Dieser Artikel erschien in seiner ursprünglichen Fassung im September 2021. Alle weiteren Geschichten zu den Legenden der NBA gibt es hier in unserem Archiv!
Was bleibt von den großen Spielern der vergangenen Jahrzehnte in Erinnerung, die wir nur zu Teilen oder gar nie live in Aktion gesehen haben? Ihre Statistiken? Auf jeden Fall. Ihre Erfolge? Ebenso. Die Errungenschaften nach ihrer Karriere? Zu Teilen. Einigen Spielern wird diese "oberflächliche" Betrachtung weniger gerecht als anderen. Paul Pierce ist einer dieser Kandidaten, die darunter schon immer zu leiden hatten.
Wer an den Namen Paul Pierce denkt, hat wohl sofort das berüchtigte Rollstuhl-Foto im Kopf oder die medialen Fehltritte der jüngeren Vergangenheit. Schwindelerregende Vergleiche mit Dwyane Wade oder inhaltslose Rants gegen LeBron James haben das Bild von "The Truth" in den vergangenen Jahren stark beschädigt. Doch der unvergleichliche Spieler Pierce sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten.
Paul Pierce: Das neue Gesicht der Boston Celtics
Pierce kam in einer Ära in die Liga, als die Reputation der legendären Boston Celtics stark angeknackst war. Die fetten 80er Jahre um Larry Bird, Kevin McHale und Robert Parish waren vorbei, die Saison 1996/97 mit 15 Siegen war der Tiefpunkt der Franchise. Die Organisation war händeringend auf der Suche nach dem nächsten "Big Thing".
Antoine Walker war zwar talentiert, das gewisse Etwas fehlte ihm aber. So dauerte es bis ins Jahr 1998 und bis zum 10. Pick des damaligen Drafts, als David Stern seine berühmten Worte verlas, die die Zukunft der Franchise auf Jahre prägen sollten: "With the 10th Pick of the 1998 NBA Draft the Boston Celtics select Paul Pierce, from the University of Kansas".
Angekommen in Boston spulte der Swingman eine starke Saison nach der anderen ab. Bereits in seiner dritten Spielzeit legte er über 25 Punkte im Schnitt auf und verlieh einem blassen Celtics-Team mit seinem Kampfgeist und seiner Mentalität ein neues Gesicht.
2002 führte er Boston erstmals seit sieben Jahren (die längste Durststrecke der Franchise-Geschichte) wieder in die Playoffs und das auf eine Art und Weise, die an LeBrons Finals-Run mit den Cavs 2007 erinnerte. Pierce war der Dreh und Angelpunkt eines Teams, dessen drittbester Scorer Rodney Rogers mit 10,7 Zählern im Schnitt war. Nichtsdestotrotz schaffte es diese Truppe bis in die Ost-Finals, wo erst die New Jerseys Nets zu stark waren.
Es folgten zwei weitere Playoff-Teilnahmen in Serie. 2002/03 mit einem Team, das in der regulären Saison nur Platz 24 im Offensive Rating und Platz 8 im Defensive Rating belegte und Indiana in der zweiten Runde dennoch in sechs Spiele zwang - vor allem wegen Pierce.
Paul Pierce: Einer der clutchesten Spieler aller Zeiten
Sobald es Frühling wurde und die Playoffs anstanden, konnte Pierce seine große Stärke ausspielen. Obwohl er nie der größte, stärkste, schnellste oder technisch versierteste Spieler war, konnte er sich seinen Wurf zu jeder Zeit und an jedem Ort erarbeiten.
Pierce konnte seinem Verteidiger genau sagen, was er als nächstes machen würde, dann genau dies auch tun und trotzdem den Wurf treffen. Und das in einer unheimlichen Regelmäßigkeit - vor allem in wichtigen Situationen.
Zwei Beispiele: Laut Stathead trafen in den Jahren 1996 bis 2017 nur drei Spieler mehr "Clutch Shots" als Pierce. Ihre Namen: Dirk Nowitzki, LeBron James and Kobe Bryant. In Bezug auf die reinen Buzzer Beater zum Sieg in diesem Zeitraum ist er gleichauf mit Kobe (10).
Paul Pierce machte seine Mitspieler besser
Pierce verstand es zudem, seine Mitspieler besser und aus schlechten Teams ernsthafte Contender zu machen. Dieser Umstand begleitete ihn auch auf seinen weiteren Stationen in Brooklyn und Washington und war für ihn Fluch und Segen zugleich.
