Dieser Artikel erschien erstmals am 2. September 2019. Alle weiteren Geschichten zu den besten Spielern aller Zeiten findet ihr in unserem Legendenarchiv.
"Es ist interessant", sagte Archibald dem Magazin Sport im Jahr 1980, "wie Leute, die Drogen nehmen, immer andere mit reinziehen wollen, als würden sie Begleitung bei ihrem Untergang benötigen. Ich? Ich stand schon immer nur auf Basketball."
Diese Liebe zum Spalding war es wohl auch, die den jungen Archibald vor einem Leben auf der Straße oder hinter Gittern bewahrte. Aufgewachsen in den 1960er Jahren in den Patterson Houses, einer der berüchtigtsten Ecken der New Yorker Bronx, gab es für junge, schwarze Männer damals wenig Hoffnung. Drogen und Kriminalität regierten den Alltag, ein Ausweg erschien nahezu unmöglich. Aber eben nur nahezu.
Tiny Archibald: Der dünne, schüchterne Junge aus der Bronx
Wenn man den 16-jährigen Nathaniel heute sehen würde, würde man wohl kaum auf die Idee kommen, dass aus ihm einmal einer der besten Point Guards aller Zeiten werden sollte. "Tiny" Archibald, der seinen Spitznamen zwar seinem Vater "Big Tiny" zu verdanken hat, diesem aber auch augenscheinlich alle Ehre machte.
Ein zwar talentierter, aber zu kleiner, unglaublich schüchterner Highschool-Sophomore, der ohne jegliches Selbstbewusstsein auf dem Court rumstolperte und größtenteils verloren wirkte. Schlechte Leistungen im Unterricht in Kombination mit jener sportlichen Unterlegenheit kosteten ihn schließlich einen Platz im Basketball-Team der DeWitt Clinton High School und führten beinahe zu seinem Schulverweis.
Seine Freizeit verbrachte Archibald derweil größtenteils im Harlem Youth Center, wo er eines Tages vom ehemaligen NCAA-Champion Floyd Layne beim Basketballspielen entdeckt wurde. Ein Umstand, ohne den seine schillernde NBA-Karriere wohl undenkbar gewesen wäre.
Floyd Layne rettet Archibalds Karriere
Layne war ein guter Bekannter von Archibalds Highschool-School-Coach und redete so lange auf diesen ein, bis er versprach, dem schmächtigen Jungen noch eine Chance zu geben. Der Youngster dankte es ihm und schaffte es in seinem Junior Year endlich ins Schulteam, wobei er die meiste Zeit nur auf der Bank saß. Dies spornte ihn aber an, noch härter zu trainieren, sodass er jede freie Minute an seinen Handlings und Passfähigkeiten arbeitete - mit Erfolg.
In seinem Senior Year wurde er endlich Starter, führte sein Team als zweitbester Scorer zur Bronx Championship und später sogar zur New York City Championship und wurde mit einer Berufung ins All-City-Team belohnt. Der junge Archibald war endgültig dem New Yorker Armenviertel mit seinen trüben Zukunftsaussichten entkommen.
Über das Arizona Western Community College ging es für den Guard an die University nach El Paso, wo er in drei Saisons 20 Punkte im Schnitt auflegte und durch bärenstarke Leistungen in Exhibition-Games (51 Punkte beim Aloha Classic 1970 und knapp 40 Punkte im Schnitt bei fünf weiteren Auftritten) das Interesse einiger NBA-Teams auf sich zog.
Tiny Archibald: Der vermeintliche Hotelpage wird zum Zweitrundenpick
Dabei passte Tiny Archibald mit seiner schmächtigen, geradezu jungenhaften Statur eigentlich überhaupt nicht in die NBA der 70er Jahre. Die Liga war drauf und dran eine exklusive Spielwiese für die Größten der Großen, für die Riesen der Gesellschaft zu werden. Big Man dominierten - für kleine, flinke Guards schien kein Platz und noch weniger Respekt vorhanden zu sein.
