Der Superstar der einstigen 49ers gilt bei vielen als bester Spieler der NFL-Geschichte und hat dies vor allem harter Arbeit zu verdenken. Er revolutionierte das Spiel und setzte Maßstäbe, an die noch heute kaum jemand herankommt. Einzig beim Aufhören hatte er so seine Probleme.
Dieser Artikel wurde erstmals im April 2015 veröffentlicht. Alle weiteren Legenden-Geschichten findet Ihr in unserem Archiv.
Jeder Sport hat einen Spieler, der über alle Zeiten herausragt und Synonym ist für sein Spiel. Basketball hat Michael Jordan, Baseball Babe Ruth und Eishockey Wayne Gretzky. Im Football ist es nicht nur Tom Brady, sondern nach Meinung vieler auch Jerry Rice, der legendäre Wide Receiver der San Francisco 49ers in der Ära von Head Coach Bill Walsh. Der Mann, der alle relevanten Receiving-Rekorde hält und drei Ringe an der Hand hat.
Der größte Unterschied zu vielen anderen Stars in der NFL ist, dass Rice nicht nur in einem Team herausragte, sondern gleich zwei Generationen der Niners dominierte. In den 80ern war er der Go-To-Guy von Quarterback-Legende Joe Montana und verhalf diesem zu den Ringen drei und vier seiner einzigartigen Karriere.
Doch nach Montanas Ende in der Bay Area war für Rice noch nicht Schluss. Er schaffte es, den Erfolg zu bestätigen und auch mit Steve Young Mitte der 90er eine Championship zu gewinnen. Und wer weiß? Mit etwas mehr Glück und ohne die berüchtigte "Tuck Rule" wäre eventuell im darauffolgenden Jahrzehnt auch noch ein Titel mit den Oakland Raiders drin gewesen.
Jerry Rice: Steinewerfen auf dem Bau
Jerry Rice wird von seinen Weggefährten immer wieder als harter Arbeiter bezeichnet. Jemand, der nie aufhörte, immer der Erste und der Letzte auf dem Trainingsplatz war. Ein akribischer Perfektionist eben. Diese Lebenseinstellung kam nicht von ungefähr. Sie entstand aus der Notwendigkeit heraus.
Rice wuchs in Crawford/Mississippi auf, einem kleinen Dorf mitten im Nirgendwo. Sein Vater war nebst anderen Tätigkeiten Maurer und arbeitete jeden Tag hart, um seine Familie zu versorgen. Im Teenager-Alter nahm er schließlich seine Söhne mit auf den Bau, um bei der Arbeit zu helfen. Jerrys Aufgabe war es, die Steine zum Einsatzort zu liefern.
Wie ging das am schnellsten? Indem man sie warf. Also warf er sie teils zwei Stockwerke hoch bzw. fing sie dort oben. Das, wie er selbst anmerkt, hat wohl zur Entwicklung seiner herausragenden Hände geführt. Die Arbeit auf dem Bau prägte seine nie nachlassende Motivation, jeden Tag alles aus sich herauszuholen und nie nachzulassen.
Folglich lag es für den heute 61-Jährigen nahe, schon früh in seiner NFL-Karriere weiter zu schuften. Er überließ nichts dem Zufall und quälte sich täglich für den Erfolg. Um die optimale Fitness zu erlangen, nutzte er das ultimative Fitnessterritorium: "The Hill". Ein Laufweg am Edgewood Park in der Nähe von San Francisco wurde sein Trainingsparcours. Man rennt dabei mehr oder weniger 2,5 Meilen nur den Berg rauf, idealerweise ohne zu stoppen.
Rice und Running Back Roger Craig haben dieses Gebiet für sich entdeckt und daraus eine Trainingsroutine gemacht. Noch heute gilt diese Strecke als Willensbeweis, Generationen von Niners sind dort schon gelaufen. Viele jedoch mit Problemen: Selbst Terrell Owens, sein direkter Nachfolger bei den Niners, musste Pausen einlegen, um auf die Spitze zu gelangen.
Jerry Rice auf dem College: "The Satellite Express"
Nach seiner High-School-Zeit ging es aufs College Mississippi Valley State, damals in der Division I-AA beheimatet - gewissermaßen die 2. Liga des College Footballs. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, für Furore zu sorgen und zusammen mit Quarterback Willie Totten den "Satellite Express" zu bilden.
Benannt nach Totten, dessen Spitzname "The Satellite" war, hatte Archie Cooley, der damalige Head Coach der Delta Devils, eine revolutionäre Idee. Er implementierte eine No-Huddle Offense Anfang der 80er, also fast drei Jahrzehnte vor Leuten wie Speedfanatiker Chip Kelly. Mit dieser Philosophie pulverisierte das Team seine Gegner nach Belieben und stellte zahlreiche NCAA-Division-I-AA-Rekorde auf.
