Wenn die Chiefs am Sonntagabend (19 Uhr) die Ravens empfangen, dann treffen in diesem Spiel - ähnlich wie auch in der Nacht zwischen den Chicago Bears und den Los Angeles Rams - zwei Welten aufeinander.
Die wohl beste Offense der NFL gegen die vielleicht beste Defense. Egal, welche Statistik man sich angucken mag, KC auf der einen und Baltimore auf der anderen Seite sind immer ganz vorne mit dabei. Punkte pro Spiel? Nummer eins gegen Nummer eins. Yards pro Play? Nummer eins gegen Nummer eins. Yards pro Spiel? Nummer drei gegen Nummer eins. Touchdowns pro Spiel? Nummer eins gegen Nummer zwei. DVOA? Nummer eins gegen Nummer vier.
Das Aufeinandertreffen dieser beiden Elite-Units wird auch über die beiden Fanlager hinaus mit Spannung erwartet. Das Arrowhead Stadium verspricht am Sonntag einmal mehr zu einem Ort des Spektakels zu werden. Und doch bietet die andere Seite des Spiels, die Offense der Ravens gegen die Defense der Chiefs, fast genau so viel Material zur Aufregung.
Der Grund dafür: Lamar Jackson.
Der 21-Jährige sorgt für Begeisterung - jetzt auch auf dem NFL-Level. Jackson war einer der größten College-Stars dieses Jahrtausends, seine außergewöhnliche Spielweise kombiniert mit seinen athletischen Fähigkeiten gab es selten bis nie zuvor. In seinen ersten drei Starts in der NFL brach er (zusammen mit Running Back Gus Edwards und der gesamten Ravens-Offense) bereits zahlreiche Rekorde und holte dabei genau so viele Siege (drei) wie all jene Quarterbacks, die ihm im April noch vorgezogen worden waren, bislang in deutlich mehr Starts feiern konnten.
Jackson spielte keineswegs fehlerfrei. In den drei Spielen hat er bislang genau so viele Interceptions wie Touchdowns auf dem Konto, zudem kommt er bereits auf fünf Fumbles. Mit den Bengals, Raiders und Falcons erwischte er obendrein drei Gegner zum Start, die sich ein Quarterback kaum besser hätte aussuchen können.
Und doch dürfte der Ex-Heisman-Gewinner zumindest ein Ziel schon erreicht haben: Jackson wird als Quarterback angesehen. Zumindest vorerst. Es ist ein Ziel, für das der Youngster viele Jahre kämpfen musste.
Sechsmal die Woche Training mit acht Jahren
Jacksons Vater starb als er noch ein Kind war. Aufgezogen wurde Lamar alleine von seiner Mutter - und sie war es auch, die ihren Sohn zum Football brachte. Schon früh erkannte Felicia Jones das riesige athletische Potenzial, das in ihrem Sprössling schlummerte. Sie persönlich trainierte Jackson und seinen Bruder fast jeden Tag im Garten vor der Wohnung - Lamar war acht, als er in Tackling Drills seiner erwachsenen Mutter ausweichen sollte.
Darüber hinaus organisierte sie den Coach Wan Warren für Jackson. Die Bedingung für Warren: Lamar sollte lernen den Ball zu werfen, nicht ihn zu fangen. Die Vision war klar: Jackson ist ein Quarterback.
"All die Geschichten stimmen", erklärt Warren gegenüber ESPN. "Sie hatte die Rolle von Mama, Papa und Coach gleichzeitig inne, bevor sie wirklich wusste, was sie da überhaupt macht. Sie war die Erste, die Bälle mit ihm gefangen hat. Und wenn es ums Tackling ging und Mum tacklen musste, dann hat sie eben getacklet."
