Vorbereitung
Grundlagentraining in Berlin, Schuften an der Ostsee und ein Feinschliff im Bundesleistungszentrum Kienbaum - das Programm von Arthur Abraham wurde von Trainer Ulli Wegner exakt auf den Tag des vierten Duells mit Robert Stieglitz abgestimmt. Auch in Sachen Diät, beim Weltmeister mitunter ein schwieriges Thema, konnte der erfahrene Coach seinen Schützling auf Linie halten.
"Man sollte niemandem verheimlichen, dass es immer wieder ein teils unmenschliches Unterfangen ist, den Jungen in Top-Form zu bringen", erklärte Wegner gegen Ende der Vorbereitung. Die Mühen haben sich gelohnt. Der Weltmeister wirkt austrainiert, mental voll auf der Höhe und ist laut eigener Aussage "richtig heiß" auf das entscheidende Duell.
Stieglitz stand nach der Pleite im letzten Duell unter noch größerem Druck. Eine erneute Niederlage wäre wohl nicht nur gleichbedeutend mit dem Ende aller Titelträume, sondern könnte sogar zum Karriereende des inzwischen 34-jährigen Boxers aus Magdeburg führen. Zwar gilt gleiches für den Weltmeister, dieser konnte jedoch auf einem Sieg - inklusive Niederschlag - aufbauen. Um zum Kampf seines Lebens in Bestform zu sein, galt bei Stieglitz deshalb das Motto "back to the roots".
In Halle ging es in ein spartanisch eingerichtetes Sportinternat. Neue Impulse standen im Vordergrund, Ablenkungen sollten ausgeschlossen werden. Angetrieben von Trainer Dirk Dzemski stand in Sachsen-Anhalt vor allem die Arbeit an einer neuen Taktik im Fokus. Für wen die Entbehrungen der letzten Wochen Früchte tragen, wird sich erst im Ring zeigen.
SPOX-Urteil: Unentschieden
Erfahrung
An Erfahrung mangelt es weder Abraham, der in seinen 46 absolvierten Kämpfen als Profi stolze 351 Runden im Seilgeviert verbrachte, noch seinem Gegenüber Stieglitz, der es in 52 Duellen gar auf deren 374 brachte. Auch in puncto Amateurzeit geben sich beide Boxer nichts. Stieglitz gewann 80 seiner insgesamt 90 Fights, bei Abraham waren es bei gleicher Kampfanzahl 81 Siege.
Dennoch spielt die Erfahrung bei dem Aufeinandertreffen um den Titel der WBO eine besondere Rolle. Beide Kontrahenten stehen sich in Halle bereits zum vierten Mal in den letzten drei Jahren gegenüber. Zwei Mal gewann Abraham, ein Mal Stieglitz. "Keiner von beiden hat Bock gegen den anderen zu boxen. Beide wissen, wie schwer es ist, den jeweils anderen zu schlagen. Es wird wieder ein Duell auf Messers Schneide", kommentierte Dzemski die damit einhergehende mentale Herausforderung.
Auch sein Gegenüber ist sich der besonderen Situation bewusst. "Überraschende Momente wird es für mich während des Kampfes keine geben, das ist richtig", sagte Wegner im Interview mit SPOX: "Fakt ist aber auch, dass beide ihr System durchwechseln werden, um den anderen auszustechen. Es gibt immer Ecken und Kanten, an denen gefeilt werden kann. Perfekt gibt es nicht, wir sind schließlich alle nur Menschen."
Entscheidend wird sein, wer anhand der letzten Duelle die richtigen Anpassungen vornehmen und seinen Gegner überraschen kann. Mit zwei Siegen im direkten Duell, Trainerlegende Wegner in seiner Ecke und der Erfahrung aus Kämpfen gegen Carl Froch, Andre Ward und Co. im Rahmen des Super-Six-Turniers im Gepäck hat Abraham die Nase vorn.
SPOX-Urteil: Vorteil Abraham
Ulli Wegner im SPOX-Interview: "Der Druck macht mich kaputt"
Schlagkraft
Von der gefürchteten Schlagkraft Abrahams zu Mittelgewichts-Zeiten ist eine Gewichtsklasse höher nicht viel übrig. Dass der Weltmeister noch immer harte Treffer setzen kann, steht zwar außer Frage, die Knockout-Quote von nur noch 61 Prozent spricht allerdings eine deutliche Sprache.