Exemplarisch dafür steht auch die erste Begegnung zwischen Celtics-Legende Bob Cousy, damals Head Coach der Cincinnati Royals, und Archibald in einem Hotel in Memphis: Seine 1,85 Meter Körpergröße gepaart mit mageren 72 Kilogramm veranlasste Cousy zu denken, der damals 21-Jährige sei einer der Hotelpagen.
Allen Zweifeln zum Trotz wählten die Royals den vermeintlichen Hotelpagen in einem starken NBA Draft 1970, der Spieler wie Bob Lanier, Rudy Tomjanovich, Pete Maravich und Dave Cowens hervorbrachte, in der zweiten Runde an zweiter Position aus.
Glückliche Umstände begünstigen Archibalds NBA-Karriere
Den reibungslosen Start in seine NBA-Karriere hatte Archibald erneut einer glücklichen Fügung zu verdanken. Da Veteran-Guard Flynn Robinson mit den Royals in Vertragsstreitigkeiten stand, rutschte der Youngster unverhofft in die Starting Five und legte respektable 16 Punkte im Schnitt auf. Jedoch war schnell klar, dass Archibald nie ein guter Verteidiger werden würde und auch seine Anfälligkeit für Turnover brachte Coach Cousy das ein oder andere Mal auf die Palme.
Diese Umstände und eine Bilanz von 33-49 veranlassten die Verantwortlichen darüber nachzudenken, das "Projekt" Archibald abzubrechen und den Guard für einen - Überraschung! - Big Man zu traden. Stattdessen schnappte sich Cincinnati aber den damaligen Bulls-Center Jim Fox und Archibald übernahm nach der Verletzung von Scoring Leader und Kapitän Tom Van Arsdale überraschend die Rolle des Spielmachers.
Mit dieser neuen Verantwortung im Nacken spielte Archibald eine starke erste Saisonhälfte 1971/72, wurde bei der All-Star-Wahl jedoch nicht berücksichtigt und schraubte seine Punkteausbeute in der Konsequenz auf 34 Zähler pro Spiel hoch. Mit der Wahl ins All-NBA Second Team fanden seine Leistungen ligaweit endlich Anerkennung, die Royals trudelten jedoch weiterhin im Niemandsland der Tabelle rum (30-52).
Archibalds Rekord-Saison und das Warten auf die Playoffs
Vor der Saison 1972/73 packten die Royals ihre sieben Sachen und zogen nach Kansas City-Omaha um, wo sie schließlich die Kings wurden. Archibald hatte mittlerweile quasi die interne Alleinherrschaft über das Team und nutzte dies, um einen individuellen Rekord für die Ewigkeit aufzustellen. In 80 Spielen legte der Point Guard 34 Punkte und 11,4 Assists im Schnitt auf und führte am Ende der Saison die Liga in beiden Kategorien an - eine Errungenschaft, die bis dato einzigartig war und bis heute einen Nachahmer sucht.
Mit dieser Leistung und der Berufung ins All-NBA First Team war Archibald endgültig in der Elite der NBA angekommen und verdeutlichte eindrucksvoll, dass es in der besten Basketballliga der Welt immer Platz für schnelle, kreative Guards geben würde - er hatte den Respekt für sich und die "Seinigen" zurückerobert und wurde zur Ikone für Generationen von kleineren Basketballern.
Da ihm auch bei den Kings weiterhin keine wirkliche Hilfe an die Seite gestellt wurde, musste Archibald bis 1975 auf seine erste Playoffs-Teilnahme warten. In den Western Conference Semifinals war schließlich gegen die New York Knicks Schluss und das große Warten auf eine Championship-Chance ging für den 26-Jährigen von vorne los.
Die schwersten Jahre seiner Karriere und eine ungewöhnliche Inspiration
Über Umwege bei den Nets und Braves landete Archibald 1978 bei den Boston Celtics. In der Zwischenzeit war er dreimal ins All-NBA First Team gewählt worden, stand aber nur einmal in den Playoffs und riss sich zu allem Überfluss in seiner Zeit bei den Braves die Achillessehne, was ihn zu einer langen Pause zwang.
