Kohlmann erklärt außerdem, woran Zverev noch arbeiten muss, wie er dessen Wimbledon-Chancen sieht und wie es aktuell im internationalen Vergleich um den deutschen Nachwuchs bestellt ist.
Herr Kohlmann, welches Fazit haben Sie ganz persönlich aus den French Open und dem Triumph von Novak Djokovic gezogen?
Michael Kohlmann: Vor allem das Fazit, dass es unglaublich ist, wie Novak Djokovic sich aus schier aussichtslosen Situationen mit dem Rücken zur Wand stehend befreien und immer einen Gang hochschalten kann. Und kurze Zeit später hat man schon das Gefühl, dass er das Match gar nicht mehr verlieren kann, dabei liegt er eigentlich immer noch klar hinten. Im Nadal-Match war er nach dem schnellen 0:5 im ersten Satz der bessere Spieler und hat es verdient gewonnen. Und im Finale gegen Tsitsipas hat man nach seinem frühen Break im dritten Satz gespürt, dass jetzt schon etwas Außergewöhnliches passieren muss, damit Djokovic es verliert. Dabei stand es 2:0-Sätze für Tsitsipas. Aber Djokovic hat dann diese Ausstrahlung und man spürt das ja nicht nur von außen, auch Tsitsipas merkt, dass es trotz der 2:0-Führung ein ganz schwerer Gang für ihn wird.
Djokovic-Kommentar: Zum GOAT in 91 Tagen
Djokovic hat jetzt 13 der letzten 26 Grand Slams gewonnen und auch ein weiteres Mal den Tennis-Olymp der großen Drei gegen die NextGen verteidigt.
Kohlmann: Was man sagen muss: Normalerweise ist es für die junge Generation ja so unfassbar schwierig, ein Grand Slam zu gewinnen, weil du nacheinander mindestens zwei der großen Drei schlagen musst. Das ist natürlich eine riesige Aufgabe. In Paris war das jetzt aufgrund der Auslosung mal anders, aber am Ende heißt der Sieger eben doch wieder Djokovic. Ich glaube, dass Djokovic, Nadal und Federer sehr von den Rekorden getrieben werden. Gerade Djokovic. Er wollte dieses Halbfinale unbedingt gewinnen. Hätte er es verloren und Nadal das Turnier wieder gewonnen, wäre er drei Grand Slams in Rückstand geraten. So hat er jetzt 19 auf dem Konto und den Rekord in Sichtweite. Das war ein großer Schritt für ihn. Es ist ein großer Ansporn, diesen Rekord einheimsen zu wollen. Daher kommt auch der unbändige Wille, in einem etwas gesetzteren Alter noch so an die absolute Leistungsgrenze gehen zu können.
Es scheint nicht mehr ansatzweise unrealistisch, dass Djokovic den Jahres-Slam abräumt und nach den US Open bei 21 steht, oder?
Kohlmann: Mehr noch, er kann ja mit Olympia-Gold sogar den Golden Slam holen - wie Steffi Graf 1988. Ich halte das absolut für denkbar. Es ist sicher in seinem Kopf. Trotzdem ist meine These, dass es gerade in diesem Jahr mit nur zwei Wochen Pause zwischen Paris und Wimbledon unglaublich schwierig für ihn wird, sofort das nächste Grand Slam zu gewinnen. Djokovic war auch platt im Finale, das darf man nicht vergessen. Jetzt sofort wieder sieben Runden Best-of-five durchzustehen - das ist eine Herkulesaufgabe. Trotzdem kommt er sicherlich als Topfavorit nach Wimbledon und wenn es einer schaffen kann, dann Novak Djokovic.
Kommen wir zu Alexander Zverev, der nach seiner Halbfinal-Niederlage extrem frustriert war. Wie würden Sie sein Turnier einordnen?