Seit Jackson acht Jahre alt war, stand sechs Tage die Woche Training auf dem Programm, nur samstags bekam der Junge eine Pause. Ob angemessene Förderung oder übertriebener Drill, rückblickend hat sich das harte Training für Jackson wohl ausgezahlt. "Sein niedriger Körperschwerpunkt ist seine große Stärke", meint Rick Swain, Jacksons High-School-Coach. "Er ist so schwer zu Boden zu bringen, weil er von Kindheit an so eine großartige Balance hatte. Das dürfte das Geheimnis für seinen Erfolg sein."
Quarterback und sonst gar nichts
Swain coachte an der Boynton Beach Highschool und war von der ersten Sekunde an begeistert vom jungen Jackson. Der Coach, der jahrelang auf eine Shotgun-Offense mit engen Formationen gesetzt hatte, baute sein komplettes Scheme um: Um Jacksons athletische Fähigkeiten voll ausnutzen zu können, lief Boyton Beach plötzlich eine Spread-Offense aus der Pistol.
Swain war so fasziniert von den Fähigkeiten seines Schützlings, dass er diesen unglaublich schnellen und groß gewachsenen Jungen am liebsten zusätzlich bei langen Passing Downs in der Defense einsetzen wollte. Die Idee lebte so lange, bis Jacksons Mutter Wind davon bekam. "Coach, ich will nicht, dass irgendjemand auf falsche Gedanken kommt", erinnerte Jones Swain eindrücklich.
Ihre Botschaft an den Coach: Jackson ist ein Quarterback. Und sonst nichts.
Selbst auf der Highschool endete Jacksons Privattraining zuhause nicht. Es wurde stattdessen härter. Als seine Teamkollegen ihn an einem Sonntag zu einem seiner Familien-Workouts begleiteten, endete dieses für viele unschön: Manche mussten sich übergeben, einige das Training vorzeitig abbrechen, erinnert sich Jacksons damaliger Teamkollege Trequan Smith. Jacksons Mutter, die weiterhin stets mittrainierte, blieb bei ihrem Mantra: "Ich werde nichts von euch verlangen, was ich nicht selbst kann."
Erst Versprechen, dann College-Zusage
Als für Jackson die Auswahl des Colleges anstand, zeigte sich Jones ebenso hart. Erst als Louisvilles Head Coach Bobby Petrino Jackson persönlich besuchte und ihm und seiner Mutter versicherte, der Youngster werde ausschließlich als Quarterback eingesetzt, gab es eine Zusage.
Als die Cardinals wenige Monate später nach Problemen in den Special Teams einen neuen Punt Returner suchten und ihren athletischsten Spieler in dieser Rolle ausprobieren wollten, war diese Idee schneller begraben als sie entstehen konnte: Nur wenige Minuten nach der ersten Trainingseinheit, in der Jackson einen Punt gefangen hatte, hatte Petrino einen Hörer am Ohr, aus dem die Stimme von Jacksons Mutter schallte. Felicia Jones erinnerte den Coach an sein Versprechen: Jackson ist ein Quarterback.
Einige mögen die Weigerungen von Jackson und seiner Mutter für übertrieben halten. Doch gerade angesichts dieser Vehemenz und Jacksons unbestreitbar großen Erfolgen am College mag man kaum glauben, dass Jacksons Position Anfang des Jahres für große Teile der Öffentlichkeit immer noch ein Fragezeichen darstellte.
Die eigene Athletik als Ablenkung
In seinen zwei Jahren als Starter für die Cardinals hatte der 21-Jährige für mehr als 7.000 Yards und 57 Touchdowns geworfen, war für mehr als 3.500 Yards und 39 Touchdowns gelaufen, hatte einmal die Heisman Trophy für den besten College-Spieler gewonnen und war einmal Heisman-Finalist gewesen - und doch verglichen ihn Experten wie ESPNs Bill Polian vor dem Draft mit Spielern wie Antonio Brown und Julio Jones.
