In Peking hätten Sie nun eigentlich die Chance gehabt, gegen die versammelten NHL-Stars zu spielen, leider findet das Turnier nun doch wieder ohne NHL-Beteiligung statt. Schon bitter, oder?
Müller: Sehr bitter für den Sport. Ich hätte mir fürs Eishockey gewünscht, dass diesmal wirklich die Besten der Besten dabei sind - die Strahlkraft der NHL-Superstars wäre sehr wichtig gewesen. Es sollte keine Liga der Welt über den Olympischen Spielen stehen, es ist sehr schade, dass es so gekommen ist.
Und sportlich wäre es ja auch nicht mehr so, dass Deutschland wie früher von Kanada in Bestbesetzung zweistellig hingerichtet wird.
Müller: Wir sind nicht mehr das Deutschland von früher. Und wir hätten ja auch gute Jungs aus der NHL dazu bekommen. Ich bin ganz ehrlich: Klar wäre es deutlich schwieriger für uns geworden, aber ich hätte das sehr, sehr gerne gesehen.
Ohne die NHL-Stars ist die Erwartungshaltung natürlich jetzt gleich wieder eine ganz andere.
Müller: Der Blick auf uns verändert sich komplett, das ist völlig klar. Vor vier Jahren hätte es keiner gewagt, von einer Medaille zu sprechen. Jetzt fragt jeder, ob wir wieder eine Medaille holen können. Wir haben es uns erarbeitet, dass solche Fragen gestellt werden. Wir haben dadurch auch Druck, aber diesen Druck möchtest du ja als Sportler. Wenn du Druck hast, musst du irgendetwas richtig gemacht haben. Schwierig ist es, wenn du keinen Druck hast, weil dir eh niemand etwas zutraut.
"Wir reisen nicht mehr mit Komplexen behaftet an Turniere"
Die größte deutsche Stärke ist der Spirit in der Kabine, den Sie als Kapitän maßgeblich mitgeprägt haben in den vergangenen Jahren. Wie würden Sie das beschreiben, was da entstanden ist?
Müller: Wir haben einen sehr besonderen Geist in der Kabine, das ist so. Uns ist es gelungen, in den vergangenen Jahren eine Kultur aufzubauen. Eine Kultur, die wir auch an die nächste Generation von Nationalspielern weitergeben wollen. Wir haben einen ganz anderen Glauben an uns als früher. Wir reisen nicht mehr ohne große Ambitionen und mit Komplexen behaftet an große Turniere. Und dieser Geist innerhalb des Teams ist das Fundament, auf dem alles andere aufbaut. Wir müssen uns aber bewusst machen, dass es wie in einer Beziehung Anstrengung und tägliche Arbeit braucht, um diesen Geist zu bewahren. Wir dürfen es nicht als gegeben hinnehmen, sondern müssen achtsam sein und alles dafür tun, um uns das zu bewahren, was wir uns jetzt geschaffen haben.
Welche Rolle spielt Bundestrainer Toni Söderholm in dieser Entwicklung?
Müller: Toni Söderholm ist für mich die wichtigste Personalie bei uns, er ist wichtiger als jeder Spieler. Aber wir dürfen auch Marco Sturm nicht vergessen. Wir hatten wirklich das große Glück, dass wir zwei außergewöhnliche Trainer gefunden haben, ohne die beiden diese Entwicklung und diese Reise niemals möglich gewesen wäre.
Wie würden Sie Söderholm beschreiben?
Müller: Toni ist jemand, der sowohl zwischenmenschlich als auch taktisch große Klasse ist. Das Menschliche spielt heutzutage als Trainer eine viel größere Rolle als früher. Als ich in die DEL gekommen bin, wollte kein Trainer wissen, wie es mir geht. Das hat ihn nicht interessiert. Der Umgangston war viel rauer und härter. Das ist ganz anders geworden. Wie Toni menschlich auf die Spieler eingeht, zeichnet ihn aus. Es zeichnet ihn aber genauso aus, dass er die Philosophie hat, mit Deutschland spielerisch die Spiele zu gewinnen. Kampf ist immer die Grundvoraussetzung, aber Toni traut es uns zu, auch gegen die Top-Nationen spielerisch zum Erfolg zu kommen. Und wenn man das macht, sieht man plötzlich, dass das auf einmal funktioniert.