Pierce war von den reinen Statistiken her ein absolutes Monster. Um das mal im Kontext zu betrachten: Er erzielte mehr Punkte als Jerry West, Charles Barkley und Larry Bird, traf mehr Dreier als Jason Kidd, Chauncey Billups und Dirk Nowitzki, hatte ein besseres Player-Efficiency-Rating als Kevin McHale, Bob Cousy und Steve Nash und eine bessere True-Shooting-Percentage als Michael Jordan, Larry Bird und Julius Erving.
Aufgrund der Erfolge beziehungsweise Misserfolge seiner Teams bekam er aber nie die Anerkennung, die er verdient hätte. Er wurde zehnmal All-Star, durfte allerdings kein einziges Mal starten. Er schaffte es nur ein einziges Mal in seiner Karriere in die Top 10 beim MVP-Voting, was in Anbetracht seiner Zahlen schon nahezu lächerlich erscheint. Zwischen 2001 und 2007 legte Pierce im Schnitt 24,8 Punkte, 6,7 Rebounds, 4,1 Assists und 1,6 Steals auf.
Paul Pierce: Sein Einfluss ist nicht in Statistiken zu messen
Sein wahrer Einfluss auf das Spiel war aber ohnehin nicht in Statistikbüchern zu finden. Pierce war kein Typ, der immer schöne Zahlen mit guten Quoten auflegte. Er erkämpfte sich seine Siege hart und tat dem Gegner dabei weh. Er hatte die Fähigkeit, das Spiel zu jedem Zeitpunkt an sich zu reißen - egal ob an einem Mittag im Februar oder in einem heiß umkämpften Playoff-Spiel.
Doch für den ganz großen Wurf reichte es für Pierce in seinen Anfangsjahren in Boston eben nie. Nach den anfänglichen tiefen Playoff-Runs folgten mehrere Erstrunden-Pleiten, anschließend legten die Celtics zwischen 2005 und 2007 eine katastrophale Bilanz von 57-107 hin, dennoch forderte Pierce nie einen Trade, was ihm bei den Fans große Sympathien einbrachte.
Zwar gab es Phasen, in denen er Krach mit Mitspielern und Coaches hatte und seinen Ärger auch öffentlich kundtat ("Ich bin der klassische Fall von einem guten Spieler in einem schlechten Team und es geht mir auf die Nerven", Boston Globe, 2007), aber er blieb seinem Herzensklub immer treu. Und schließlich wurde er dafür belohnt.
Paul Pierce: Die Krönung seiner Karriere
Nach dem letzten Platz in der Eastern Conference 2006/07 setzten die Celtics im darauffolgenden Sommer alles auf eine Karte und verscherbelten ihre aufstrebenden Talente für zwei gestandene All-Stars in Kevin Garnett und Ray Allen.
Pierce hatte kein Problem damit, das Scheinwerferlicht mit seinen neuen Mitstreitern zu teilen und das Trio war sofort auf einer Wellenlänge. Sie rollten durch die reguläre Saison, gewannen einen Ligabestwert von 66 Spielen und setzten sich schließlich auch in den Finals gegen eine verletzungsfreie und bockstarke Lakers-Truppe um Kobe in sechs Spielen durch.
Pierce verteidigte überragend gegen Bryant, legte selbst 21,8 Punkte, 6,3 Assists sowie 4,5 Rebounds über die Serie auf und sicherte sich völlig verdient die Auszeichnung als Finals-MVP.
Wer weiß, wäre ein unfassbarer LeBron James 2009 und 2012 oder ein rachsüchtiger Kobe 2010 nicht gewesen, hätten für das Trio womöglich noch einige Titel mehr herausspringen können. So blieb Pierce aber bei seinem einen Ring und verabschiedete sich 2013 schweren Herzens als Legende aus Boston.
Nach dem berühmt-berüchtigten Celtics-Nets-Trade 2013 ließ Pierce in den folgenden Jahren seine Karriere in Brooklyn, Washington und L.A. ausklingen und machte seine jeweiligen Teams immer besser - genau wie seine Rivalen.