"Als die Leute mit dieser Wide-Receiver-Sache um die Ecke kamen, dachte ich einfach: 'Ich muss diesen Leuten zeigen, dass ich ein Quarterback bin'", erklärte Jackson. Die Folge: Der wahrscheinlich athletischste Spieler der gesamten Draft-Klasse versuchte im Vorfeld des Drafts von seiner Athletik abzulenken. So lief Jackson keinen 40-Yard-Sprint. Weder bei der NFL-Combine, noch bei seinem Pro Day.
Zahlreiche Teams hatten zudem offenbar Probleme, Kontakt zu Jacksons Mutter aufzunehmen, die als Managerin für ihren Sohn fungiert. Gerüchten zufolge handelte es sich dabei um Teams, die Jackson in anderen Positionen wie Wide Receiver oder sogar Running Back ausprobieren wollten. Ob diese Darstellung tatsächlich zutrifft? Fraglich. Doch es entspricht dem Narrativ, dem Jones und ihr Sohn bereits seit Jahren folgten: Jackson ist ein Quarterback.
Jackson als Quarterback: Voller Fokus auf das Running Game
Auch in Baltimore kam Jackson zunächst allenfalls sporadisch als Quarterback zum Einsatz. Im Training Camp und in der Pre-Season wurde der 21-Jährige zwar ausschließlich als Signal Caller eingesetzt. Mit Joe Flacco als Starter blieb Jackson bis zu dessen Hüftverletzung an Spieltagen allerdings nur die Rolle als eine Art Quarterback-Running-Back-Wide-Receiver-Hybrid.
Doch seit drei Wochen ist Jackson nun, mehr notgedrungen als aktiv ausgewählt, Baltimores Starting Quarterback. Und so rosig die Umstände für den Rookie in dieser Zeit auch gewesen sein mögen, die positiven Aspekte, die die radikal veränderte und an Jacksons Spielstil angepasste Philosophie der Ravens mit sich bringen, lassen sich nicht abstreiten.
In allen drei Spielen verbuchte das Team von Head Coach John Harbaugh mehr als 200 Rushing Yards, insgesamt stehen die Ravens über nur drei Wochen bei 716 Yards. Mit Flacco under Center waren es in den ersten neun Spielen der Saison mit 834 Rushing Yards nicht viel mehr.
Durch das Running Game können Jackson und die Ravens zudem die Uhr brutal kontrollieren. Gegen die Bengals hatte Baltimore mehr als 34 der 60 Minuten Ballbesitz, gegen die Raiders waren es mehr als 38 Minuten und gegen die Falcons sogar fast 40 Minuten, inklusive mehr als 24 Minuten in der zweiten Halbzeit.
Lamar Jackson bei den Ravens: Eine Offense ohne Limit?
"Es ist klar, dass uns die Offense geholfen hat. Die Zeit, die wir den Ball hatten, hat uns fit und frisch gehalten", erklärt Safety Eric Weddle. "Ich habe den Jungs am Ende des Spiels gesagt: 'Wir haben jetzt 15 Minuten herumgesessen, also gewinnen wir das Ding jetzt auch!'"
"Es stimmt, dass die beste Defense gute Offense ist, egal ob du viele Punkte erzielst oder ob du die Uhr kontrollierst", glaubt auch Harbaugh. "Die Tatsache, dass unsere Defense so wenige Plays spielt, dass die Spieler frisch sind und ihre Gegenspieler jagen können, macht einen großen Unterschied."
Mit den Chiefs wartet am Sonntag nun ein neues Kaliber auf Jackson und die Ravens - das weiß auch Harbaugh. Kann diese, dem generellen Trend der NFL geradezu entgegen laufende, Offense mit Jackson under Center auch dann bestehen?
"Es ist eine unkonventionelle Offense. Eine Offense, von der glaube ich keiner von uns so wirklich weiß, was sie erreichen kann", zeigt sich auch Harbaugh gespannt. Alles scheint möglich für Baltimore in den nächsten Wochen, vieles ist ungewiss.
Nur eine Sache scheint klarer denn je zu sein: Jackson ist ein Quarterback.