Den letzten vorzeitigen Sieg gab es gegen Mehdi Bouadla im Dezember des Jahres 2012. Danach folgte eine Niederlage durch technischen Knockout gegen Stieglitz sowie sechs Erfolge, die jedoch allesamt über die volle Distanz gingen.
Und dennoch: Der Niederschlag gegen Stieglitz im letzten Duell stellte unter Beweis, was passiert, wenn Abraham seinen Gegner ordentlich trifft - und könnte zudem im mentalen Bereich Wirkung hinterlassen haben. "Stieglitz wird die zwölfte Runde aus dem dritten Duell gegen Arthur nicht vergessen haben, das bleibt psychologisch hängen", betonte Wegner.
Wirft man einen Blick auf die Schlagkraft seines Gegenübers, dürfte Abraham kaum Ungemach drohen. Stieglitz war nie als großer Puncher bekannt und verortet auch im Jahr 2015 seine Stärken in anderen Bereichen, was eine Knockout-Quote von lediglich 52 Prozent unterstreicht.
SPOX-Urteil: Vorteil Abraham
Kinn
Auch wenn der Ruf Abrahams zuletzt mitunter etwas gelitten hat, stellt sich die Frage nach den Nehmerqualitäten des Champions nicht. Spätestens nach seinem Triumph gegen Edison Miranda im September des Jahres 2006, als er mit einem doppelt gebrochenen Unterkiefer noch acht Runden lang im Ring stand und am Ende den IBF-Titel im Mittelgewicht in die Höhe strecken durfte, steht das Image des gebürtigen Armeniers fest.
In den vergangenen Jahren hat das Kinn des Titelverteidigers zudem den einen oder anderen Test gut überstanden. Die einzigen vorzeitigen Niederlagen resultierten aus einem zugeschwollenen Auge gegen Stieglitz und einer Disqualifikation gegen Andre Dirrell im Rahmen des Super-Six-Turniers.
Bei Stieglitz sieht die Sache etwas anders aus. In der Vergangenheit hatte der Herausforderer immer wieder Probleme - und das gegen eher schwächer einzuschätzende Gegner. Sollte es Abraham gelingen, klare Treffer zu setzen, wird das vierte Duell vorzeitig enden. Deshalb kann die Lösung der Kinn-Problematik des Magdeburgers, der zudem eine kaum vorhandene Kopfbewegung an den Tag legt, nur über Beinarbeit und Ausdauer erfolgen.
SPOX-Urteil: Vorteil Abraham
Ausdauer
Die Mittel, Abrahams Anfälligkeit gegen eine hohe Arbeitsrate auszunutzen, hat Stieglitz dank seiner ausgezeichneten Kondition. Auch in puncto Defensivarbeit sind die Pferdelungen des 34-Jährigen von großem Wert. Wie wichtig der Faktor Ausdauer sein kann, zeigte das Unentschieden gegen Felix Sturm, bei dem Stieglitz über weite Strecken auf den Scorecards zurücklag, sich in der Schlussphase allerdings doch noch das Remis sichern konnte.
Deshalb wird sein Team erneut auf die größte Stärke setzen. Ein energischer Beginn gegen einen defensiven Gegner scheint wahrscheinlich, ein Einbruch in den späteren Runden nicht. Eine Tatsache, der sich Wegner und Abraham durchaus bewusst sind. "Robert schlägt viele Hände, hat jedoch keinen Killerschlag. Er gibt von Beginn an Gas wie eine Rakete, doch darauf bin ich eingestellt", so der Titelverteidiger.
Abraham selbst kann in puncto Ausdauer nicht mithalten. Der gebürtige Armenier gilt als eher faul, was Wegner in der Vergangenheit immer wieder zum Explodieren brachte, und gönnt sich auch während eines Kampfes kleine Pausen. Vor allem im Super-Mittelgewicht stechen seine konditionellen Probleme immer wieder heraus. Probleme, die er selbst mit seinem großen Kämpferherz nicht kaschieren kann.
SPOX-Urteil: Vorteil Stieglitz