Müller: "Diskussionen zu großen Teilen heuchlerisch"
Jetzt stehen die Winterspiele aufgrund des Austragungsortes Peking unter keinem guten Stern. China wird aufgrund der Menschenrechtslage zu Recht scharf kritisiert. Wie bewerten Sie die Diskussionen?
Müller: Ich finde die Diskussionen zu großen Teilen heuchlerisch. Warum muss der Sport das ausbaden oder dafür herhalten, was vorher falsch gelaufen ist. Ich als Athlet habe keinen Einfluss darauf, wohin die Spiele vergeben werden, ich sitze da nicht mit am Tisch. Ich finde es einfach schwierig, wenn Leute nach einem Boykott schreien und ihre Forderung auf einem Smartphone made in China tippen. Und niemals in der Lage wären, auf ihr Handy zu verzichten. Es sind nicht alle so, aber eine große Gruppe, die auf diesen Wagen draufspringt. Dazu kommt, dass wir 2015 mit München ja die Chance hatten, die Spiele auszurichten. Aber wir wollten sie nicht. Das muss ja auch mal so klar sagen. Und als die Spiele nach Peking vergeben wurden, war das ein Jahr, in dem die ganze Weltgemeinschaft um die Gunst Chinas gebuhlt hat. Wenn Angela Merkel im Flugzeug nach China sitzt und wenn Wirtschaftsdelegationen Züge nach China verkaufen, ist das super. Aber wenn wir völkerverbindende Winterspiele ausrichten wollen, soll das jetzt Mist sein? Das verstehe ich nicht. In der Antike wurden für Olympische Spiele Kriege ausgesetzt. 2018 habe ich einen tollen Austausch mit einem Nordkoreaner gehabt, darum geht es doch bei Olympia. Und nicht darum, den Sport politisch als Druckmittel einzusetzen.
Sie haben angesprochen, dass Deutschland die Spiele nicht wollte. Das hat ja aber Gründe, unter anderem den Gigantismus des IOC, den wir jetzt in Peking auch wieder auf ganz furchtbare Art und Weise erleben werden.
Müller: Da stimme ich komplett zu. Der Sport muss generell wieder viel mehr in den Vordergrund rücken. Das betrifft für mich nicht nur das IOC, das betrifft auch den Fußball. Die Vermarktung hat einfach ungesunde Ausmaße angenommen, das ist mir alles zu viel. Das will ich nicht mehr. Ich will den Sport zurück, der in erster Linie Werte vermittelt. Nicht diesen ganzen Zirkus drumherum, der mehr schadet, als dass er nützt. Und natürlich ist es auch nicht so, dass mich China als Land fasziniert oder reizt. Natürlich nicht. Ich lehne Dinge, die dort passieren, genauso ab, wie das alle vernünftigen Menschen tun sollten. Ich finde aber nicht, dass wir nach jeder Vergabe das Recht haben, darüber zu richten, mit welchem Land wir konform gehen und mit welchem nicht.
Mögliche Manipulationen der Tests, Ausspähung, bloß nichts Falsches sagen: Reisen Sie nicht trotzdem mit Sorgen nach Peking?
Müller: Nein, ich mache mir keine Sorgen. Ich glaube grundsätzlich schon mal nicht, dass die Bedingungen schlimmer sein werden als bei der WM in Lettland. Da waren wir komplett eingesperrt und waren nur im Hotel, im Bus oder in der Halle. Da wurden auch die Gänge überwacht und ich durfte mich nicht mal über den Flur hinweg bei offener Tür mit einem Mannschaftskollegen unterhalten. Ich nehme das alles nicht auf die leichte Schulter, ich bin auch nicht naiv, aber ich habe keine Angst. Ich werde auch in China das sagen, was ich denke.
Um mit etwas Positivem abzuschließen: Worauf freuen Sie sich am meisten?
Müller: Ich freue mich zum einen, so viele andere Sportarten wie möglich zu sehen. Und dann freue ich mich einfach wieder auf diese Begegnungen mit anderen Sportlern aus aller Herren Länder. Wenn du im Dorf bist, spürst du diese besondere Energie, die über diesem Ort liegt. Überall kannst du Sportler treffen, die ihr ganzes Leben lang dafür trainiert haben, jetzt hier zu sein. Vor den Spielen bekommst du als Athlet immer Pins, die du mit anderen Athleten austauschen kannst. 2018 habe ich Nordkoreaner getroffen, das jamaikanische Bob-Team, einen amerikanischen Anschieber im Bob und ganz viele mehr - was da für überragende Gespräche entstehen, macht Olympia für mich aus.