Die dunkle Lichtgestalt

Von Maximilian Schmeckel
Jaques Anquetil (l.) gewann die Tour de France gleich fünfmal
© getty

Die Tour de France 2015 geht auf die Zielgerade und wegen der Doping-Schocks der letzten Jahre blickt man wehmütig auf die Helden von einst zurück. Eddy Merckx, Fausto Coppi oder eben Jacques Anquetil. Der fünfmalige Tour-Sieger ist einer der besten Fahrer aller Zeiten und eine Ikone seines Landes. Hinter seiner Fassade war er aber auch Playboy, Dopingsünder, Geschäftsmann und kühler Pragmatiker. Page 2 begibt sich auf Spurensuche nach einem Mann, den Rudi Altig "den Größten" nennt und der sogar Filmkünstler Jean-Luc Godard inspirierte.

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Jean-Luc Godard gilt als einer der einflussreichsten Filmemacher der Geschichte. Er war ein Bewegtbild-Philosoph, der in seinen richtungsweisenden Werken radikale Gesellschaftskritik vortrug, die Avantgarde der Nouvelle Vague anführte und die Stilrichtung mit kreierte. In seinen Filmen bezog er sich auf Philosophen wie Ludwig Wittgenstein oder Friedrich Schlegel, er übte durch seine Werke fundamentale Kritik am Vietnam-Krieg und er wob Anspielungen auf Ikonen französischer und mitteleuropäischer Geschichte ein.

Ein einziges Mal, im Film "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß" fanden sich auch Referenzen auf einen Sportler in einem Film des legendären Künstlers. "Kein anderer verkörpert das klassische antike Drama so sehr wie Jacques Anquetil", sagte er über seinen Landsmann. Anquetil war der Erste, der fünf Mal die Tour de France gewinnen konnte und der Erste, der alle drei Klassiker-Rundfahrten für sich entschied. Er war ein Pionier und Geschäftsmann, hinter dessen Fassade eine dunkle Seite schlummerte. Er ist noch heute ein unsterblicher Held der Sportgeschichte - und das obwohl er zu Lebzeiten alles andere als beliebt gewesen war.

Der Lebenswelt der Eltern entfliehen

Der Aufstieg zum Unsterblichen begann bereits als Kind. Als er sah, wie hart seine Eltern, beide einfache Bauern, arbeiteten und wie weit entfernt sie doch vom Reichtum in den Magazinen und den Geschichten, die die Welt erzählte, waren, beschloss er, einmal ein anderes Leben zu führen und sein Schicksal selbst zu bestimmen. Der einfachste Weg für ihn: der Sport. Anquetil war groß, schmal, drahtig und schnell. Im Schulsport überragte er, während sich Europa von der Zerstörungswut des zweiten Weltkriegs erholte.

Der beliebteste Sport in Frankreich war in den Fünfzigern der Radsport mit seinem Königsevent Tour de France und dem in den Bann ziehenden Faszinosum der Männer, die sich aus eigener Kraft mit den höchsten Bergen des Landes duellierten. Anquetil trainierte hart und hatte Glück, schnell einen Förderer zu finden, der ihn finanziell unterstützte. 1953 wurde der Mann mit den blonden Haaren, den hohen Wangenknochen und den strahlend blauen Augen, dessen Aussehen fast etwas Aristokratisches an sich hatte, als 19-Jähriger Radprofi - und machte sich aus der Normandie im tiefsten Norden Frankreichs auf, Sportgeschichte zu schreiben und einer der Besten aller Zeiten zu werden.

Angebot des Idols? Abgelehnt!

Bereits im gleichen Jahr gewann er beim Grand Prix des Nations das Zeitfahren, ausgerechnet vor seinem Jugendidol, dem Italiener Fausto Coppi. Weil der hagere Blonde sich auch in den Folgejahren als Amateur einen Namen machte und durch seinen fast schon chirurgisch präzisen Fahrstil vor einer großen Karriere stand, nahm Coppi, wohl die Ikone des Radsports der frühen Fünfziger, Kontakt zum Franzosen auf und wollte ihn in sein Team holen.

Beim Besuch in Italien zeichnete sich ein Bild von Anquetil, das ihn auch später prägen sollte. Er schlug Coppis finanziell gutes Angebot aus, obwohl da vor ihm der Mann saß, dem er als 15-Jähriger beim Toursieg zugejubelt hatte. "... um selber der campionissimo zu sein, muss er ihn [Coppi, Red.] vor allem besiegen und seinen ewigen Stundenrekord auslöschen. Er entscheidet sich für den Kampf", beschreibt der Schriftsteller Paul Fournel die Szene in der beeindruckenden Biografie "Mit Leib und Seele".

