Von Björn Walter
Contra: Thiem kann den Everest nicht bezwingen
Dominic Thiem hat mit dem Sieg gegen Novak Djokovic einen 8000er bestiegen. Dass er nun auch noch Rafael Nadal, den Mount Everest unter den Sandplatzspielern, bezwingt, kann ich mir nur schwer vorstellen. Die Begründung lieferte Thiem gleich selbst: Nach seinem Triumph gegen den "Djoker" freute er sich darüber, jeden der "Big Four" nun mindestens einmal bezwungen zu haben. Fügte aber umgehend hinzu, dass ihm bisher noch keine zwei Siege in Folge gegen diese Großkaliber gelungen seien.
Die Erinnerungen an das Masters-Turnier in Rom sind noch frisch: Thiem hatte Nadal mit einer famosen Vorstellung in seine Einzelteile zerlegt, um nur einen Tag später gegen Djokovic selbst unter die Räder zu geraten. Möglicherweise hat der junge Österreicher daraus seine Lehren gezogen. Dennoch sollte er Nadals matte Vorstellung im Foro Italico nicht als Referenz heranziehen.
Faktor Chatrier
Unbenommen. Thiem war der bessere Spieler in diesem Match und hat völlig verdient gewonnen. Das Duell auf dem Court Philippe Chatrier findet allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen statt. Auf dem Campo Centrale in Rom ist der Auslauf viel geringer als auf dem größten Sandplatz der Welt. Für Thiems permanentes Trommelfeuer waren diese kompakten Bedingungen ideal. Verteidigungskünstler Nadal findet auf dem Chatrier jedoch ein Terrain vor, das ihm ermöglicht, viele Bälle des Angreifers zu neutralisieren.
Zudem verfügt der Spanier über einen gewaltigen Erfahrungsvorsprung. Nadal steht bereits zum zehnten Mal im Halbfinale von Roland Garros. Das Erreichen dieser Runde war in der Vergangenheit auch immer gleichbedeutend mit dem Titelgewinn in Paris. Für Dominic Thiem ist es hingegen erst die zweite Halbfinal-Teilnahme überhaupt bei einem Major. Mit dem Centre Court in Paris machte er gar erst einmal Bekanntschaft - 2014 verlor er ausgerechnet dort gegen Rafael Nadal.
Statistiken sind vielleicht Schall und Rauch, die momentane Form des "Stiers von Manacor" ist ein Naturereignis. Nadal bringt wieder mehr Spin auf die Kugel. Auch Länge und Intensität in den Grundschlägen erinnern an alte Glanzzeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass "Rafa" am Freitag permanent aus der Defensive heraus agieren wird. Eine Thiem-Dominanz, wie zuletzt in Rom, sehe ich nicht. Vielmehr rechne ich damit, dass Nadal seinen Gegner immer wieder in die passive Rolle drängt.
Mit 4000 Umdrehungen über Schulterhöhe
Die Wetterprognose ist zwar nicht perfekt für einen hohen Ballabsprung, dennoch dürfte der Nadal-Topspin bei vorausgesagten 24 Grad Celsius besser greifen als am kühlen Viertelfinal-Mittwoch. Keine guten Nachrichten für Thiems einhändige Rückhand, die bei Dauerbeschuss über Schulterhöhe nicht immer stabil erscheint. Wird es also warm und trocken, hat der 23-Jährige kaum eine Chance gegen das "Sandplatz-Monster" von der Baleareninsel.
Die klimatischen Bedingungen sind jedoch nur ein Randaspekt. Robin Söderling und Novak Djokovic werden vorerst die einzigen bleiben, die Nadal in dessen "Wohnzimmer" bezwingen konnten. Der höchste Gipfel unter den Sandplatzspielern bleibt für Dominic Thiem in Roland Garros eine zu große Herausforderung. Mit all seiner Klasse und dem Selbstvertrauen der letzten Monate wird Rafael Nadal am Freitag in sein zehntes French-Open-Finale einziehen!