Vor zwanzig Jahren verblüffte und verzauberte sein Siegeslauf die Tenniswelt, das Märchen des brasilianischen Nobodys Gustavo Kuerten. Am 8. Juni 1997 krönte er seine Pariser Wundermission, nach Siegen zuvor gegen Stars wie Thomas Muster, Andrei Medvedev und Yevgeny Kafelnikov schlug er auch noch im Finale den spanischen Sandplatz-Großmeister Sergi Bruguera. Was diese Geschichte mit dem Damenwettbewerb der French Open 2017 zu tun hat? Erstaunlich viel. Denn auch jetzt kann wieder ein Profi das allererste Turnier der ganzen Karriere im Sand von Roland Garros gewinnen, genau wie damals Kuerten, auch ungesetzt wie der sympathische Wuschelkopf aus Florianopolis. Und, Laune des Schicksals: Die junge Frau, die das schaffen kann, die 20-jährige Lettin Jelena Ostapenko, sie ist an keinem anderen Tag geboren worden als an jenem 8. Juni 1997.
Ostapenko schießt aus allen Rohren
Mit Kuerten kündigte sich seinerzeit eine neue Ära im Herrentennis an, jedenfalls auf den Sandplätzen der Szene. Bei Ostapenko, der aktuellen Nummer 47 der Weltrangliste, muss man noch vorsichtig sein mit steilen Prognosen und Prophezeiungen, aber die Art und Weise, wie sie sich durch diese French Open geschlagen hat und auch noch einmal beim 7:6 (7:4), 3:6, 6:3-Halbfinaltriumph gegen Timea Bacsinszky auftrumpfte, war mehr als imponierend - und nötigte selbst Branchenprominenz wie Martina Navratilova ("Eine Spielerin mit Riesenzukunft") höchsten Respekt ab. An ihrem 20. Geburtstag war sie schlicht die bessere Spielerin im Feiertags-Duell mit Bacsinszky, die 28 Jahre alt wurde. Am Samstag trifft sie im Endspiel auf die Rumänin Simona Halep.
Unbeeindruckt von den Umständen, von der bisher größten Herausforderung in ihrer Karriere und der verlockenden Finalchance, spielte die Lettin mit Courage und Biss auf. "Es ist schwer, gegen sie einen Rhythmus zu finden", sagte Bacsinszky später, "sie gibt einem mit dieser Aggressivität nur ganz wenig Zeit und Reaktionschancen." Meist war Bacsinszky am Ende nur Zuschauerin der Centre-Court-Handlung - bei 50 Gewinnschlägen und 45 Fehlern der Lettin. "Ich habe den Druck schon gespürt. Ich wollte unbedingt die Möglichkeit nutzen", sagte Ostapenko später, die Siegerin dieses Break-Festivals mit 15 Aufschlagverlusten insgesamt, "das Wichtigste war, die Emotionen zu kontrollieren."
Erste ungesetzte French-Open-Finalistin seit 1983
Für Bacsinszky endete das French-Open-Gastspiel wie vor zwei Jahren im Halbfinale, vielleicht war der Frust nun aber noch ein bisschen größer. Schließlich stand auf der anderen Seite des Netzes keine Serena Williams, sondern eine ungesetzte Newcomerin. Bacsinszky kämpfte verbissen in diesem Vorschlussrundenmatch, sie kämpfte auch dann noch, als sie mit einem dick bandagierten rechten Oberschenkel über den Platz rennen musste - seit dem siebten Spiel im ersten Satz. Sie blieb freilich weitgehend die Getriebene in diesem Duell, konnte nur selten ihr flexibles, variables Spiel ins Geschehen einbringen.
Immerhin glich die Romande den 0:1-Satzrückstand energisch aus, machte auch im dritten Durchgang noch einmal ein 1:3-Defizit zum 3:3 wett. Doch die letzten drei Spiele gingen alle an die wuselige Ostapenko, die sich durch alle eigenen Fehler und Irrtümer nicht von ihrem Powerspiel abbringen ließ. Die Überraschungsfinalistin, die als erste ungesetzte Spielerin seit Mima Jausovec (1983) ins Endspiel von Paris einzog, hat seit Turnierbeginn nun sage und schreibe 245 Winner auf ihrem Konto aufaddiert, ein Wert, den sonst nur, wenn überhaupt, eine vom Schlage Serena Williams erreicht. Gute Nerven und Ausdauerkraft besitzt die Hobby-Turniertänzerin auch: Schon zum vierten Mal in diesem Turnier siegte sie über die volle Distanz von drei Sätzen, im Achtel- und Viertelfinale waren ihr solche Erfolge gegen Samanatha Stosur (Australien) und Caroline Wozniacki (Dänemark) gelungen.
Die French Open im Überblick