Was gegen eine Titelverteidigung der Bulls 1999 sprach
Phil Jackson wollte nicht mehr coachen
Jordan geht in seiner Theorie vom siebten Titel davon aus, dass man den Head Coach (und alle anderen Protagonisten) schon irgendwie vom Weitermachen hätte überzeugen können. Allerdings spricht wenig dafür: Jackson wollte eine Pause. Bulls-Besitzer Jerry Reinsdorf hat dies in der Dokumentation auch bestätigt, als er sagte, dass Jackson ein entsprechendes Angebot 1998 abgelehnt hatte.
"The Last Dance" schiebt die Verantwortung dafür primär auf General Manager Jerry Krause, der Jackson 1997 bereits gesagt hatte, dass dieser auch mit einer 82-0-Bilanz nicht würde weitermachen können. Die Fehde mit Krause war sicherlich auch ein Argument für Jacksons Ruhestand - sie war aber bei weitem nicht der einzige.
Jackson wollte keinen Rebuild coachen, schlug deswegen schon länger Vertragsangebote aus, die ihn über mehr als ein Jahr an die Bulls gebunden hätten. Er wollte zudem eigentlich höchstens sieben Jahre bei einem Team bleiben, wie Jordan-Biograph Sam Smith im SPOX-Interview sagte, hatte bei den Bulls aber bereits neun Jahre auf dem Buckel.
Krause arbeitete vor seinem Tod im Jahr 2017 an seinen Memoiren, die im unfertigen Zustand nun teilweise von NBC Sports veröffentlicht wurden. Darin betont er, dass Jackson selbst vor der "Last Dance"-Saison angekündigt hatte, danach mindestens ein Jahr auf seiner Ranch in Montana verbringen zu wollen. Die Verantwortung dafür auf das Front Office zu schieben, war mehr als alles andere wohl ein psychologischer Trick des Zen-Masters, der so nicht noch einmal funktioniert hätte.
Pippen und finanzielle Bedenken
Jackson war nicht der einzige wichtige Protagonist, der schwer zu halten gewesen wäre. Pippen hatte zu Beginn der Saison aufgrund seines miesen Vertrags einen Trade gefordert, bevor er Mitte Januar dann doch noch zum Team stieß und die Saison mit den Bulls beendete. Nun lief sein Vertrag jedoch aus und Pippen wollte erstmals seit Jahren angemessen bezahlt werden.
Es hatte sich schon länger abgezeichnet, dass die Bulls dies eher nicht tun wollten. Krause hatte mehrfach versucht, den Small Forward zu traden, dieser plagte sich zudem mit starken Rückenproblemen herum, die ihn auch in den Playoffs 1998 stark einschränkten. Nach zwei Operationen in den vergangenen vier Jahren hatte Chicago nicht vor, Pippen einen langfristigen Vertrag anzubieten, zu groß waren die gesundheitlichen Bedenken.
Einen Einjahresvertrag wiederum hätte Pippen aufgrund der Vorjahre sicherlich nicht akzeptiert. So willigten die Bulls schließlich in einen Sign-and-Trade ein, der ihn kurz vor dem Start der 98/99er Saison nach Houston brachte und 67 Millionen Dollar über fünf Jahre garantierte. Ein All-Star Game erreichte er fortan nicht mehr.
Die Weigerung der Bulls, so viel Geld in einen alternden Star zu investieren, kam also nicht von ungefähr, und er war nicht der einzige fragliche Spieler. Steve Kerr und Jud Buechler waren Free Agents, Luc Longley hatte Verletzungsprobleme, Rodman war Rodman. Chicago hatte nicht die finanziellen Mittel, um das Team signifikant zu verstärken, es hätte also wohl nur mit einer etwas älteren Version des 98er Teams weitergehen können.
Das Alter des Kaders
Dabei waren die Bulls ohnehin schon kein junges Team mehr. Gerade Rodman wurde immer mehr von seinen Off-Court-Aktivitäten eingeholt und war in den 98er Playoffs ebenso wenig wie Pippen auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Abgesehen von Toni Kukoc waren fast alle wichtigen Spieler des Kaders über ihrem Zenit, teilweise weit drüber.
Kombiniert man dies mit den Tatsachen, dass die Saison verkürzt war und damit umso mehr Spiele in kürzerer Zeit absolviert werden mussten, und dass die Bulls schon zum Ende der 98er Saison auf dem letzten Loch pfiffen, ist die große Erfahrung vielleicht doch nicht so ein entscheidender Faktor.
Den Titel holte 1999 mit San Antonio nicht aus Zufall ein Spurs-Team, das die jungen Beine eines gewissen Tim Duncan reiten konnte. Dieser wäre obendrein auch noch ein Matchup-Albtraum für die Bulls gewesen, blickt man auf Rodmans Zustand zu diesem Zeitpunkt (der Wurm absolvierte nach den 98er Finals nur noch 35 NBA-Spiele).
Jordans Finger
Jordan ist davon überzeugt, dass man all diese Faktoren noch ein weiteres Mal hätte ignorieren können. Was in seinem Fall aber noch hinzukäme: Der Lockout wirkte sich auch auf Jordans Gesundheit aus. In der verlängerten Pause schnitt er sich mit einem billigen Zigarrenschneider so unglücklich in den Zeigefinger, dass dabei eine Sehne zerstört wurde.
Bei seiner (zweiten) Rücktritts-Pressekonferenz sagte Jordan selbst, dass der Finger operiert werden müsse und mit rund zwei Monaten Pause zu rechnen sei. Über ein Jahr lang konnte er den Ball nicht richtig greifen, selbst bei seiner Rückkehr als Spieler der Wizards soll ihn diese Verletzung noch beeinträchtigt haben.
Wir erinnern uns: Die Regular Season sollte lediglich drei Monate dauern, Jordan hätte also nur wenig Zeit gehabt, um rechtzeitig zu den Playoffs wieder in Bestform zu sein. Falls die Bulls diese überhaupt erreicht hätten. Auch in der "Last Dance"-Saison startete Chicago mäßig (12-9), obwohl Jordan dabei sogar fit war, Pippen aber fehlte. Wie wäre das ohne Jordan gelaufen?
Das Fazit
Bilanzierend fällt es natürlich schwer, dieser mystischen Figur Jordan zu widersprechen, die das Geschehen selbst 22 Jahre danach immer noch diktieren kann und von dieser einzigartigen Sieger-Aura umgeben wird. Man kann daher nicht völlig ausschließen, dass er auch 1999 noch einmal einen Weg gefunden hätte, wie auch immer dieser ausgesehen hätte.
Es spricht allerdings mehr dafür, dass er 1998 selbst die Zeichen der Zeit erkannt hat, selbst wenn er behauptet, dass ihn die Auflösung des Teams bis heute ärgert. Jordan hätte 1998 für einen anderen Coach weiterspielen können (was er in Washington tat), für ein anderes Team (dito - 1998 wäre die beste Option New York gewesen) oder mit einem anderen Supporting Cast.
Die "Last Dance"-Bulls hingegen hatten wohl das Ende ihrer Fahnenstange erreicht, und das nicht nur aufgrund des "Buhmanns" Krause.