Dieser Artikel erschien erstmals am 10. September 2017. Alle weiteren Legenden-Artikel findet Ihr in unserem Archiv.
Kaum eine Stadt in den USA war in den vergangenen Jahren gebeutelter als Detroit. Das Herz der amerikanischen Automobilindustrie erlebte die schlimmste Zeit seit ihrer Gründung, geprägt von Zerfall, Arbeitslosigkeit und jeder Menge leer stehender Häuser. Es geschah nicht selten, dass die gefürchtete Abrissbirne anrollte.
Dennoch gibt es eine Abrissbirne, die die Bewohner von Detroit schätzen und lieben gelernt haben. Diese bestand aber nicht aus kugelförmigem Stahl, sondern aus einem überdimensional filzigen Afro. Die Rede ist von Ben Wallace. Fast ein Jahrzehnt lang war er die Seele der Detroit Pistons.
Während Chauncey Billups der Anführer in der Offense war und 2004 beim Titelgewinn gegen die mit Stars gespickten Los Angeles Lakers zum Finals-MVP ernannt wurde, war es Wallace, der das ganze Gefüge am hinteren Ende des Courts zusammenhielt und Shaquille O'Neal so hart verteidigte, wie dieser es wahrscheinlich noch nie erlebt hatte.
Auch wenn sich der Einsatz nicht wirklich in Zahlen darstellen ließ, sind 10,8 Punkte und 13,6 Rebounds über fünf Spiele ein guter Anhaltspunkt für die Fähigkeiten von "Big Ben". Weiß man dann auch noch, dass der Diesel rund 100 Pfund schwerer und fast einen Kopf größer war, erscheint Wallace' Leistung noch erstaunlicher.
Sein Spiel fußte auf mehr als dem reinen Boxscore. Seine Leidenschaft, seine Energie und der Willen, sich für seine Mitspieler aufzuopfern, ließen diverse andere Mängel wie seinen fehlenden Wurf oder die katastrophale Freiwurfquote (keine Saison über 50 Prozent) verblassen. Es waren Eigenschaften, die ihn zum unumstrittenen Publikumsliebling aufstiegen ließen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sich die Leute in Michigan mit seiner Einstellung identifizieren konnten.
NBA-Legende Ben Wallace: Als Oakley ihm den Friseur austrieb
Dabei deutete in der Jugend nicht viel darauf hin, dass aus ihm einmal der wohl beste Verteidiger seiner Generation werden würde. Aufgewachsen im ländlichen Alabama als jüngster von acht Brüdern, war der kleine Ben stets unterlegen. Er hatte genau zwei Möglichkeiten, auch mal den Ball zu bekommen: Rebounds pflücken oder den Ball stehlen.
Als Teenager weckte aber nicht nur Basketball sein Interesse. Auch im Baseball und vor allem beim Football war er äußerst talentiert. Da die Familie aber kaum Geld hatte, musste Wallace selbst bereits früh arbeiten. So verdingte er sich als Friseur und schnitt der kompletten Verwandtschaft die Haare. Auch die Nachbarn bekamen für drei Dollar einen neuen Haarschnitt.
Durch das angesammelte Geld bezahlte Wallace ein Camp von Charles Oakley, seines Zeichens einer der härtesten Verteidiger der damaligen NBA und der inoffizielle Bodyguard von Michael Jordan. Als der Teenager mit ein paar Anderen herumblödelte, rief ihn Oakley zu sich, um Eins-gegen-eins zu spielen. "Charles wurde sauer und sagte uns, dass wir soft seien. Er dachte, dass wir nicht hart genug arbeiten würden", berichtete "Big Ben" später.
Er selbst hatte sein Talent damals noch nicht erkannt, wollte wie die meisten Jugendlichen den Ball dribbeln, seine Mitspieler einsetzen und selbst scoren. Mitspieler und Coaches waren darüber zumeist nicht erfreut. Erst die Begegnung mit Oakley sollte dies ändern.
