Außerdem verrät der 35-Jährige, der in Peking der deutsche Fahnenträger sein könnte, warum er die Diskussionen über die Olympischen Spiele in China zu großen Teilen als heuchlerisch empfindet und was ihn im Sport heutzutage wirklich stört.
Müller erzählt auch von seinem bemerkenswerten Karriereweg und erklärt, warum es lange ausgeschlossen war, dass er Eishockey-Profi werden könnte.
Herr Müller, wenn am 10. Februar Deutschland gegen Kanada in das olympische Eishockey-Turnier startet, werden sich viele an den Silber-Coup vor vier Jahren erinnern. Wissen Sie noch, was im Finale gegen Russland 2:11 Minuten vor dem Ende passiert ist?
Moritz Müller: Da sind wir in Führung gegangen? Nein, da haben die Russen noch eine Strafe kassiert, so war es. Ich habe erst letztens nochmal Szenen aus dem Finale gesehen und es ist immer wieder aufregend, auch so lange danach. Wenn wir nochmal die Chance hätten, ab diesem Zeitpunkt das Finale zu spielen, würden wir sicher einiges anders machen. Wir würden mit einer anderen - defensiveren - Aufstellung in das Power Play gehen, wir hätten nicht so viel geschossen, wir wären anders in die Zweikämpfe gegangen. Aber Eishockey ist ein Sport, in dem in einem Bruchteil von Sekunden ganz viel entschieden wird. Es ist gelaufen, wie es gelaufen ist. C'est la vie.
Deutschland brachte den Vorsprung nicht über die Zeit und ging in der Overtime k.o. - wie lange haben Sie gebraucht, um sich über Silber zu freuen?
Müller: Einigen Jungs ist das leichter gefallen als mir, die waren direkt danach schon in Partylaune. Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, weil wir einfach so verdammt nahe an Gold dran waren. Das hat mich die ersten Minuten noch verfolgt, aber als ich in die Kabine kam und als wir danach im Bus saßen, konnte auch ich den Schalter umlegen. Dann hatte ich nicht mehr das Gefühl, Gold verloren zu haben, sondern Silber gewonnen zu haben. Ich habe auch in der Zeit danach noch viele Stimmen gehört, die meinten, wir wären doch so dicht dran gewesen, dass es einfach ärgerlich sei, das stimmt ja auch, aber dann muss ich im gleichen Atemzug auch daran denken, dass wir im Viertelfinale auch ganz dicht vor dem Aus standen. Daran denkt dann keiner mehr, aber es war so. Insofern alles gut. (lacht)
Wenn wir uns daran erinnern, welcher Hype damals entstanden ist. Drei Millionen saßen nachts um 4.30 Uhr vor dem Fernseher, das war einmalig für Eishockey in Deutschland. Historisch.
Müller: Wir haben selbst aus der Ferne mitbekommen, was da in Deutschland los war. Nach dem Halbfinal-Sieg gegen Kanada hat keiner von uns nachts geschlafen, weil wir mit Nachrichten aus der Heimat bombardiert wurden. Und plötzlich ging das weit über die normale Eishockey-Blase hinaus, es haben sich alle möglichen Leute gemeldet.
Müller: Das muss sich in Eishockey-Deutschland unbedingt tun
Waren Sie enttäuscht, wie schnell der Hype dann wieder verflogen war?
Müller: Enttäuscht nicht. Es ist ja normal, dass es nach dem Ausschlag nach oben schwierig ist, da oben zu bleiben und dass es alles wieder runterfährt. Winterspiele sind ja auch nur alle vier Jahre und wir können auch nicht immer im Finale stehen. Mich enttäuscht mehr, dass unsere Strukturen immer noch nicht so sind, wie sie sein sollten. Eishockey in Deutschland hat noch so viel mehr Potenzial, davon bin ich wirklich überzeugt. Aber wir haben auch viel Arbeit vor uns. In Köln und nicht nur dort wollten ganz viele Kinder mit Eishockey beginnen, aber es musste einen Aufnahmestopp geben, weil wir nicht genügend Eishallen haben. Das ist traurig. Wir brauchen unbedingt mehr Eishallen, wir müssen marode Eishallen modernisieren - das ist ganz wichtig für die Zukunft.
