Es war eine Bewegung, die Chris Paul in seiner mittlerweile elfjährigen NBA-Karriere vermutlich hunderte von Malen durchgeführt hat, ohne später darüber nachzudenken.
Als Gerald Henderson zum Korbleger hochsteigen wollte, schlug CP3 nach dem Ball und erwischte ihn auch - auf dem Spielberichtsbogen wäre die Szene lediglich als Steal aufgetaucht. Im Rückblick auf seine Karriere wäre es einfach nur einer von bisher 1.793 Steals gewesen.
Es wäre eine letztlich nichtige Szene geblieben, hätte Paul sich bei der Aktion nicht unglücklich in Hendersons Trikot verhakt. Er spürte sofort einen Schmerz, versuchte es aber weiter. Nach einem Pass mit der verletzten Hand ließ er sich dann auswechseln - es ging nicht mehr weiter. Beim Gang in die Kabine war Paul die Wut deutlich anzusehen.
"Er hat es gespürt", sagte sein Bruder C.J. später. "Er wusste es."
"Es sieht nicht gut aus"
"Wissen", das bedeutet in dem Fall einen Bruch in der rechten Handfläche, einen Bruch, der operiert werden muss und mindestens drei, aber eher sechs Wochen Zwangspause bedeutet. Eine Röntgen-Untersuchung am Dienstag könnte die Prognose eventuell noch etwas entschärfen, doch daran glaubt niemand so richtig.
"Es sieht nicht gut aus für ihn", diktierte Coach Doc Rivers nach dem Spiel sichtlich bedient in die Mikrophone. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Playoffs für Paul beendet, für Spiel 5 droht zudem auch noch Blake Griffin erneut auszufallen, der sich kurz nach CP3 am Quadrizeps verletzte. "Für ihn sieht es auch nicht gut aus", so Rivers. Ebenso wenig tut es das für die Clippers im Kollektiv.
Dabei waren die Aussichten wenige Stunden zuvor noch ganz andere. Zwar hatte man das letzte Spiel gegen die jungen Blazers verloren, dennoch galt L.A. in der Serie zu Recht noch immer als großer Favorit. Vielmehr wurde schon darüber spekuliert, wie eine Zweitrundenserie gegen die Warriors - vorerst bekanntlich ohne Stephen Curry - aussehen könnte.
Die Warriors nach Spiel 4: "Tonnen von Emotionen"
Rivers-Aussage als Bumerang
Selbst Rivers gab vor dem Spiel ein Statement zum Thema Curry ab, das er wenig später wohl gerne zurückgenommen hätte: "Es ist uns damals in Boston auch passiert. 2010 konnte Kendrick Perkins in Spiel 7 der Finals nicht mitspielen."
Rivers ist zwar für teils etwas absurde Aussagen bekannt, dieser Vergleich war allerdings selbst für seine Verhältnisse weit hergeholt. Paradox, dass er kurze Zeit später einen deutlich besseren Vergleich miterleben musste. Denn auch wenn Curry ihn mittlerweile überholt hat, gibt es in der gesamten Liga noch immer kaum einen besseren Spieler als CP3.
Daher traf folgende Aussage von Rivers nach dem Spiel dann schon deutlich eher ins Schwarze: "Es gibt wahrscheinlich keinen einzigen Spieler in dieser Liga, der Chris Paul Eins-zu-Eins ersetzen kann."
Aufbau-Elite - oder nicht
Genau genommen gibt es in der Geschichte der Liga kaum Point Guards, die so konstant, so langlebig auf exzellentem Niveau agiert haben. CP3 hat seit seiner zweiten Saison nie weniger als 16 Punkte und 9 Assists im Schnitt erzielt, dazu ist er ein regelmäßiger Bestandteil der All-Defensive Teams. Sein Player Efficiency Rating (25,7) ist das sechsthöchste Karriere-PER der Liga-Historie.
Pauls statistisches Resümee macht ihn laut basketball-reference.com am ehesten mit Jerry West, Magic Johnson, Oscar Robertson und John Stockton vergleichbar, wenngleich er spielerisch vermutlich einer moderneren Version von Isiah Thomas am nächsten kommt. CP3 sollte seinen Platz im Aufbau-Olymp eigentlich längst sicher haben. Wenn da nur nicht dieser Makel wäre.
