Dieser Artikel erschien erstmals am 28. August 2018.
Fast jede Geschichte wiederholt sich irgendwann. Spielertypen kommen und gehen, Moves werden kopiert und Wurfbewegungen, teilweise sogar Gestik und Mimik, werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Obwohl es absurd erscheinen mag, werden schon im Laufe vieler Star-Karrieren die neuen Versionen dieser Stars gesucht. Der nächste MJ, der nächste Dirk, der nächste LeBron, wie auch immer.
Niemand muss sich die Mühe machen, den nächsten Manu Ginobili zu suchen. Zwar finden sich Elemente seines Spiels - allen voran der Euro-Step - aktuell bei vielen NBA-Spielern und mit James Harden hat sich ein ebenfalls linkshändiger Shooting Guard in der NBA-Elite etabliert, der sich nicht nur einen Move vom Mann mit der einstmals wogenden Mähne abgeschaut hat. Das Spiel Ginobilis als Ganzes ist aber nicht zu replizieren.
Dafür war es zu wild, zu unvorhersehbar, zu einzigartig. Und sogar noch mehr gilt das für seine Karriere. Manu trat ab als Legende seiner eigenen Kategorie. Und das nicht nur, weil außer ihm kein NBA-Spieler jemals eine durch die Halle fliegende Fledermaus per Hand aus der Luft geholt hat.
Manu Ginobili: Wie Houdini durch die Defense
Ginobili kam zu einer Zeit in die NBA, als ausländische Spieler noch bei weitem nicht so "normal" waren wie heute, insbesondere Guards und insbesondere solche, die so unkonventionell spielten wie er. Spurs-Coach Gregg Popovich verschluckte zum Anfang der Zusammenarbeit nicht selten beinahe seine Krawatte, wenn Ginobili mal wieder aus einem System ausbrach und stattdessen eine wilde Eigenkreation auspackte.
Erst mit der Zeit lernte der Coach, dass dieses Unvorhersehbare ein idealer Gegenpart für die stoische Brillanz von Tim Duncan sein könnte. Ginobili schlängelte sich wie Houdini durch gegnerische Defensivreihen und sah Winkel, die für fast jeden anderen Spieler im Verborgenen gelegen hätten. Er machte die Spurs schon sehenswert, als diese noch den Ruf hatten, ihre Gegner nur mit Defense und Bank-Shots zu Tode zu langweilen.
Genie und Wahnsinn lagen dabei oft nah beieinander. Ginobilis Karriere erlebte extreme Höhen, aber auch extreme Tiefen - wohl keine Sequenz verdeutlichte das besser als die in Spiel 7 der Conference Semi-Finals 2006 gegen die Mavericks, als er erst einen Dreier zur Führung traf, nur um dann im Gegenzug eins der unnötigsten Fouls der Geschichte an Dirk Nowitzki zu begehen und dessen legendäres Dreipunktspiel überhaupt erst zu ermöglichen. Auch das war Manu.
Manu Ginobili: Hall-of-Famer sogar ohne NBA
Dabei steht aber außer Frage, dass das Genie im Lauf der Karriere überwog. Schon bevor Manu im Jahr 2002 sein NBA-Debüt gab, hatte er als Finals-MVP die EuroLeague gewonnen, genau wie den FIBA AmeriCup und Silber bei der WM 2002 in Indianapolis. Unter anderem gewann er 2004 dann noch mit der goldenen argentinischen Generation Olympia-Gold 2004 - allein mit seinem internationalen Resümee wäre Ginobili ein garantierter Hall-of-Famer.
Das gilt freilich auch für die NBA-Karriere. Ginobili hat nicht das klassische Portfolio eines NBA-Stars - er war nur je zweimal All-Star und zweimal im All-NBA Third Team, sein Karriereschnitt von 13,3 Punkten ist gut, nicht überragend. Allerdings geht sein Wirken, sein Wert weit über die Zahlen hinaus. Daher genießt Ginobili auch den maximalen Respekt unter all seinen Mit- und Gegenspielern.
Sixth Man nicht aus Leidenschaft
Sein größtes statistisches Opfer war dabei vielleicht auch die beste Coaching-Entscheidung, die Popovich je getroffen hat. Indem er Ginobili über einen Großteil seiner Karriere von der Bank brachte, punktete dieser zwar weniger, die Spurs hatten aber immer noch einen elitären Scorer und Playmaker in der Hinterhand, der das Momentum jeder Partie verändern konnte.