Mit 20 Kilogramm Übergewicht, augenscheinlich deutlich langsamer und nicht ansatzweise so explosiv wie in seinen Royals-Tagen meldete sich Archibald bei den Celtics zum Dienst. An der Seite von Jojo White harmonierte der 30-Jährige überhaupt nicht. Die Saison ging mit einer Bilanz von 29-53 komplett in die Hose und Gerüchte über einen schnellen Abschied Archibalds wurden laut.
"Das Traurige ist", sagte ein NBA General Manager dem Magazine Sport im Jahr 1980, "dass ich mir nicht sicher bin, ob irgendjemand Tiny überhaupt genommen hätte. Verdammt, er war 30 Jahre alt, hatte einen schlechten Ruf und einen dicken Vertrag. Er schien, als hätte er sein Spiel verloren."
In der Offseason reiste Archibald wie jeden Sommer in die Bronx, um gebeutelten Jugendlichen in seiner ehemaligen Heimat zu helfen. Es kam aber ganz anders. "Ich hatte die schwersten Jahre meiner Karriere hinter mir", erinnerte sich Archibald, "und es waren die Kids, die mir halfen. Sie sagten 'Macht dir keine Sorgen, Tiny. Du kannst es schaffen. Die Celtics brauchen dich'." Und die Jugendlichen sollten recht behalten.
Tiny Archibald: Der Quarterback der Boston Celtics
Nach der Katastrophensaison warfen die Celtics alles Bisherige über Bord. Harry Manguarian kaufte die Franchise auf, Bill Fitch kam als neuer Trainer, M.L. Carr, Dave Cowens und ein gewisser Sophomore namens Larry Bird bekamen deutlich mehr Verantwortung. Archibald fand sich seinerseits in einer neuen Rolle als effizienter Spielmacher und Passgeber wieder. Sein Scoring nahm deutlich ab (14,1 Punkte im Schnitt), dafür verteilte er so viele Assists wie seit seiner Rekord-Saison nicht mehr (8,4).
Das neue System florierte auf Anhieb, die Kelten legten eine 61-21-Saison hin und scheiterten erst in den Conference Finals in sieben Spielen an den Philadelphia 76ers. Im Jahr darauf gelang aber die Revanche. Die Sixers wurden in sieben Spielen aus dem Weg geräumt, ehe die Celtics in den Finals die Rockets um Moses Malone in sechs Spielen ausschalteten und Archibald nach 11 Saisons seinen ersten und einzigen Ring schenkten.
"Alles was ich tun musste, war das Spiel zu leiten, den Ball in die Hände der richtigen Person zu geben", schwärmte Archibald bei seiner Aufnahme in die Hall of Fame über seine damalige Rolle als 'Quarterback' der Boston Celtics. "Ich wünschte, ich hätte 10 Bälle gehabt, um alle einzusetzen. Es war großartig."
Nach drei weiteren Jahren bei den Celtics und einem kurzen Stint in Milwaukee beendete Archibald 1984 im Alter von 35 Jahren seine Karriere. 1991 wurde er in die Naismith Memorial Basketball Hall of Fame aufgenommen.
Tiny Archibald: Seine Statistiken in der NBA
Team | Spiele | MIN | PTS | FG% | AST | STL |
Royals/Kings | 433 | 40,5 | 25,2 | 46,7 | 8,1 | 1,5 |
Celtics | 363 | 31,2 | 12,5 | 46,9 | 7,1 | 0,9 |
Bucks | 46 | 22,6 | 7,4 | 48,7 | 3,5 | 0,7 |
Nets | 34 | 37,6 | 20,5 | 44,6 | 7,5 | 1,7 |
GESAMT | 876 | 35,6 | 18,8 | 46,7 | 7,4 | 1,1 |