Von Jörg Allmeroth aus Wimbledon
Als Sebastian Ofner vor zwei Wochen im Flieger nach London saß, hatte er genau zwei Tennishemden und eine Hose in seinem Koffer dabei. Das leichte Reisegepäck kam nicht von ungefähr: Ofner hatte noch nie ein ATP-Turnier bestritten, noch nie bei einem Grand Slam aufgeschlagen, nicht mal in der Qualifikation. Und er hatte noch nie auf Rasen gespielt, keine einzige Sekunde. Wimbledon kannte er nur aus dem Fernsehen. "Meine Erwartung war bei Null", sagt Ofner, "ich dachte mir, es wird in jedem Fall ein schöner Ausflug."
Doch inzwischen ist der 21-jährige Österreicher nichts weniger als die größte Überraschungsfigur bei den Wimbledon-Festivitäten des Jahres 2017, der Hauptdarsteller einer dieser verrückten Nobody-Geschichten, die es auch im ehrwürdigen All England Lawn Tennis and Croquet Club immer noch gibt.
Letztes Jahr war es der Brite Marcus Willis, der sich im Wimbledon-Wunderland zum Rendezvous mit Superstar Roger Federer verabredete - und nun eroberte Ofner, der Grasneuling mit Weltranglisten-Platz 217 die Schlagzeilen: "Ich bin mitten im Traum meines Lebens", sagt der erfrischende Rasenflüsterer Ofner, der an diesem Samstag gegen Alexander Zverev anzutreten hat, den 20-jährigen Hamburger, der als kommender Branchenführer gilt.
Vagabund mit Falco-Frisur
Seinen größten Coup landete der hochgewachsene, dennoch geschmeidige Ofner im Dämmerlicht des Donnerstagabends, als er den an Nummer 18 gesetzten Amerikaner Jack Sock in fünf harten Sätzen niederrang. Es war eine Achterbahnfahrt mit 2:0-Satzführung, 2:2-Gleichstand und einem fulminanten Schlussspurt des Steirers, der sich bisher eher in der Zweiten oder Dritten Liga des Welttennis umherbewegt hatte.
Wie ein Vagabund sah er bei diesem größten Auftritt seiner jungen Karriere auch aus, der Youngster mit der streng gegelten Falco-Frisur - und nicht wie eine der durchgestylten Szenegrößen: Schuhe und Racket von Babolat, die Socken von Puma, die Hose von Erima, die T-Shirts von Adidas und Asics, es wirkte, als habe er sich die Ausrüstung noch schnell vorher zusammengekauft. "Sponsoren habe ich keine. Wie auch, mich kannte doch keiner", lächelte Ofner, als er später mit Reportern im Millenium Building zusammensaß, "aber das kann sich ja jetzt ändern."
Wie sich überhaupt einiges gedreht hat in den letzten 14 Tagen. Für Ofner, für seine Karriere. Und für die Wahrnehmung daheim in Österreich. "Die Leute haben ihn zum ersten mal auf dem Schirm. Das hat er auch mehr als verdient", sagt Dominic Thiem, der österreichische Top-Ten-Mann. Er kennt Ofner bestens, schließlich ist Thiems Vater Wolfgang der Coach des neuen Shooting-Stars von Wimbledon, das Duo arbeitet in der renommierten Bresnik-Akademie zusammen. Erst seit zwei Jahren konzentriert Ofner seine Sinne ganz aufs Tennis, vorher machte er erst noch sein Abitur: "Man weiß nie, was kommt. Ich wollte eine Absicherung haben."
Überwältigt vom Grand-Slam-Tempel
Beim österreichischen Bundesheer dient er gerade als Sportsoldat auf Zeit, und der Korporal Ofner (Hauptgefreiter) schlägt sich nun auf den grünen Tennisfeldern der Träume in London mit nie dagewesenem Erfolg durch. In der letzten Qualifikationsrunde in Roehampton lag er gegen den Briten Jay Clarke mit 0:2-Sätzen zurück, schaffte dann aber doch noch ein Comeback - und den Sprung ins wahre Wimbledon, an die Church Road.
Es ist nun alles Neuland für ihn, er kennt Wimbledon ja nur von Erzählungen anderer, auch aus Presse, Funk und TV. Er ist auch einigermaßen überwältigt vom Grand-Slam-Tempel, Ofner sagt, die Anlage erscheine ihm "pompös": "Es ist so groß hier, so schön. Und man kann haben, was man will." Er klingt wie ein Tourist, der ein Zwei-Sterne-Hotel gebucht hat. Und in einem Fünf-Sterne-Palast angekommen ist.
18 Sätze hat er bereits in den Knochen, viel Tennis, viel Kampf, viel Abenteuer, viel Drama. Aber er ist noch hellwach, steht "unter Strom", will jetzt auch Zverev, den Generationskollegen, angemessen ärgern. "Es wird das schwerste Match überhaupt für mich. Aber auch das schönste", sagt Ofner, "ich habe nichts mehr zu verlieren."
Auch nicht die bereits verbuchten Einnahmen für Wimbledon-Runde 3, gut 100.000 Euro. Also mehr als doppelt so viel wie bisher in seiner ganzen Karriere. "Es ist schon eine verrückte Sache, das alles hier", sagt Ofner, "es ist etwas, was ich nie vergessen werde."