Kohlmann: Ich finde, dass er es direkt nach dem Match auf der Pressekonferenz sehr gut beschrieben hat, als er meinte, dass er einfach keinen so schlechten Start ins Match haben darf. Damit hat er Tsitsipas das Gefühl gegeben: "Ich bin schlagbar heute." Der Vorsprung, den er ihm gewährt hat, war einfach zu groß. Auch wenn das Match im fünften Satz eine andere Wendung hätte nehmen können, wenn Sascha einen der drei Breakbälle genutzt hätte und sofort wieder in Führung gegangen wäre. Das hätte Tsitsipas dann mental richtig nach unten gezogen. Aber so ist es nicht gekommen. Dennoch war es ein sehr gutes Turnier von Sascha. Klar, die Gegner bis zum Halbfinale waren von den Ranglistenpositionen nicht die stärksten, aber trotzdem musst du sie erstmal so dominieren und so klar schlagen, wie Sascha das gemacht hat. Er hat kaum Körner gelassen bis zum Halbfinale und war am Ende des Turniers noch topfit. Wie er da durchgegangen ist, wird ihm für die nächsten Grand Slams auch Auftrieb geben. Und er sieht ja auch, wie nahe Tsitsipas dran war, Djokovic zu schlagen. Es ist alles sehr eng. Ich sehe seine French Open mit Hinblick auf die Zukunft sehr positiv.
Kohlmann: "Zverev in Wimbledon Titelkandidat"
Boris Becker meinte, die Psyche habe den Ausschlag für Tsitsipas gegeben, Bruder Mischa bemängelte, dass er das Ruder hätte noch mehr in die Hand nehmen müssen. Stimmen Sie zu?
Kohlmann: Ich würde beiden nicht widersprechen. Sascha ist immer dann am stärksten, wenn er aktiv nach vorne spielt. Denken wir zum Beispiel an die ersten beiden Sätze im US-Open-Finale gegen Dominic Thiem: Da hat er unglaublich gespielt. Weil er offensiv war und seine Waffen perfekt eingesetzt hat. Diese Phasen muss er sich immer wieder vor Augen führen und bewusst machen. Wenn er aktiv ist und die Ballwechsel bestimmt, dann ist er von fast keinem Spieler zu schlagen. Gegen Tsitsipas hatte er aber auch wieder Phasen, in denen er zu abwartend war. Und dann verliert man schnell das Momentum.
Zverev war wieder sehr ehrlich, als er nach der Niederlage zugab, dass ihn ein Halbfinale bei einem Grand Slam nicht mehr interessiert. Und ein Finale auch nicht. Er will diesen großen Titel. Seine Bilanz gegen Top-10-Spieler bei Grand Slams steht aber auf der anderen Seite jetzt bei 0:10. Sehen Sie die Gefahr, dass er die Geduld verliert, wenn der Grand-Slam-Titel nicht bald kommt?
Kohlmann: Nein, das glaube ich nicht. Seine Entwicklung ist ja nach wie vor positiv. Seine Aussagen zeigen nur, wie ehrgeizig und motiviert er ist. So war Sascha schon als Jugendlicher und so zieht sich das durch - ich sehe das sehr positiv. Ich finde auch, dass wir Ähnliches bei Tsitsipas sehen. Diese Jungs wollen nichts mehr, als die großen Drei abzulösen. Aber die Bilanz zeigt einfach, dass Best-of-five in einem Grand Slam nochmal eine ganz andere Hausnummer ist als ein normales Turnier. Da schlage ich die Großen einfach einen Tick leichter. Aber bei Best-of-five muss ich so viele Höhen und Tiefen durchleben, das ist dann auch die Kunst bei einem Grand Slam, das Besondere. Das haben wir in Paris wieder sehr gut vor Augen geführt bekommen.
In Wimbledon ist Zverev bislang nie weiter als ins Achtelfinale gekommen. Ist er für Sie ein Titelkandidat?
Kohlmann: Definitiv. Er ist nicht der Topfavorit, der ist wie besprochen Djokovic, aber er gehört zu den Spielern, die um den Titel mitspielen werden. Es gibt keinen Grund, warum Sascha auf Rasen nicht sehr erfolgreich spielen kann - mit seinem Aufschlag, seiner Beweglichkeit und mit seinem verbesserten Spiel nach vorne. Es wirkt so, als fühle er sich viel wohler am Netz. Er hat alle Waffen für ein Top-Rasenspiel.