Die Taucherbrille blieb dann doch im Rucksack. Jürgen Klinsmann hatte die Londoner Sportjournalisten ja schon mit seinem ersten Satz gehabt. "Ich kann ja zu Beginn mal eine Frage stellen", setzte Klinsmann, moosgrüner Polo, strohblonder Topfschnitt, Strahlelächeln, in leicht schwäbisch nasalierendem, ansonsten aber flüssigem und einwandfreiem Englisch zu Beginn seiner Vorstellungs-Pressekonferenz bei Tottenham Hotspur an: "Ich wollte nur wissen, ob es in London Tauchschulen gibt?"
Das Lachen im Saal war ebenso spontan wie ungläubig. Hatte da Jürgen Klinsmann, der "notorische Diver, den außerhalb Deutschlands alle hassen" (Evening Standard), der "neben Diego Maradona meistgehasste Spieler des Weltfußballs in England" (The Times) da tatsächlich gerade einen Witz auf seine Kosten gemacht?
Jürgen Klinsmanns angebliche Schwalbe im WM-Finale 1990 belastete die Beziehung
Ein Deutscher, ein Kraut, der über sich selbst lachen konnte? Das muss im Sommer 1994 für viele Engländer fern jeglicher Vorstellungskraft gewesen sein. Das Kriegsende war noch keine 75, sondern weniger als 50 Jahre her, auf beiden Seiten des Ärmelkanals überwogen die schlimmsten Stereotype und Vorurteile übereinander: Deutsche waren humorlose Krauts, hölzerne und kriegslüsterne Panzer, Engländer wunderliche Tommies, die im Fettnäpfchen geboren zu sein schienen.
Auch fußballerisch konnten Engländer und Deutsche nicht viel miteinander anfangen: Wembley 1966 schien im kollektiven Bewusstsein der Fußballfans in Deutschland und England nicht weiter weg zu sein als Rom 1990, obgleich mit gänzlich unterschiedlichen Bewertungen: Phantomtor hier, WM-Triumph dort. Notte magica, Andi Brehmes Elfmeter, Beckenbauers Schlendern durchs nächtliche Olimpico hier, Englands Halbfinalaus im Elfmeterschießen (wo sonst?) gegen diese vermaledeiten Krauts dort, Gary Linekers berühmtester Satz ( "... und am Ende gewinnen immer die Deutschen"), Jürgen Klinsmanns (angebliche) Schwalbe im Finale gegen den grätschenden Pedro Monzon, die zur Roten Karte des Argentiniers führte.
Kurz: Es war kompliziert. So war die Verwunderung auf allen Seiten groß, als Tottenham Hotspur im Juli 1994 die Verpflichtung von Jürgen Klinsmann verkündete. Ein Besuch auf der Yacht von Klubeigner Alan Sugar, zwei Millionen Dollar Ablöse an Monaco und rund eine Million Pfund Jahresgehalt für Klinsmann und der Deal war geritzt. Der Stürmer war gerade 30 geworden und hatte mit der Nationalmannschaft eine unglückliche WM in den USA hinter sich. Doch er hatte bis zum Viertelfinalaus fünf Tore erzielt. In seinen zwei vergangenen Saisons für die AS Monaco hatte er 29-mal in 65 Spielen getroffen. Klinsmann hatte ein gewisses Imageproblem in England, aber er war 1994 noch immer ein Stürmer von Weltrang.
Premier League war erst zwei Jahre alt, als Jürgen Klinsmann kam
Solche Spieler wechselten eigentlich nicht nach England in die erst zwei Jahre alte Premier League mit ihren damals 22 Mannschaften und nicht enden wollenden Saisons. Zwar warf die EM 1996, als der Fußball heim nach England kommen und dort auch eine Heimat finden sollte, schon ihre Schatten voraus. Zwar durften die englischen Klubs nach dem Bann infolge der Katastrophe von Heysel wieder an europäischen Wettbewerben teilnehmen. Zwar blieben die Hooligans zunehmend den Stadien fern und die Zuschauer füllten langsam wieder die Tribünen. Auch hatte der erste große Pay-TV-Vertrag den Klubs plötzlich einen gewissen Wohlstand beschert: doch die Briten blieben in den ersten Jahren der Premier League noch weitgehend unter sich: An der ersten Saison der neuen Liga hatten 1992/1993 gerade mal elf Legionäre teilgenommen, die nicht von den britischen Inseln stammten. Darunter Eric Cantona, der neue Superstar aus Frankreich.
