Von Jörg Allmeroth aus London
Man muss es einmal mit eigenen Augen gesehen haben. Wenn Roger Federer an einem der Spieltage von Wimbledon über die Tennisanlage an der Church Road geht, eskortiert von einem Trupp breitschultriger Bodyguards, dann scheint das Leben stillzustehen in diesem Grand Slam-Paradies. Dann verengt sich die ganze Welt an diesem berühmten Schauplatz nur noch auf ihn, auf King Roger, auf den größten Champion, den das Tennis je gekannt hat. Aber es ist kein Unnahbarer, der sich durch die Menschenmassen schiebt. Keiner dieser Egoshooter, die es inzwischen im professionellen Sport zur Genüge gibt. Keiner, der die eigene Bedeutung wie eine Monstranz vor sich her trägt. "Ich bin glücklich, wenn meine Fans glücklich sind", ist so ein Satz, den Federer sagt. Nicht, weil es sich gut anhört. Sondern, weil das er ist. Der Mensch Federer. Einer, mit dem man einfach gerne am Abend ein Bier oder ein Gläschen Wein trinken würde.
Federer ist der herausragende Einzelsportler dieser Epoche, er hat gerade zum achten Mal Wimbledon gewonnen, es ist ein nun einsamer Rekord an dem Schauplatz, der im Tennis alles noch ein bisschen größer macht als anderswo. Er hat seinen Sport, das Tennis, weit über dessen Grenzen hinaus transportiert und größer gemacht. Er, der Tennis-König, wird bewundert von echten Königen und von Staatsoberhäuptern, er tauscht sogar wie selbstverständlich ein Küsschen mit Kate aus, der Gemahlin des Prinzen William, wie am Sonntagabend nach seinem historischen Sieg. Er wird von der Stargeigerin Anne-Sophie Mutter gerühmt, man müsse seiner "poetischen Spielweise verfallen". Er ist der Held der ganzen Welt, so scheint es.
Keine Allüren, keine Affären
Aber es gibt eben mit völliger Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit auch den anderen Federer, überall dort, wo er noch seine Centre Court-Einsätze hat. In Wimbledon, aber etwa auch bei den Gerry Weber Open - wo er kürzlich den neunten Titel gewonnen hat - kann man Federer beobachten, wie er nach einem Match Hunderte Autogramme schreibt, mit Fans für Selfies posiert, sich mit ihnen austauscht wie ein Nachbar über den Zaun. Ein Superstar zum Anfassen, es klingt wie eine hohle, abgedroschene Phrase, aber dieser 35-jährige Super-Champion ist es. Federer war noch gar nicht so erfahren, so reif, so abgeklärt und lebensweise, als er einmal seine Maxime verkündete: "Es ist nett, wichtig zu sein. Aber noch wichtiger, nett zu sein." Er hat diese Einstellung auch nie verraten. Es gibt keine Allüren bei ihm, auch keine Affären.
In diesem Jahr ist Federer endgültig zum Mythos geworden. Für seine Fans sowieso. Aber auch für Medien, Profikollegen und ehemalige Größen des Tennis. 2016 hatte er sich in Wimbledon am Knie verletzt, er entschied sich dann zu einer radikalen Lösung. Er beendete die Saison, zog sich zurück, kurierte die Blessur aus. Und dann passierte etwas, was niemand für möglich gehalten hatte. Federer kehrte zu Saisonbeginn zurück, nach sechs Monaten ohne Wettkampftennis, und gewann auf Anhieb bei seinem Comeback den 18. Grand-Slam-Titel in Melbourne, gegen seinen alten Weggefährten Rafael Nadal. Es war ein Märchen, ein Wunderding. "Eine Story wie aus Hollywood", wie Federer selbst sagt. Er hat selbst noch immer alle Mühe, sich das Unerklärliche zu erklären. Manchmal wacht er auch jetzt noch morgens etwas verwirrt auf, weil er nicht glauben kann, was er da geschafft hat. "Du denkst: Ist das so passiert? Oder ist es ein Traum gewesen", sagt Federer, "und dann, wenn du weisst, es stimmt alles, ist wieder dieses unglaubliche Glücksgefühl da. Und es geht nicht weg." Niemals seien die Emotionen nach einem Erfolg so stark, so intensiv und so nachhaltig gewesen wie nach jener Australian Open-Nacht. Noch stärker als jetzt beim Erfolg in Wimbledon sogar.
Die Leidenschaft als Beruf
Jetzt liegen sie ihm natürlich alle zu Füßen. Mehr denn je. Auch jene, die ihm auch schon mal diskret nahegelegt hatten, doch vielleicht endlich die Freuden des Ruhestands zu genießen. Der frühere Superflegel und Weltranglisten-Erste John McEnroe erhob Federer in Melbourne und nun auch in Wimbledon zum "Tennisgott", dabei hatte er vorher getönt, er glaube nicht, "dass Federer noch mal einen großen Titel gewinnen kann." Federer? "Er ist der Größte aller Zeiten", sagt Boris Becker, bis vor kurzem noch Chefcoach des Federer-Rivalen Novak Djokovic. Federer war von Becker nie abgeschrieben worden: "Wenn du gegen einen nicht wetten willst, dann gegen Roger."