Der Veteran wollte Wallace eine Lektion erteilen und spielte ohne Erbarmen. Doch zum Erstaunen von Oak hielt der Youngster dagegen. Selbst eine blutige Nase und eine aufgeplatzte Lippe änderten daran nichts. Oakley registrierte dies: "Ich war beeindruckt. Er wollte erst gar nicht gegen mich antreten - und machte dann ein gutes Spiel. Ich konnte das Feuer in ihm sehen." Von diesem Moment an war Wallace auf dem Radar des "Mighty Oak". Der sicherte ihm sogar seine Unterstützung zu.
Ben Wallace: Keine Lust auf Football
Zur gleichen Zeit kamen viele Scouts nach Alabama, um den Teenager spielen zu sehen. Allerdings nicht auf dem Court, sondern auf dem Football-Feld. Er war groß, schnell und somit ein Defensiv-Spieler mit enorm viel Potenzial. Doch Wallace selbst hatte andere Pläne, was seinen Lebenslauf betraf: "Ich wollte Football nutzen, um auf dem College Basketball zu spielen."
Mit überschaubarem Erfolg: Ein Football-Stipendium mit der gleichzeitigen Erlaubnis, Basketball zu spielen? Das war für die Football-Coaches ausgeschlossen. So war es Oakley, der den Kontakt zu einem Community College in Cleveland herstellte, wo Wallace Basketball spielen konnte.
Zwei Jahre hielt die Symbiose, bis Wallace beschloss, nicht mehr die nötigen Kurse zu besuchen. Ein Transfer zu einer besseren Universität war damit versperrt. Wieder musste Oakley als Retter herhalten und brachte Wallace bei seiner Alma Mater Virginia Union unter - letzten Endes ein wichtiger Karriere-Schritt.
Dort lernte der Grünschnabel die Wichtigkeit des Teamerfolgs. Da bereits mehrere gute Scorer im Kader standen, opferte sich Wallace seinerseits für die Verteidigung auf und begann, die Bretter zu beherrschen. Das machte er wiederum so gut, dass er in seinem Senior Year gar zum MVP des NCAA Division II Tournaments ausgezeichnet wurde und weitere landesweite Auszeichnungen bekam. Für einen Spieler an einer so kleinen Schule alles andere als üblich.
Ben Wallace als Shooting Guard?
Für den Draft reichte dies allerdings nicht. Im legendären Jahrgang 1996 mit Allen Iverson, Kobe Bryant oder Steve Nash fiel der Name Wallace nicht. Die Boston Celtics luden ihn dennoch zur Summer League ein. Für Coach M.L. Carr war Wallace nicht groß und stark genug, um in der NBA Power Forward zu spielen - was er ihm frei heraus ins Gesicht sagte.
Deshalb versuchte er sogar, den 2,06 Meter großen Hünen als Shooting Guard einzusetzen. Zum Ende des Camps wurde der Rookie schließlich entlassen. Aus der Traum? "Ich mache Coach Carr dafür nicht verantwortlich. Ich war selbst erst dabei zu verstehen, was für ein Spieler ich sein möchte", zeigte sich Wallace im Nachhinein versöhnlich.
Der Weg nach Europa schien unumgänglich, weswegen Wallace ein Angebot aus Italien akzeptierte. Doch dann kam der Anruf von Wes Unseld, General Manager der Washington Bullets (später Wizards), der selbst das Prädikat "undersized Center" mit sich herumgetragen hatte. "Ich wurde vor ähnliche Herausforderungen gestellt wie Ben. Es löste etwas aus, als ich ihn spielen sah. Ich wusste, dass ich mehr sehen will", blickte der Hall of Famer später zurück.
Wallace wurde zwölfter Mann, sah aber hinter Juwan Howard und Chris Webber kaum Spielzeit. Als C-Webb zu den Sacramento Kings getradet wurde und Howard mehr und mehr mit Verletzungen zu kämpfen hatte, bot sich dem Bankdrücker endlich eine Chance. Und die nutzte er, machte mit unbändigen Einsatz auf sich aufmerksam und lieferte Double-Doubles am Fließband.