Rice - Spitzname: "World", weil es keinen Pass auf der Welt gab, den er nicht fangen konnte - war dabei die zentrale Figur im Receiving Corps. Er war es, der in Fünf-Receiver-Sets meist alleine auf einer Seite stand. Mit dieser verrückten Formation erreichte Cooley immer einen Matchup-Vorteil: Entweder musste der Gegner Rice Mann-gegen-Mann covern, was keiner konnte. Oder er war mit zwei bis drei Mann gedeckt, was irgendjemanden auf der anderen Seite ungedeckt ließ. Eine Formation, die damals unmöglich zu verteidigen war, zumal das Tempo zu hoch war, um personelle Anpassungen vorzunehmen.
Jerry Rice: Eine Nacht im Hotel verändert alles
In den Augen vieler war Rice aber eben nur der Star einer zweitklassigen Schule. Im Rahmen der Scouting Combine 1985 lief er zudem nur eine überschaubare Zeit im 40-Yard-Dash und sorgte somit für wenig Begeisterung bei vielen Scouts. Unter anderem auch bei den San Diego Chargers, die halbwegs interessiert waren, aber am Ende doch passten.
Einen Mann überzeugte Rice jedoch schon sehr früh: Bill Walsh, zweifacher Super-Bowl-Champion mit den San Francisco 49ers. Der Coach schaute am Vorabend eines Auswärtsspiels bei den New Orleans Saints in seinem Hotelzimmer fern und sah Sportnachrichten. Genau genommen Highlights von einem Spiel der Mississippi Valley State. Was ihm sofort auffiel, war der Receiver mit der Nummer 88, Jerry Rice.
Dieser hatte es ihm angetan. Das ging so weit, dass Walsh bereits vor dem Draft begonnen hatte, Spielzüge speziell für Rice zu kreieren, obwohl da noch nicht mal klar war, dass er ihn würde kriegen können. Am Draft Day aber gingen die Niners, die gerade Super Bowl XIX gewonnen hatten, auf Nummer sicher: Sie fädelten einen Trade mit den New England Patriots für unter anderem zwei Erstrundenpicks ein, um auf Position 16 zu gelangen. Mit diesem Pick zogen sie schließlich Rice und ebneten den Weg für eine beeindruckende Ära.
Rice öffnete schon früh im Training Camp die Augen aller Beteiligten. Im Training lief er locker an Stars wie Ronnie Lott vorbei als gäbe es nichts Leichteres. Doch zum Saisonstart verkrampfte er dann doch und fiel eher durch fallengelassene Pässe auf. Damit stand er freilich in der Kritik, denn seine hohe Draftposition und der dafür gezahlte Preis wollten gerechtfertigt werden.
Diese Rechtfertigung folglich schließlich auf großer Bühne: Im Monday Night Game gegen die Los Angeles Rams. Rice fing zehn Pässe für 241 Yards und erzielte einen Touchdown. Die Yards bedeuteten im Übrigen prompt einen neuen Franchise-Rekord. Rice war angekommen - und drehte fortan auf.
Jerry Rice: Montanas langer Schatten
Das war nur der Anfang. 1987 fing der Wide Receiver 22 Touchdown-Pässe - in nur zwölf Spielen aufgrund eines Spielerstreiks, hatte damit aber doppelt so viele wie der Zweite in der Liste. Selbstredend war dies ein neuer Rekord, der bis zum Jahr 2007 Bestand hatte (Randy Moss 23). Sein erster ganz großer Moment kam jedoch in Super Bowl XXIII. Gegen Cincinnati fing er elf Pässe (Super-Bowl-Rekord) für 215 Yards, einen Touchdown und wurde zum MVP des Spiels gewählt.
Doch nach dem Spiel fiel das Rampenlicht auf Joe Montana, den Quarterback, nicht auf Rice, den MVP. Alles fokussierte sich auf den Passgeber, den Weißen. Eine Tatsache, die Rice merklich störte. Er sah sich nicht respektiert, hatte er doch den vermeintlich größten Anteil am Triumph. Immer noch schien es, als könne der Star sein Kleinstadt-Image nicht völlig ablegen.
Er steckte die Nichtbeachtung weg und gewann prompt den folgenden Super Bowl, in dem Montana John Elways Denver Broncos mit fünf Touchdown-Pässen (drei auf Rice) fast alleine zerstörte - Endstand: 55:10.
"Wie kann man Gott abgeben?"
Es sollte der letzte große Erfolg mit und für Montana sein. Wenig später übernahm dessen Backup Steve Young das Ruder offiziell. Und das war eine große Umstellung für den Receiver, der treffend formulierte: "Wie kann man Gott abgeben?"
Doch nicht nur emotional war es schwierig für Rice. Auch rein praktisch war es neu für ihn, denn Young war Linkshänder, Montana warf mit rechts. Folglich kamen die Bälle mit einer gegensätzlichen Drehung ans Ziel. Das mag trivial klingen, doch für den Perfektionisten Rice war es eine große Sache.
Folglich rekrutierte er Equipment-Manager Ted Walsh dazu, ihm täglich unzählige Pässe zu werfen. Der war zwar kein Young, dafür aber Lefty! Über den ganzen Sommer hinweg malträtierte Rice also Walshs Arm, um ein Gefühl für Lefty-Pässe zu bekommen.