Wo ist der Ring?
Es ist ein alter Hut, ein Klischee und nicht bloß für Paul ein leidiges Thema: Ihm fehlt der Ring. Genauer gesagt fehlt ihm der Playoff-Erfolg nahezu komplett. Noch nie kam er über die zweite Runde hinaus, immer wieder gab es eher früher als später Umstände, die seine Saison früher als gewollt beendeten.
Einige Male, vor allem in seinen New-Orleans-Zeiten, schied er schlichtweg gegen bessere Teams aus (kann passieren!), einige Male ging er angeschlagen in die Playoffs (dito). Einige Male aber standen er oder sein Team sich aber auch selbst im Weg, darunter die letzten beiden Jahre. 2014 war es CP3 selbst, der in Spiel 5 gegen OKC innerhalb der letzten 49 Sekunden mit Fouls und Ballverlusten eine 7-Punkte-Führung herschenkte.
Ein Jahr später war es noch schlimmer: Nach einer Erstrundenserie für die Ewigkeit gegen San Antonio, die Paul mit einem Gamewinner im siebten Spiel beendete, sollte es eigentlich "sein Jahr" werden - stattdessen vergeigten die Clippers eine 3-2-, 19-Punkte-Führung gegen die Rockets legendär.
Kritik: Gleichzeitig fair und unfair
Im Laufe der Jahre wurde es daher mehr und mehr en vogue, Paul aufgrund seiner Playoff-Bilanz als "Choker", "Verlierer" oder "nicht clutch" zu bezeichnen. Einerseits unfair, weil CP3 sich in jedem Jahr statistisch steigerte, sobald die Postseason begann, und seine Clutch-Statistiken stets zu den besten der Liga gehörten - in der Regel waren sie besser als die von Kobe Bryant, um ein Beispiel zu nennen.
Und weil Basketball am Ende eben doch ein Mannschaftssport ist. Ein Spieler allein wird niemals ausreichen, auch zwei tun es nicht. Man braucht im Normalfall einen oder zwei Superstars, aber eben auch einen hochwertigen Supporting Cast - und natürlich Glück.
Andererseits ist die Kritik in gewisser Weise auch fair (wenn auch überzogen), weil, um es mit den Worten von Rasheed Wallace zu sagen: "Ball don't lie" und so. Die Playoff-Bilanz ist für einen Spieler von Pauls Stellenwert, der seine Position seit einem Jahrzehnt meisterhaft ausfüllt, eben tatsächlich "zu wenig". Und das weiß Paul, der siegesbesessen ist wie kaum ein anderer Spieler, selbst am besten.
Umso bitterer ist die neuerliche Verletzung, weil sie ihn aus einer eigentlich vielversprechenden Ausgangslage reißt. Paul hatte nach dem Ausfall von Griffin mal wieder unter Beweis gestellt, wie wertvoll er auch mit 30 Jahren noch ist, und mit dem Rest des Teams eine beeindruckende, gar MVP-würdige Saison gespielt. Nun war man endlich wieder vollzählig und hätte gegen dezimierte Warriors sicher nicht die schlechteste Chance auf die Conference Finals gehabt.
Sisyphos fängt wieder von vorne an
Hätte, wäre, könnte - es bleibt das große Thema in der Karriere des Chris Paul. Irgend etwas scheint immer dazwischen zu kommen, egal ob durch fremdes oder sein eigenes Zutun. Man kann gut verstehen, weshalb er seine Verletzung am Montag so verzweifelt, so wütend aufnahm.
Stand jetzt ist es ja bei weitem nicht sicher, ob dies nicht sogar der letzte Versuch dieser Clippers-Inkarnation war. Vor der Saison hatten Rivers und andere betont, dass es jetzt endlich mal klappen müsse, sonst...
Das alles ist Zukunftsmusik. Für den Moment kann man Paul nur wünschen, dass er sich vielleicht doch schneller erholt als gedacht. Und wissen, dass Sisyphos spätestens in der nächsten Saison wieder damit anfangen wird, seinen Stein den Berg heraufzurollen.