Trotzdem: Kicker, die etwas auf sich hielten und nicht notorisch anders sein wollten, strebten auch 1994 noch vorwiegend Italien und das Lireparadies Serie A an. Frankreichs Topklubs waren auch ok, wer richtig gut kicken konnte ging vielleicht auch nach Spanien in die Primera Divison, die etwas Älteren suchten ihr Glück in Japan.
Legionäre in der Premier League kamen damals vorwiegend aus Schottland oder Skandinavien. England zog damals vor allem kantige Verteidiger und Mittelfeldspieler an. Eisenschädel, die auch neben den noch nicht so alten Althauern auf den Tribünen nicht aufgefallen wären. Die Premier League war die Heimat für ebenso geniale wie schwierige Exzentriker wie Eric Cantona und anderswo gescheiterte, abenteuerlustige Außenseiter wie Uwe Rösler, der sich im Frühjahr 1994 Manchester City angeschlossen hatte. Ein aktueller deutscher Nationalspieler war noch nie nach England gewechselt.
Jürgen Klinsmann antizipierte den Boom der Premier League
Auch Jürgen Klinsmann hatte nach zwei Jahren bei Arsene Wenger, mit dem er nicht richtig warm geworden war, in Monaco eigentlich zurück nach Italien gehen wollen: ein Wechsel zu Sampdoria Genua war im letzten Moment gescheitert, ein Flirt mit Milan im Sande verlaufen. Also wagte Klinsmann, schon ganz der spätere Visionär und Mann der unabhängigen Entscheidungen, das ganz große Abenteuer. "Nach zwei Jahren in Monaco, wo andere Dinge als Fußball wichtiger sind, hatte ich Sehnsucht nach einem Land, in dem Fußball gelebt und geliebt wird. Und ich hatte das Gefühl, dass in der Premier League etwas am Entstehen war", sagte Klinsmann später. Der Bäckersohn aus Göppingen antizipierte den Boom der Premier League, er wurde zum Pionier.
Also England, wo er gehasst wurde - im seriösen Guardian überschrieb der renommierte Reporter Andrew Anthony eine Geschichte tatsächlich mit dem Titel "Warum ich Jürgen Klinsmann hasse". Also London, wo er mit seinem geliebten Käfer Cabrio auf der falschen Straßenseite fahren musste. Also die Spurs, die in der abgelaufenen Saison als 15. den Abstieg um gerade mal drei Punkte vermieden hatten und wegen finanzieller Ungereimtheiten mit der Bürde von zwölf Minuspunkten in die neue Spielzeit starten sollten.
Doch Klinsmann, der offenbar schon immer die Angewohnheit hatte, bereits am Anfang eines Projekts dessen Ende vorsehen zu wollen, aber damals noch mit einem intakten Kompass für den richtigen Karriereschritt ausgestattet war, traf mit dem Wechsel zu Tottenham voll ins Schwarze. Was man bei seiner letzten Trainerstation Hertha BSC nicht unbedingt behaupten kann.
Teddy Sheringham hatte die Idee für Jürgen Klinsmanns Diver
Nachdem der Charmeur die Journalisten schon mit seinen ersten Worten auf seine Seite gebracht hatte - hätte das nicht funktioniert, hatte Klinsmann geplant, eine Taucherbrille aufzuziehen, um die Reporter zum Lachen zu bringen und so zumindest ein paar schöne Bilder zu produzieren (Facebook live gab es ja damals ebenso wenig wie Smartphones) - musste er nur noch die Fans besänftigen. Dabei half ihm Teddy Sheringham, damals noch nicht der Bayernzerstörer von 1999, sondern neben Klinsmann und dem jungen Sol Campbell der größte Star der Spurs, ausgestattet mit gutem Torriecher und feinem Humor. Sheringham hatte da so eine Jubelidee.