Und so kam es, dass er 1956 den Stundenrekord Coppis tatsächlich um Längen brach und ein Jahr später - inzwischen Profi - als 23-Jähriger erstmals bei der Tour an den Start ging. "Wenn man Anquetil heißt, kommt man nicht, um die Tour kennen zu lernen, sondern um sie zu gewinnen", kündigte er an - und hielt Wort. Mit 15 Minuten Vorsprung erreichte er Paris erstmals in seiner Karriere als Führender und setzte die Startmarke einer legendären Karriere.

Kometenhafter Aufstieg

Nach drei Jahren ohne Toursieg gewann er die Tour von 1961 bis 1964 vier Mal in Folge. Zudem siegte er 1960 und 1964 beim Giro d'Italia und gewann 1963 die Vuelta - und wurde zum ersten Mann des Planeten, der sich den Sieg der großen drei Rundfahrten in die Vita schreiben lassen durfte.

Aus heutiger Sicht wird Anquetil im kulturellen Gedächtnis zum heroischen Helden stilisiert, zum "Giganten der Landstraße", wie die Fahrer wegen ihrer unfassbaren Leistungen schon in den Fünfzigern ehrfürchtig betitelt wurden. "Maitre Jacques" gilt vielen Franzosen als Nationalheld, als jemand, der in Zeiten, in denen der Sport noch sauber und eine Etappe wegen der Straßenbedingungen und der unterentwickelten Technik ungleich kräftezehrender war als heute, Geschichte schrieb und noch heute der Größte der vier fünfmaligen Tour-Gewinner ist.

Sicher, Anquetil hat Großes geleistet und hatte diesen Stil, der Generationen von Radsport-Begeisterten in seinen Bann zog. "Sein Pedaltritt war zu schön, um wahr zu sein. Er gaukelte Leichtigkeit und Anmut vor, er gaukelte Höhenritt und Wiegetritt in einer überwiegenden Männerdomäne vor, die Holzfällern, Pedalrittern und Arbeitstieren vorbehalten war [...] Hinzu kommt, dass Anquetil bei intensiver Anstrengung die Miene nicht verzieht, die Zähne nicht fletscht, mit dem Kopf nicht hin- und herwackelt", heißt es in Fournels Buch.

Was dabei aber viele vergessen, ist, dass Anquetil ein Manipulator war, ein gewiefter Taktiker und mit allen Wassern gewaschener Stratege. Und, und in diesem Punkt stand er den heutigen gefallenen Helden wie Lance Armstrong in nichts nach, ein systematischer Doping-Sünder, der den Betrug sogar offen zugab.

Dunkle Wahrheiten

"Ohne Aufputschmittel steht man das nicht durch", konstatierte er und fügte eine für ihn unumstößliche Wahrheit hinzu: "Sie müssten ein Dummkopf oder Heuchler sein, sich vorzustellen, dass ein professioneller Radfahrer, der 235 Tage im Jahr fährt, sich zusammen halten kann, ohne Stimulanzien." 1967 gestand er, Amphetamine, Koffein, Strychnin und andere aufputschende und schmerzstillende Mittel genommen zu haben. Auch moderne Formen der Leistungssteigerung wie Eigenblutdoping wandte er in rudimentärer Form an.

"Wenn ich am Ende war, griff ich mit zitternder Hand in meinen Beutel, um mir Stimulanzien zu spritzen", so Anquetil. Man müsse sich nur "meinen Hintern und meine Schenkel anschauen, die sind durchlöchert, wie ein Sieb." Erwischt wurde er jedoch erst spät, zu seinen Glanzzeiten gab es das verzweigte Kontrollsystem von heute noch nicht und wurde er doch einmal kontrolliert, wehrte er sich mit Sprüchen wie: "Ich bin doch kein Hund, der in der Öffentlichkeit pinkelt" - und wurde wegen des "Widerstands gegen die Entwürdigung" (Le Monde) dafür sogar gefeiert.

Doping war allgegenwärtig in den Fünfzigern und Sechzigern. Coppi sagte, er dopte nur, "wenn es nötig gewesen" sei - und das sei quasi "immer der Fall gewesen". In den Siebzigern sagte der Tour-Arzt, man müsse "sich nur die Männer, die Paris erreichen, ansehen", wenn man wissen wolle, welche der Fahrer dopen. Dennoch steht das unglaubliche Können der Ikone, auch ohne Doping, außer Frage. So machten Anquetil und der italienische Olympiasieger Ercole Baldine bei einem Zeitfahren aus, dass beide "nur mit Mineralwasser", also ohne Doping, fahren würden. Sie siegten vor allen anderen, durchlitten jedoch "Höllenqualen", wie Fournel schreibt.

Seite 1: Der Beginn der Karriere, Anquetils Aufstieg und das Doping

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