Die Früchte dieser Arbeit waren weitere starke gemeinsame Spielzeiten und ein Super-Bowl-Erfolg im Jahr 1994. Überhaupt endete Rices ganz große Zeit erst mit einer verletzungsgeplagten Saison 1997. Er wirkte nur in zwei Partien mit, wodurch seine Serie von elf Saisons mit mindestens 1000 Yards ein jähes Ende fand. Danach erreichte er selbige Marke aber immerhin noch drei Mal.
Jerry Rice: Spielverderber Terrell Owens
Das endgültige Ende der Ära Rice in San Francisco aber wurde mit der Ankunft und sukzessiven Entwicklung von Terrell Owens in Rot und Gold eingeläutet. 1998 entschloss sich General Manager Bill Walsh dazu, den verdienten Star abzugeben. Die Entscheidung stieß nicht auf Gegenliebe, aber Rice akzeptierte sie.
Im letzten Heimspiel gegen die Chicago Bears sollte Rice noch einmal der Star sein, einen gebührenden Abschied bekommen. Doch das wussten auch die Bears, die sich folglich fast exklusiv auf ihn konzentrierten. Das Ergebnis: QB Jeff Garcia suchte den offenen Mann und das war eben Owens.
Owens stellte schließlich mit 22 einen neuen Reception-Rekord auf und stiel buchstäblich die Show. Rice war entsprechend sauer und wollte nur noch von dannen ziehen - obwohl eine große Verabschiedung nach dem Spiel geplant war. Doch dann bekam er doch noch seinen Moment, fing seinen letzten Pass als Niner und wurde mit großem Applaus verabschiedet.
Die letzten Jahre
Das Ende war es aber noch nicht für Rices NFL-Karriere. Er blieb sogar der Bay Area erhalten und schloss sich den Oakland Raiders an. Mit ihnen erreichte er sogar noch einen Super Bowl nach der Saison 2002. Den verloren die Raiders gegen Tampa Bay deutlich, doch Rice erzielte sogar noch einen Touchdown und ist damit der einzige Spieler, der Touchdown-Pässe in vier Super Bowls gefangen hat.
Es folgte noch ein Jahr in Oakland und schließlich die Saison 2004 in Seattle. Danach versuchte er es noch bei den Denver Broncos, doch dort hätte er nur eine Nebenrolle inne gehabt, weshalb er schweren Herzens mit 43 Jahren seine Karriere beendete.
Jerry Rice: "He just can't quit"
Selbst nach seiner Karriere gilt für Rice weiterhin dies: "Er kann einfach nicht aufhören", sagte einer seiner Weggefährten. Und so trat er an bei "Dancing with the Stars", belegte den zweiten Platz. Außerdem spielt er Golf und versucht dabei von Tag zu Tag besser zu werden. Er ist überdies als Motivationstrainer im ganzen Land unterwegs.
Sein Erbe im Football wiederum bleibt beeindruckend: 2010 wurde er selbstredend beim ersten Anlauf in die Pro Football Hall of Fame in Canton/Ohio gewählt und die Niners haben seine Nummer 80 aus dem Verkehr gezogen. Er hält über 100 Rekorde in der NFL, darunter die Karrierezahlen in den Bereichen Receptions (1549), Receiving Yards (22.895) und Total Touchdowns (208). Darüber hinaus hat er ganz am Ende auch noch Walter Payton bei den All-Purpose Yards überholt.
Rice absolvierte 303 Spiele, die meisten jemals für einen Receiver. Er war 13 Mal im Pro Bowl, zwölf Mal All-Pro und wurde von NFL Films in der Reihe "Top 100: NFL's Greatest Player" zur Nummer eins gewählt. Zudem ist er Teil der All-Decade Teams der 80er und 90er Jahre. Und das sind nur die wichtigsten Highlights.
Jerry Rice: Super Bowl XIXX
Rein aus dramaturgischen Gesichtspunkten erfuhr Jerry Rices Bilderbuch-Karriere ihren runden Abschluss aber eigentlich schon im Jahr 1995 durch Super Bowl XXIX gegen die San Diego Chargers - das Team, das ihn zehn Jahre zuvor nicht wollte!
Überhaupt ist dieses Spiel die Essenz der Persönlichkeit und des Spielers Jerry Rice. Der Receiver hatte in diesem Spiel einen Michael-Jordan-Moment, bevor ihn der Basketball-Gott selber hatte! Rice spielte weite Teile des Spiels mit einer kaputten Schulter nach einem heftigen Sturz zu Beginn. Doch das störte ihn wenig: Er fing zehn Pässe für 149 Yards und drei Touchdowns beim vernichtenden Kantersieg in Miami, wo Rice bereits seinen ersten Ring gewonnen hatte. Der Kreis schloss sich also.
Wie sehr er den Triumph genoss? Drei Tage später lief er schon wieder Routes auf dem Trainingsplatz.
NFL-Legende Jerry Rice: Statistiken seiner Karriere
Saisons | Spiele | Catches | Yards | Touchdowns | Fumbles | Rushing Yards/TDs | Erfolge |
20 (1985-2004) | 303 | 1.549 | 22.895 | 197 | 27 | 645 / 10 | 3x Super Bowl, 10x First Team All-Pro, 13x Pro Bowl |