Ginobili akzeptierte dies, zumal die etwas reduzierte Spielzeit seine lange Karriere ein Stück weit ermöglicht haben dürfte. Toll fand er die Rolle als Sixth Man wohl nicht - als Pop bei der Präsentation von Ginobilis Sixth Man of the Year-Award 2008 witzelte, dass dieser ihm die Trophäe wohl am liebsten in den Arsch stopfen würde, ließ das tief blicken.
Aber Ginobili erkannte den Wert für sein Team und schluckte daher den eigenen Stolz herunter. All-Star-Teilnahmen und individuelle Auszeichnungen gingen dadurch flöten, aber niemand sollte daran zweifeln, wie groß sein Anteil an den vier NBA-Titeln war, die San Antonio mit ihm gewinnen konnte. 2005 gab es beispielsweise auch durchaus gute Argumente für ihn als Finals-MVP.
Manu Ginobili: Liebling der Advanced Metrics
Statistisch ist Ginobili dadurch nach traditionellen Maßen schwerer zu greifen, jedoch deuten einige Advanced Metrics seinen wahren Wert zumindest an. Seit 1996 wird Plus/Minus erhoben, in dieser Zeit haben nur Duncan, LeBron und Nowitzki einen höheren positiven Wert als Ginobili. Manu hat allerdings nur rund 60 Prozent der gespielten Minuten dieser drei Legenden absolviert. Sein Net-Rating ist mit +9,8 höher als bei jedem anderen von ihnen.
Gerade die offensiven Einzahlmetriken sind große Fans von Ginobili, weil dieser schon Anfang der 2000er mit einer heute hochmodernen Wurfauswahl spielte (Dreier, Korbleger, Freiwürfe) und stets zu den effektiveren Scorern auf dem Flügel gehörte. Er war nicht nur ein internationaler Pionier, sondern auch spielerisch ein Vorreiter in der Liga.
Süße Revanche bei den Finals 2014
Dass er trotzdem seine Fehler hatte, machte ihn zudem nahbar und in San Antonio noch ein Stück weit populärer als beispielsweise den "perfekten" Duncan, zumal Ginobili als Lateinamerikaner in einer Stadt mit sehr großem Mexikaner-Anteil als einer von ihnen galt. Die Fans litten mit ihm, als er 2013 in den Finals in Spiel 6 mit acht Ballverlusten entscheidend zur Niederlage der Spurs beitrug.
Sie waren wütend, aber sie verziehen ihm, weil niemand von dieser Finals-Niederlage härter erschüttert wurde als er. Und sie jubelten umso mehr mit ihm, als Ginobili ein Jahr später mit einem Driving Dunk über Chris Bosh für DAS Signature Play der geglückten Revanche lieferte. Ginobili war zu diesem Zeitpunkt fast 37 Jahre alt, doch es schien, als könnten er und die Spurs noch ewig weitermachen.
Steve Kerr wollte, dass Manu weitermacht
Tatsächlich spielte Ginobili noch vier weitere Jahre. Duncan hörte 2016 auf, Parker wechselte 2018 nach Charlotte, Kawhi Leonard, der die Fackel übernehmen sollte, forcierte einen Trade. Auf einmal war nur noch Popovich da, nachdem ihn auch der Spieler, der ihm vielleicht die meisten grauen Haare verschafft hatte, verlassen hat.
Für die Spurs endete damit endgültig eine Ära, für die NBA gewissermaßen auch. Noch nach Spiel 5 der Serie gegen die Warriors hatte deren Coach Steve Kerr, der einst mit Ginobili zusammenspielte, diesen umarmt und fast schon angefleht, weiterzuspielen. "Mach weiter, okay? Warum nicht? Wenn du es noch liebst, mach weiter!"
Mit seiner Spielintelligenz hätte Ginobili vermutlich tatsächlich auch mit 45 noch recht effektiv spielen können. Er hat sich dagegen entschieden. Für eines der Unikate des Basketballs wird der nächste Stop nun die Hall of Fame sein, wie unter anderem Dirk Nowitzki schon richtig anmerkte. Einen Euro-Step nach dem nächsten.