heimat machen. Der Ansporn könnte kaum größer sein.

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