Ben Wallace: Über Orlando nach Detroit
Dennoch war nach der Saison Schluss in der Hauptstadt. Befürworter Unseld war schon lange weg und nach einer ernüchternden Lockout-Saison mit nur 18 Siegen in 66 Spielen kam es zum Roster-Umbruch. Isaac Austin, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte, hieß das Tauschobjekt - und plötzlich fand sich Wallace im Rentnerparadies Orlando wieder.
Wieder wurde er zum Starter, wieder wusste er zu überzeugen - und wieder hatte er keine Zukunft im Team. Die Magic hatten größere Pläne und tradeten Wallace bereits nach einer Saison, um mit Grant Hill und Tracy McGrady ein spektakuläres Team aufzubauen (Tim Duncan sagte ab).
Diesmal landete Wallace in Detroit. Die Pistons waren seit Jahren Erstrundenfutter in den Playoffs, wenn man diese überhaupt erreichte. Doch diesmal war es eine arrangierte Ehe, die für beide Parteien zu einem Riesenerfolg wurde.
Ben Wallace: Defense! Defense! Defense!
Wallace und "Deeeetroiiiit Basketbaaaall!" - es sollte eine Kombo werden, die wie das Hinterteil auf den berühmten Eimer passte. Wallace war zwar nach damaliger Ansicht mit seinen zwei Metern und den paar Zerquetschten - der Afro ist da wohl mit eingerechnet - deutlich zu klein, um die Rolle des Centers zu spielen, doch die Pistons schenkten ihm das Vertrauen und entwickelten sich auch dank ihm zu einer der besten Verteidigungen aller Zeiten.
Der Big Man führte die Liga 2002 und 2003 im Rebounding an und blockte auch noch die meisten Würfe. Diese Form von Dominanz erreichten vor ihm nur Legenden wie Kareem Abdul-Jabbar, Bill Walton und Hakeem Olajuwon.
"Fear the Fro" war die Devise für die gegnerischen Offensiven. Wallace verankerte sein Team nicht nur, er zementierte es mit unglaublicher Intensität und schierem Willen. Die 9,1 Defensive Win Shares, die Wallace 2004 erzielte, sind bis heute in der modernen NBA-Zeitrechnung unerreicht. Zum Vergleich: Ein Dwight Howard erzielte in seinen besten Zeiten grade einmal 7. Folgerichtig räumte Wallace zwischen 2002 und 2006 viermal den Titel als bester Verteidiger ab, nur Ron Artest konnte seine Dominanz einmal durchbrechen.
Ben Wallace: Zentrales Teil im Titel-Puzzle
All-Star-Games und All-NBA-Teams waren die Folge. Jerry Stackhouse sah in Wallace gar einen der größten Spieler aller Zeiten: "Ich habe mit vielen großartigen Spielern gespielt: Michael Jordan, Allen Iverson, Grant Hill. Ben Wallace gehört auch auf diese Liste." Auch der damalige GM Joe Dumars erklärte den Big Man zum wichtigsten Puzzlestück der Franchise: "Alles, was wir tun, beginnt mit Ben. Wir bauen das Team um ihn herum."
2004 war das besagte Puzzle dann perfekt. Mit der Inthronisation von Head Coach Larry Brown und den Additionen von Rasheed Wallace und zuvor Billups entwickelten sich die Pistons zu einer Macht im Osten, die vor allem über ihre Defense Spiele gewann. Damit stand das Team den legendären "Bad Boys" um Isaiah Thomas aus den späten 80er-Jahren in nichts nach. Die New Jersey Nets um Jason Kidd wurden von Wallace und Co. in den Playoffs bei gerade einmal 56 Zählern gehalten. Einen Monat später konnte die Larry O'Brien-Trophy in die Höhe gestreckt werden.