Paul Pierce: Antrieb für Kobe und LeBron
Kobe und LeBron gaben jeweils zu Protokoll, dass Pierce einer der Gründe dafür war, warum sie kontinuierlich an sich arbeiteten. "Ich wusste, dass ich individuell viel besser werden musste", sagte James einst. "Er ist so ein Typ, der dich dazu zwingt."
James wird dabei wohl immer noch den toughen Wurf von Pierce in sein Gesicht in den Conference Finals 2012 vor Augen haben, der den Celtics damals eine 3:2-Führung verlieh.
Doch der King antwortete mit einem legenden 45-Punkte-Spiel, in der entscheidenden siebten Partie setzte sich ebenfalls Miami durch. Im Folgejahr war mit Boston in der ersten Runde Schluss, trotz weiteren Clutch-Heldentaten unter anderem für die Wizards ("I called Game", Playoffs 2015) kam er bei seinen weiteren Stationen nicht mehr über die zweite Runde hinaus.
Paul Pierce: Der unrühmliche Part nach seiner Karriere
2017 hing Pierce als zweitbester Celtics-Scorer aller Zeiten seine Schuhe an den Nagel - dank eines Eintagesvertrags standesgemäß als Kelte - und heuerte bei ESPN an. Dort bekam er seine eigene Talkshow und war Teil der Live-Crew um Jalen Rose bei "NBA Countdown". Er sorgte aber zunehmend mit kontroversen Statements für Aufregung.
Sein Statement, dass er eine bessere Karriere gehabt habe als Wade, sorgte für einen Shit Storm in den sozialen Medien, genau wie seine Kommentare zu LeBron. Unzählige Male sprach er dem King ab, in die Top 5 aller Zeiten zu gehören, sodass sogar Draymond Green ihn zurechtweisen musste.
Hinzu kommt, dass Pierce ein fast schon legendär schlechter Playoff-Vorhersager ist. Als die Celtics 2019 das erste Spiel gegen die klar favorisierten Bucks gewannen, erklärte er die Serie für beendet (die Bucks gewannen 4:1). Wenig später erklärte er auch die Conference Finals für beendet, nachdem die Bucks eine 2:0-Führung gegen Toronto geholt hatten (Toronto gewann 4:2).
Solche Bemerkungen ließen ihm hartgesottene Fans noch durchgehen, seine Kommentare über die berühmte Rollstuhl-Szene sorgten dagegen allerorts für Verwunderung. In den Finals 2008 ließ er sich sichtlich leidend im Rollstuhl in die Kabine fahren, nur um wenige Minuten später wieder aufs Feld zu rennen. Erst erklärte er bei ESPN, dass er nur aufs Klo gemusst habe, ehe er dies wenige Minuten später wieder revidierte.
Paul Pierce: Rauswurf bei ESPN nach Skandal
Seinen unrühmlichen Höhepunkt fand Pierces Medienauftritt im April 2021, als er sich betrunken, rauchend und in Gesellschaft von leicht bekleideten Damen in einem Video bei Instagram Live zeigte. Der Sender zog sofort Konsequenzen und feuerte Pierce.
Dieser Paul Pierce ist aber sicherlich nicht der Paul Pierce, den wir in Erinnerung halten sollten. Es ist vielmehr der Paul Pierce, der jeden noch so schweren Wurf treffen konnte. Der Paul Pierce, der als Celtics-Legende in die Geschichtsbücher eingegangen ist und von den Fans bis heute verehrt wird.
Der Paul Pierce, der im Jahr 2000 mit einem Messer angegriffen wurde, sich einer Lungen-OP unterziehen musste und alle 82 Spiele der folgenden Saison auf dem Platz stand. Der Paul Pierce, der eines der legendärsten Post-Match-Interviews aller Zeiten lieferte und auch der Paul Pierce, der Handys überhaupt nicht beherrscht.
Paul Flannery von SB Nation hat es einmal sehr treffend zusammengefasst. "Pierce hat nie die Würdigung bekommen, die er verdient hat. Er war nicht Kobe, Timmy, Dirk oder eine der anderen Ikonen, die wir anhand ihrer Vornamen erkennen. Er war 'The Truth'. Einfach und zeitlos."
Paul Pierce: Seine Statistiken in der NBA
Saisons | Teams | Spiele | MIN | PTS | FG (Prozent) | REB | AST |
19 (1998-2017 | Celtics, Clippers, Nets, Wizards | 1.343 | 34.2 | 19,7 | 44.5 | 5,6 | 3,5 |