Für Sie war die Silbermedaille auch die Krönung Ihrer Karriere. Und das nach einem Karriereweg, der nicht linear und nicht immer einfach war. Welche Bedeutung hatte dieser Erfolg für Sie ganz persönlich?
Müller: Ich neige dazu, Dinge sehr schnell für normal zu halten und immer noch mehr zu wollen, statt sie wirklich zu schätzen zu wissen, diese Einstellung nervt meine Frau manchmal an mir. Diese Einstellung hat mir zwar sicher auch sehr geholfen, meinen Weg so zu gehen, wie ich ihn gegangen bin, aber vielleicht war es manchmal auch zu viel. Die Silbermedaille hat mir ganz persönlich gesprochen deshalb sehr, sehr gutgetan. Das war schon eine Art Bestätigung für meinen harten Weg, den ich gehen musste. Auch eine Belohnung für die Leidenszeiten, die man in all den Jahren so durchstehen musste, sei es wegen Verletzungen oder auch einfach vom Kopf her. Ich bin sehr dankbar, dass ich dafür so etwas Großes zurückbekommen habe mit der Silbermedaille - das hat sich sehr gut angefühlt.
Ihre Kindheit war eine besondere, auch eine traurige in Phasen. Sie haben leider sehr früh Ihre Mutter verloren und mussten sich extrem durchbeißen. Welche Rolle hat Eishockey da gespielt?
Müller: Ich glaube, Eishockey war das Ventil für mich, um alles zu verarbeiten, was mir in der Kindheit passiert ist. Eishockey war aber nicht alles. All meine Erfahrungen, die ich in jungen Jahren gemacht habe, haben mich für das Leben bereit gemacht. Sie haben mich tough gemacht. Wenn es im Eishockey nicht geklappt hätte, hätte ich mir keine Sorgen gemacht, dass nichts aus mir wird. Ich hatte das Gottvertrauen, dass es dann einen anderen Weg für mich gegeben hätte. Ich hatte einfach den Antrieb und den Willen, mich durchzusetzen und mich durchzubeißen. Egal wo.
Müller über die WG mit einem Kanadier und mit einem Russen
Wie speziell war der Moment, als Sie Ihrem Vater die Silbermedaille zeigen konnten?
Müller: Mein Vater ist niemand, der sehr emotional ist und viel über Gefühle spricht. Aber in dem Moment haben wir nicht viele Worte gebraucht, manche Sachen spürt man auch so. Die Medaille mit ihm zu teilen, war und ist etwas ganz Tolles. Mein Vater war mein Ein und Alles in meiner Kindheit. Mein Vater hat mir ganz viel Bildung und Wissen mitgegeben, er ist ein intelligenter Mann. Und er hat sehr viel Kraft und Mühe in meine Erziehung gesteckt. Es war nicht immer leicht bei uns, wir hatten spannende Zeiten, aber er hat mir dieses Gottvertrauen vermittelt. Und er hat definitiv das viel spannendere und aufregendere Leben als ich. Mein Vater war in der Fremdenlegion, da war mehr los als in meinem Leben. Dagegen bin ich fast schon ein Spießer. (lacht)
Als Sie 9 Jahre alt waren, sind Sie mit Ihrem Vater nach Frankreich ausgewandert.
