Für das arg gebeutelte Neuseeland kommt die Rugby-WM so passend wie der Regen nach der Dürre. Nach der schrecklichen Verwüstung lechzt das Land am anderen Ende der Welt nach Ablenkung. Vier Erdbeben hatten die Stadt Christchurch zwischen September 2010 und September 2011 heimgesucht - und ganz Neuseeland mitten ins Herz getroffen. 181 Menschen verloren ihr Leben. "Neuseelands schwärzester Tag" (Premierminister John Key) wird und kann nicht vergessen werden. Nun aber soll der Sport die tragischen Ereignisse zumindest sechs Wochen lang in den Hintergrund rücken.
Start gegen Tonga
Wenn ihr Team - die "All Blacks" - am Freitag um 20.30 Uhr Ortszeit im Eden Park in Auckland gegen das Pazifik-Königreich Tonga die siebte WM eröffnet, sehnt sich die Rugby-Nation Neuseeland nach einem Stück Normalität. Und nach dem ersten Titelgewinn seit 24 Jahren.
"Das Erdbeben rückt die Dinge wieder zurecht. Mein Onkel musste ausziehen, sein Haus ist plattgedrückt. Ich war vom Beben betroffen, meine Eltern waren betroffen. Dann guckst du dir andere Leute an und stellst fest, dass es uns im Vergleich zu denen noch gut geht", sagte Richie McCaw, Neuseelands Mannschaftskapitän und Profi bei den "Crusaders" aus Christchurch: "Man muss es positiv sehen und sagen: 'Wir haben nun die Chance, es besser zu machen.' Wenn du wegläufst und den Kopf hängen lässt, wirst du niemals etwas erreichen. Diese Einstellung wird Neuseeland mit in die WM nehmen."
Mission: Triumph von 1987 wiederholen
Schon einmal, 1987 bei der Premieren-WM, waren die "Kiwis" zusammen mit Nachbar Australien Gastgeber des Turniers. Damals spazierte Neuseeland mit fünf Siegen ins Endspiel, schlug Frankreich 29:9 und holte sich erstmals den Webb Ellis Cup. Regelmäßig führen die "All Blacks" die Weltrangliste an - so auch in diesem Jahr wieder. Doch bei Weltmeisterschaften versagen der Mannschaft in schöner Regelmäßigkeit die Nerven.
1991, 1999 und 2003 war jeweils im Halbfinale Schluss, 1995 unterlag man Südafrika im Finale. Bei der letzten WM vor vier Jahren flog der Favorit gegen WM-Gastgeber Frankreich bereits im Viertelfinale raus.
2011 soll nun bei der Heim-WM alles anders werden, doch der Druck auf das 30-köpfige Aufgebot ist immens, alles andere als der Titel würde als Scheitern gewertet. "Jedes Mal, wenn du das All-Black-Trikot anziehst, gibt es immer Druck und große Erwartungen", gab sich Verbindungshalb (Fly-half) Daniel Carter demonstrativ gelassen: "Die Heim-WM und die Tatsache, dass wir so lange nicht mehr gewonnen haben, vergrößern diesen Druck. Aber wenn überhaupt, dann sind wir deshalb nur umso motivierter."
WM-Hysterie steigt
Doch nicht alle gehen derart locker mit der extremen Erwartungshaltung um. Als "Stadion mit vier Millionen Zuschauern" bezeichnen sich die "Kiwis" vor dem Start der drittgrößten Sportveranstaltung der Welt. Auf bis zu 100.000 ausländische WM-Touristen hofft die "grüne Insel".
1,3 Millionen Eintrittskarten sollen für die 48 Spiele an den 13 Spielorten bereits verkauft sein. Geld, das die von den Erdbeben und der weltweiten Rezession getroffene Wirtschaft dringend benötigt.
Um der WM-Hysterie wenigstens ab und an zu entgehen, setzt Neuseelands Hakler (Hooker) Andrew Hore auf eine simple Strategie. "Tony Woodcock (Mitspieler Hores, d. Red.) besitzt eine Farm, hoffentlich können wir uns mal dorthin schleichen", sagte der 32-Jährige.
Auch Christchurch war ursprünglich als Spielort vorgesehen, die englische Mannschaft wollte in der größten Stadt der Südinsel ihr WM-Quartier aufschlagen. Doch zu groß waren die Zerstörungen, die sieben dort geplanten WM-Spiele wurden verlegt.