Timo Werner war einst ein vielversprechendes Sturmtalent aus der Nachwuchsabteilung eines deutschen Traditionsklubs, einer wie viele andere vor und nach ihm auch. Beim VfB Stuttgart kam er aber nicht so wirklich in Fahrt, also wechselte er zum meistgehassten Fußball-Unternehmen des Landes. Er wechselte zu RB Leipzig, womit ihm beim deutschen Durchschnittsfan eine Grundabneigung gewiss war. Mit seiner legendären Schwalbe gegen den FC Schalke 04 im Dezember 2016 samt Rechtfertigungsversuchen und einer zu späten Entschuldigung schwappte sie bei vielen in Hass über.
Ausgelebt wurde diese starke Abneigung in Gesängen über den vermeintlichen Beruf seiner Mutter. "Timo Werner ist ein Hurensohn" tönte es durch fast jedes Stadion, in dem er auftauchte. Der Satz stand auch auf T-Shirts und auf Spruchbändern und der Ballermann-Sänger Ikke Hüftgold dichtete ein Lied mit dem Titel "Imo Erner ist kein Urensohn", das gerne mal falsch gesungen wurde. Der Werner-Hass verselbstständigte sich, er wurde zum langanhaltenden Trend.
Trotzdem schoss Werner Tor um Tor. Oder gerade deswegen? Jetzt erst recht? 95-mal traf er in 159 Pflichtspielen für Leipzig. Bundestrainer Joachim Löw machte ihn folgerichtig zum Nationalspieler. Die Fans, die ihn im Leipzig-Trikot anfeindeten, feindeten ihn fortan halt auch im DFB-Trikot an. Bei seinen ersten Einsätzen für die Nationalmannschaft wurde Werner ausgepfiffen, sowas gab es wohl noch nie. "Ich weiß nicht, was die Gemüter so bewegt", sagte Werner damals. "Monatelang, jahrelang wurden Schwalben gemacht. Und bei mir wird es so aufgebauscht, nur, weil ich bei RB spiele. Schade."
Jürgen Klinsmann, Timo Werner, England und die Schwalben
Nach vier Jahren verließ Werner Leipzig schließlich und wechselte für 53 Millionen Euro zum FC Chelsea. Neues Land, neuer Klub, neuer Start. Tore schien er vermeintlich sowieso zu garantieren, aber konnte er auf der Insel auch Sympathien gewinnen? Die Voraussetzungen waren schwierig: Nirgendwo mag man Schwalben weniger als in England, "dives" - also Taucheinlagen - sind verpönt im Land der Gentlemen.
Das wusste einst schon Werners schwäbischer Landsmann Jürgen Klinsmann bei seinem Wechsel zu Tottenham Hotspur 1994. Um seinen Ruf als Schwalbenkönig prophylaktisch zu bekämpfen, erschien er bei der Vorstellungs-Pressekonferenz mit Taucherbrille und fragte: "Ich wollte nur wissen, ob es in London Tauchschulen gibt?" Was Engländer ähnlich lieben wie Fairness ist bekanntlich Humor. Klinsmann avancierte bei den Spurs zum Publikumsliebling.
Werner kam 26 Jahre später nach London, seinen Ruf legte er dort auch ganz ohne Taucherbrille ab. "Ich wusste von den Schmähgesängen gegen ihn und dass er angeblich gerne Schwalben macht", erinnert sich Will Faulks vom Fan-Blog TalkChelsea im Gespräch mit SPOX und GOAL. "Hier hat er diesen Ruf aber nicht bestätigt."
Genauso wenig bestätigt hat Werner aber auch seine vermeintliche Torgarantie, überhaupt erfüllte er die in ihn gesteckten Erwartungen nicht. So geriet der Stürmer in eine paradoxe Situation: Nachdem er in Deutschland zwar sportlich überzeugt hatte, dafür aber permanent angefeindet wurde, erlebt er in England das exakte Gegenteil. Werner enttäuscht auf dem Platz, wird aber dennoch gemocht.
Warum Timo Werner bei Chelsea-Fans beliebt ist
"Manchmal weiß ich nicht mal selbst, warum mich die Fans so sehr unterstützen. Von einem Stürmer will man Tore sehen, aber das gelingt mir teilweise nicht", sagte Werner neulich in einem Interview mit den klubeigenen Medien und betonte: "Es bereitet mir viel Spaß, vor diesen Fans zu spielen. Diese Unterstützung zu bekommen, macht mich bei vergebenen Torchancen oder in schlechten Zeiten stärker."
Aber woher kommt all die Zuneigung? "Dass er bei Chelseas Fans trotz allem beliebt ist zeigt, was für einen guten Eindruck er außerhalb des Platzes macht. Er wirkt sehr sympathisch, hat einen großartigen trockenen Humor, ist bescheiden und arbeitet hart", sagt Blogger Faulks. "Wir haben Sympathien für Spieler wie ihn. Spieler, bei denen man sieht, dass sie alles probieren, aber es trotzdem einfach nicht klappt." Warme Worte mit dem Unterton der beißenden Kritik.