Müller: Richtig, wir sind ins Elsass, wir waren mitten in den Vogesen. Da war ich weg vom Fenster in puncto Eishockey. Bis ich 15 Jahre alt war, war es vollkommen ausgeschlossen, dass ich Eishockey-Profi werde. Nach drei Jahren in Frankreich sind wir zwar nach Kassel gezogen, aber selbst da war mein Weg überhaupt nicht vorgezeichnet. Ich hatte keine Lobby im eigenen Verein und zählte da sicher nicht zu den Spielern, die besonders angesehen waren. Die Aussichten waren alles andere als rosig. Wenn ein Mitspieler nicht eines Tages eine Einladung zum Probetraining nach Weißwasser bekommen hätte, weiß ich nicht, was passiert wäre.
Da sind Sie dann einfach mitgegangen?
Müller: Genau, ich hatte zwar keine Einladung, durfte aber mit zum Training und habe diese Chance genutzt. Irgendwie hat das damals gepasst. Ich war mitten in der Pubertät und hatte das Gefühl, etwas für mich machen zu wollen und auch zu müssen. Mein Vater und ich hatten so viel Zeit miteinander verbracht, dass es einfach etwas eng wurde. Ich wollte mein Leben selbst gestalten.
Also sitzen Sie mit 15 Jahren plötzlich alleine in Weißwasser. Wie war das?
Müller: Ich habe mich in einer Plattenbauwohnung wiedergefunden. In einer WG mit einem Kanadier, Phil, er war 21, und mit einem Russen namens Johan, er war 17 oder 18. Und ich war das Nesthäkchen. Irgendwie war das eine coole und spannende Zeit. Aber noch spannender wurde es, als ich nach Köln gegangen bin.
Müller: "Ich hatte genau 390 Euro in der Tasche"
Warum eigentlich Köln?
Müller: Ich bin in der Eishockey-News über eine Annonce gestolpert, dass die Haie ein Probetraining anbieten. Also bin ich hin! Ich war in Weißwasser auch nicht mehr glücklich, weil mich der Trainer in die dritte Reihe gepackt hatte. Also bin ich zu ihm und habe ihm gesagt, dass ich jetzt nach Köln gehe. Ich hasse Ungerechtigkeiten, das ist im Sport so, aber auch sonst im Leben. Ich kann das nur schwer ertragen. Und in der Situation habe ich mich ungerecht behandelt gefühlt. Niemand hat mir den Schritt nach Köln zugetraut, aber das kannte ich schon aus Kassel. Da hatte mir keiner den Schritt nach Weißwasser zugetraut. Das hat mich nie davon abgehalten, mutige Schritte zu gehen. Also bin ich los und stand quasi mit nichts am Kölner Hauptbahnhof.
Was heißt genau mit nichts?
Müller: Das heißt, dass ich genau 390 Euro in der Tasche hatte. Ich habe dann in der Jugendherberge geschlafen, da kostete eine Nacht 39 Euro, für zehn Tage hat es also gereicht. Danach bin ich in ein Boardingzimmer umgezogen und habe es durch eine Mischung aus Kindergeld, Halbwaisenrente und Jobben im Fanshop finanziert. Als ich es dann irgendwann vom Nachwuchs zu den Profis schaffte, war das fast surreal für mich. Für mich war es schon unfassbar, als ich es von Kassel nach Weißwasser geschafft habe. Und von Weißwasser nach Köln war nochmal ein größerer Wahnsinn, weil die Haie zu den absolut besten Mannschaften in der Jugend zählten. Ich hätte mir das alles nie so vorstellen können.
War die NHL mal ein Thema?
Müller: Den Traum, in der NHL zu spielen, hatte ich natürlich auch. Aber ich bin einfach zu spät auf die Landkarte gekommen und hatte keine Lobby, um im Draft gezogen zu werden. Da musst du vorher einen Namen haben, am besten schon einen Berater, aber das hatte ich alles nicht. Ich habe mir leider zu spät einen Namen gemacht. Als ich dann ein etablierter Spieler in Deutschland war, hätte es ein paar Mal die Option gegeben, den Schritt ins Ausland zu wagen, aber im Endeffekt wollte ich Köln dann nie verlassen. Köln ist meine Heimat geworden, hier wollte ich bleiben.