Ganz nüchtern betrachtet ging es für das DFB-Team im dritten Gruppenspiel gegen die Schweiz um gar nicht mal so viel: Deutschland stand schon vorab sicher im Achtelfinale. Die Frage lautete letztlich nur, ob bereits in einem möglichen Viertelfinale oder erst im Finale ein Duell mit Spanien droht. Nüchtern betrachtet. Aber nüchtern betrachtet in Deutschland aktuell kaum jemand die Nationalmannschaft. Sowohl im wahrsten Sinne des Wortes als auch im übertragenen.
Dank zwei starken Leistungen gegen Schottland und Ungarn ist eine Euphorie um das DFB-Team ausgebrochen, wie es sie hierzulande seit langem nicht mehr gegeben hat. Und mitten hinein in dieses schwarz-rot-geile Schland-Fieber drohte das dritte Gruppenspiel gegen die Schweiz plötzlich zum emotionalen Dämpfer zu werden. Aber dann kam Niclas Füllkrug.
Sein 1:1-Ausgleich in der zweiten Minute der Nachspielzeit löste einen irrsinnigen, auch ein bisschen irrationalen Jubel aus - auf dem Platz und auf den Rängen. Einen Jubel, von dem Mannschaft und Fans noch länger zehren werden. Einen verbindenden Jubel. Einen Jubel, wie es ihn bei den ersten beiden deutlichen Siegen noch nicht gegeben hatte. Völlig losgelöst verfolgten sämtliche Spieler, egal ob vom Platz oder von der Bank, den Torschützen Füllkrug und begruben ihn unter einem Menschenberg.
Im allerletzten Moment schaffte Deutschland also doch noch den Gruppensieg (und brockte sich somit ein mögliches Viertelfinale gegen Spanien ein). Viel wichtiger aber: Das DFB-Team bewies allerhand Zutaten, die eine Turnier-Mannschaft ausmachen. Die emotionale Jubel-Komponente ist nur eine davon.
DFB-Team: Real Madrid und Bayer Leverkusen als Vorbilder
Schon gegen Ungarn erlebte Deutschland schwierige Phasen, fuhr letztlich aber dennoch souverän drei Punkte ein. "Im November hätten wir nicht gewonnen", bekundete Bundestrainer Julian Nagelsmann anschließend. Gegen den nominell stärksten Gruppengegner Schweiz waren die Widerstände sogar noch deutlich größer. Die Mannschaft überwand sie aber dank herausragender Mentalität sowie Kampfkraft erneut und erreichte mit dem Remis das Ziel des Abends. Gruppensieg.
"Im Nachhinein wird das mit Sicherheit ein Knackpunkt-Spiel gewesen sein", sagte Torschütze Füllkrug. "Wenn du ein Spiel einmal so drehst, dann denkst du daran, falls wieder so eine Situation kommt. Dann werden alle auf dem Platz den Glauben haben." Psychologie, wie sie seit Erfindung des Fußballs bei Toni Kroos' Real Madrid funktioniert und seit der Amtsübernahme von Trainer Xabi Alonso auch bei Bayer Leverkusen. Genau darauf verwies auch Leverkusens Abräumer Robert Andrich.
Bis zum späten Ausgleich hat Deutschland gegen die Schweiz zwar defensiv nachlässiger und offensiv ideenloser gespielt als in den ersten beiden Gruppenspielen. Aber keineswegs so schlecht, wie es bisweilen dargestellt wurde. Das beweisen auch die Statistiken: Der xG-Wert sprach mit 1,7 zu 0,6 für Deutschland, das Schussverhältnis mit 18:4, die Großchancen mit 4:1 und der Ballbesitzanteil mit 66 Prozent.
DFB-Team: Julian Nagelsmanns Joker stechen gegen die Schweiz
Deutschlands Erlösung gegen die Schweiz vollbrachten mit Flankengeber David Raum und Torschütze Füllkrug zwei Einwechselspieler. Gewissermaßen erinnerte die Konstellation an David Odonkor und Oliver Neuville, ihre Co-Produktion hatte beim zweiten Gruppenspiel der Heim-WM 2006 bekanntlich für den späten Sieg gegen Polen gesorgt. Wobei der damalige Treffer eine deutlich größere Relevanz hatte als der jetzige, es ging schließlich noch ums Weiterkommen.
Funktionierende Joker sind bei Turnieren traditionell von entscheidender Bedeutung - und Nagelsmann kann sich auf seine Einwechselspieler verlassen. Schon gegen Schottland trafen mit Füllkrug und Emre Can zwei Joker. Füllkrug ist mit nun vier Toren nach Einwechslungen sogar Deutschlands Rekord-Joker bei großen Turnieren.
Nagelsmann steht auf der Bank ein Repertoire an Spielern mit dezidierten Stärken zur Verfügung. Neben Füllkrugs Kaltschnäuzigkeit sind das beispielsweise Raums Flanken, Maximilian Beiers Tempo oder Leroy Sanés (bisher noch nicht zur Geltung gekommene) Dribbelstärke. Ganz wichtig auch: Sämtliche Ersatzspieler nehmen ihre Rollen tadellos an. Auch nach erfolgreichen Joker-Einsätzen forderte noch niemand öffentlich einen Startplatz. Das DFB-Team wirkt aktuell wie eine verschworene Einheit.