Dass im Anschluss die NBA die Regeln änderte und das Hand-Checking verbot, geschah auch aufgrund der Dominanz der von Wallace verankerten Defensive. Ein größeres Kompliment kann man wahrscheinlich nicht erhalten.
Speziell in Erinnerung blieben die erbitterten Duelle, die er sich mit Shaquille O'Neal in den Playoffs lieferte. Shaq war nach der Finals-Pleite der Lakers in den Osten gewechselt, und so trafen sich die beiden auch in den folgenden drei Jahren jeweils in der Postseason. Legendär dabei war der Block gegen Shaq in den Eastern Conference Finals von 2006, als Big Ben den wesentlich größeren Aristotle mit perfektem Timing abräumte und dieser zu Boden ging und nicht wusste, wie ihm eigentlich geschah.
Ben Wallace: Prügelei, dann Wanderschaft
Doch ein leidenschaftlicher und aggressiver Spielstil ist oft ein schmaler Grat. Es war kein Zufall, dass Wallace am Malice at the Palace seinen Anteil hatte, als er Artest nach einem Foul wegschubste und die Schande zwischen den Pistons und Indiana Pacers erst ins Rollen brachte. Sechs Spiele wurde er dafür gesperrt.
Mit 31 Jahren folgte "Big Ben" 2006 dann noch einmal dem großen Geld und unterschrieb für vier Jahre und 60 Millionen Dollar in Chicago - und das, obwohl die Pistons im Vorjahr 64 Spiele gewinnen konnten. Doch dieses Kapitel war schnell beendet - es passte einfach nicht so gut wie am Lake Michigan. Auf das gleiche Problem stieß er bei den Cleveland Cavaliers, als Wallace zur Deadline 2008 von den Bulls getradet wurde.
Als der Center nach Phoenix weitergereicht und prompt entlassen wurde, schloss sich der Kreis: Wallace trug 2009 noch einmal das Trikot der Pistons. Aber es war mehr emotionale als sportliche Heimkehr: Detroit war auf dem besten Weg in die Bedeutungslosigkeit, Wallace mittlerweile stolze 35 Jahre alt. Drei Jahre in Serie verpasste das Team die Postseason, dann hängte der Center seine Sneaker endgültig an den Nagel.
Ben Wallace: Vorbild für die nächste Generation
Die Erinnerung an seine Glanzzeiten überwiegen. Für die Pistons war er ein Glücksfall, ein Spieler, der mit seiner Attitüde eine ganze Stadt aus der Depression holte. Draymond Green, gebürtig aus Michigan, veröffentlichte einen offenen Brief, als das Wallace' Trikot im Januar 2016 unter die Hallendecke in Auburn Hills gezogen wurde. Er würdigte ihn als Vorbild: "Ben hatte eine wahnsinnige Arbeitsmoral. Er arbeitete jeden Tag. Und nicht nur das: Er hatte das Herz eines Löwen."
So machte er fehlende Größe wett, wie es heute auch Green tut, wenn er als Center agiert: Wallace war auch der Wegbereiter für die Spieler nach ihm. Undrafted, weggesschickt, und dann ein Star. Es ist die Geschichte des Underdogs, die gerade in einer Stadt wie Detroit so wunderbar funktionierte.
Auf 1.088 Spiele brachte es Wallace in der NBA - Rekord für einen nicht gedrafteten Spieler. 2021 wurde er zudem als erster nicht gedrafteter Spieler aller Zeiten in die Hall of Fame aufgenommen. Kein Wunder, dass die Fans ihre geliebte Abrissbirne mit dem riesigen Afro so schnell nicht vergessen werden.
NBA-Legende Ben Wallace: Statistiken seiner Karriere
Saisons | Spiele | Minuten | Punkte | FG% | Rebounds | Blocks | Steals | |
Regular Season | 16 | 1088 | 29,5 | 5,7 | 47,4 | 9,6 | 2,0 | 1,3 |
Playoffs | 8 | 130 | 34,8 | 7.2 | 48,2 | 11,2 | 1,9 | 1,5 |