Im ersten Saisonspiel bei Sheffield Wednsday sprang Klinsmann in der 82. Minute hoch und köpfelte den Ball wuchtig ins Tor zum 4:2. Klinsmann drehte jubelnd ab, breitete die Hände auf Brusthöhe aus, blickte noch einmal kurz zu Sheringham - und fiel. Der Stürmer formerly known as The Diver machte den Diver. Sheringham tauchte hinterher, dann die halbe Tottenham-Mannschaft. Es war Liebe auf den ersten Dive.
Wenige Momente später nach Klinsmanns Jubelpremiere fiel das 3:4, das Spielende erlebte Klinsmann mit einer Gehirnerschütterung am Spielfeldrand: Nach einem veritablen Zusammenprall mit Sheffields Des Walker, einem dieser typischen englischen Eisenschädel-Verteidiger, hatte er vom Platz getragen werden müssen. Der Diver tauchte also nur zum Jubeln. Zur Verwunderung auch der Tottenham-Kurve stand Klinsmann, dessen Fallsucht in Wahrheit aber auch vor seiner Zeit in England nicht ausgeprägter gewesen war als bei den anderen Stürmern seiner Zeit, beim Heimspielauftakt gegen Everton auf dem Feld. Noch vor der Pause divte der Stürmer zweimal, auch am vierten Spieltag traf er doppelt. "Warum ich Jürgen Klinsmann liebe", leistete Andrew Anthony im Guardian Abbitte.
Vielleicht war Klinsmann nie so gut gewesen wie in jener Saison. Die Dynamik des Spiels in England, wo das Spiel damals noch mehr hin und herwogte als heute, lag ihm. Am Ende der Spielzeit hatte er 20-mal seinen Jubler gezeigt, oft nach richtig spektakulären Toren. Tottenham, das am Ende mit einer Geldstrafe und ohne Punktabzüge davongekommen war, beendete die Spielzeit als solider Siebter, der Diver wurde zum Premier-League-Spieler des Jahres gewählt. Zehn Jahre später schrieb Andrew Anthony, immer noch beim Guardian, über diese wunderbare Saison: "Kein Spieler hat in nur einem Jahr die Premier League so geprägt wie Jürgen Klinsmann."
1998 kehrte Jürgen Klinsmann zurück nach Tottenham - und rettete den Klub erneut
Dass Klinsmann bis heute als Legende Tottenhams gilt, hat auch mit einer typisch einsamen Klinsmann-Entscheidung zu tun, die damals niemand verstand, im Nachhinein aber genau die Richtige war. Die fabelhafte Saison 1994/1995 lief noch, als er seinen Wechsel zum FC Bayern in die Bundesliga bekanntgab. Tottenhams Klubeigner Alan Sugar warf im Affekt vor der Kamera Klinsmanns Trikot auf den Boden, trat drauf und schimpfte auf die Söldner im Fußball.
Doch Klinsmann hatte sich eine Ausstiegsklausel in seinen Dreijahresvertrag schreiben lassen, die er zog. "Tottenham war damals noch nicht die Spitzenmannschaft späterer Jahre, die Mannschaft war noch nicht weit genug, um um Titel kämpfen zu können. Und ich war neugierig, ob ich nach all den Jahren im Ausland noch nach Deutschland und in die Bundesliga passen würde", erinnerte sich Klinsmann später.
Obwohl die Antwort darauf nicht lange auf sich warten ließ, hielt es Klinsmann immerhin zwei Jahre bei Bayern und in Deutschland aus. 1997 wechselte er doch zu Sampdoria Genua in die Serie A, ein halbes Jahr später rief Alan Sugar wieder an. Tottenham war wieder im Abstiegskampf. Der Klubeigner, der ab 2005 bei der TV-Show The Apprentice Donald Trumps britischer Counterpart werden sollte, aber ansonsten nichts mit dem heutigen US-Präsidenten gemein hat, war nicht nachtragend. Klinsmann packte seine Sachen in seinen Käfer und überredete noch seinen besten Freund zu Inter-Zeiten, Nicola Berti, mitzukommen nach London. Der Mittelfeldspieler sorgte für Stabilität im Spiel, der Stürmer für die Tore. Insgesamt neun Treffer gelangen Klinsmann in seinem letzten Halbjahr als Profi, allein vier (!) beim 6:2 im entscheidenden Abstiegsgipfel in Wimbledon.
Klinsmann verließ die White Hart Lane, Tottenham und die Premier League durchs ganz große Tor.