Dieser Artikel wurde erstmals im August 2020 veröffentlicht
Zweiter Aufschlag Ferreira von der Vorteilseite, Rückhand-Return Stich, der Ferreira zu einem tiefen Volley aus dem Halbfeld zwingt. Becker antizipiert, rückt in die Mitte, seinen Rückhand-Volley auf den Körper kann Norval nur noch mit dem Rahmen vor sich auf die Asche bugsieren. Spiel, Satz und Gold Becker/Stich.
Becker und Stich liegen sich in den Armen, die Intimfeinde wirken wie beste Freunde. Es ist ein wunderbarer und zugleich surrealer Augenblick, nicht mehr als eine Momentaufnahme. Bereits beim Interview nach dem Match, bei Siegerehrung und Nationalhymne, ist die Distanz zwischen den beiden besten deutschen Tennisspielern wieder greifbar. Kein Blickkontakt, kein nettes Wort übereinander, einfach nichts.
Dazu muss man wissen: Becker und Stich trennten Welten, sie waren wie Feuer und Wasser. Auf der einen Seite der Kämpfer Becker, der Liebling des Volkes aus dem badischen Leimen, der - seit er sich 1985 mit 17 Jahren zum jüngsten Wimbledon-Champion aller Zeiten gekürt hatte - Generationen vor den Bildschirmen versammelte. "Bobbele", "Bum-Bum-Boris", der "Rote Baron", dessen Matches Oma und Enkelkind Stunden voller unbändiger Leidenschaft, großer Triumphe, Verzweiflung und Dramatik versprachen.
Auf der anderen Seite der "Spieler Stich", wie Becker seinen Kontrahenten despektierlich nannte. Der unnahbare Norddeutsche, der "Kühlschrank aus Elmshorn", dem mit seinem unerschöpflichen Talent alles viel leichter und geschmeidiger von der Hand zu gehen schien. Der Respektierte, der es 1991 im Wimbledon-Finale gewagt hatte, Becker in dessen Wohnzimmer zu bezwingen.
Becker über Stich: "Unsere Gemeinsamkeit heißt Tennis"
"Wir mögen uns eben nicht, unsere Gemeinsamkeit heißt Tennis", sagte Becker damals über sein Verhältnis zu Stich. Und Stich meinte gegenüber DAZN rückblickend: "Wir waren Konkurrenten, die aus dem gleichen Land kamen. Die Erwartungshaltung, dass wir Freunde sein müssen, nur weil wir beide aus Deutschland kommen, war völlig abstrus. Wir wollten immer besser sein als der andere und uns noch mehr profilieren."
Dieser Graben spaltete auch das Publikum. Becker oder Stich? Das war Anfang der 90er Jahre unter deutschen Tennisfans, die nicht nur aus Interesse am Spiel, sondern mit dem Herzen bei der Sache waren, zu einer Glaubensfrage geworden, auf die es keine dritte Antwort gab. Die Mehrheit antwortete Becker, die Minderheit Stich, niemand Becker und Stich. Bis zum Sommer 1992.
Erster Satz: Becker/Stich gelingt im Glutofen von Vall d'Hebron im Nordosten Barcelonas ein frühes Break, ehe Stich seinen Aufschlag abgibt. Beim Stand von 5:6 wehrt Becker mit einem krachenden Aufschlag einen Satzball ab, es geht in den Tiebreak. Unter den gut 6000 Zuschauern tummelt sich viel Prominenz, unter anderem sind Außenminister Klaus Kinkel und Innenminister Rudolf Seiters dabei. Beckers damalige Freundin und heutige Ex-Frau Barbara und sein Manager Ion Tiriac rauchen bereits vor Nervosität um die Wette (Advantage Tiriac). Bis zum 6:5 gibt es kein einziges Minibreak. Dann bringt Becker unter gütiger Mithilfe der Netzkante eine Rückhand durch die Mitte zum Satzgewinn im Feld unter. Zwischenstand: 7:6 (7:5).
Pilic beweist diplomatisches Geschick
Dass Becker und Stich in Spanien gemeinsam für Deutschland im Doppel antreten würden, hatten die meisten bis zuletzt für einen Witz gehalten. Nur Niki Pilic nicht. Der damalige Davis-Cup-Kapitän, der sowohl von Becker als auch von Stich über die Maßen geschätzt wurde, war auf einer Mission.
"Ich wusste, sie wären perfekte Doppelpartner", erinnerte sich der mittlerweile 80-jährige Kroate einmal: "Beide waren Weltklasse-Spieler, hochmotiviert. Aber sie sprachen zu dieser Zeit kein Wort miteinander. Ich musste sie irgendwie zusammenbringen. Dazu war viel diplomatisches Geschick nötig."
Pilic drückte die Nominierung tatsächlich durch. Und er brachte es sogar fertig, dass Becker und Stich drei Monate vor Olympia als Testlauf gemeinsam beim Turnier in Monte Carlo antraten. Das Ergebnis: Turniersieg! Das zweite gemeinsame Vorbereitungsturnier, die Generalprobe in Stuttgart, ging allerdings mit dem Aus in der ersten Runde schief.
In Barcelona stärkten ausgerechnet Misserfolge im Einzel die zerbrechliche Konstellation. Becker scheiterte im Achtelfinale am Franzosen Fabrice Santoro. Noch schlimmer erging es Stich, der in der zweiten Runde gegen seinen Landsmann Carl-Uwe Steeb den Kürzeren zog.
Nun blieb den Rivalen - wollten sie den Traum von einer Medaille nicht begraben - nichts mehr anderes übrig, als sich zusammenzuraufen. "Nachdem wir beide im Einzel draußen waren, haben Michael und ich uns angeschaut und gesagt: Wir müssen unsere Animositäten zur Seite schieben", sagte Becker.
Zweiter Satz: Becker gibt direkt seinen Aufschlag ab, besonders Ferreira wird immer stärker, besticht mit einer brachialen Vorhand und unglaublichen Reflexen am Netz. Ein überragender Return von Stich beschert dem DTB-Duo das Break zum 3:3. Becker/Stich führen 4:3 und 0:40 bei Aufschlag der Südafrikaner. Ferreira/Norval machen daraufhin - begünstigt von einer Fehlerorgie der Deutschen - acht Punkte in Serie und das Break zum 5:4. Die Vorentscheidung im zweiten Durchgang. Stich schmettert wutentbrannt den Schläger zu Boden. Zwischenstand: 7:6 (7:5), 4:6.