Rund eine Viertelstunde dauert die U-Bahnfahrt vom Münchner Marienplatz zur Arena im Norden der Stadt. Und weil es eine U-Bahnfahrt in München ist, natürlich bedeutend länger. Aber längst nicht so lange, dass den schottischen Fans vor dem EM-Eröffnungsspiel am Freitagabend das Liedgut ausgeht.
Jeder wichtige Spieler wird gewürdigt, von Mittelfeldmotor Scott McTominay bis "super" John McGinn ("better than Zidane"). Es folgen Lieder über Diego Armando Maradona, dem die Schotten bis heute dankbar sind, dass er England aus der WM 1986 geschummelt hat. Ach ja, England: Das Repertoire an lyrischem Hohn in Richtung des großen Rivalen ist schier unerschöpflich.
So wie an den vorherigen Tagen und Nächten in der Münchner Innenstadt arbeiten die Schotten selbstverständlich auch bei dieser U-Bahnfahrt zur Arena ihre abwechslungsreiche Liturgie ab - zur Begeisterung der local Germans. "Krass, wie viele Lieder die haben", raunt es durch eine Gruppe in schwarz-rot-gold. "Da war noch kein einziges doppelt!" Die Deutschen sind motiviert, sie wollen offensichtlich gesanglich dagegenhalten. Bier, Heim-EM und so weiter. Deutschlaaand! Deutschlaaand! Nach einigen Wiederholungen aber auch schnell langweilig. Das Lied über die Allee gibt es noch im Angebot, klar. Eine Straße, viele Bäume. Und nun? Mehr kommt nicht.
Die Diagnose ist klar: Das Problem ist hier eher nicht die fehlende Motivation, das Problem ist das fehlende Liedgut. Anders als in Schottland und vielen anderen Nationen gibt es in Deutschland keine gewachsene Support-Tradition bei Länderspielen. "Pssssst", belustigt über fehlende gesangliche Gegenwehr legen die Schotten in der U-Bahn irgendwann ihre Zeigefinger auf die Lippen - und dann ihre Hände um die Ohren. Deutschland, wir hören euch nicht!
DFB-Team: Fan-Initiative will die Stimmung verbessern
Situationen wie diese sollen künftig vermieden werden, zumindest wenn es nach der neuen "Stimmungs-Initiative" einer Gruppe DFB-Fans geht. "In den vergangenen Jahren war die Atmosphäre bei Länderspielen eher schlecht. Es gibt nur wenige, kurze Lieder. Einige deutsche Fans haben sich zusammengefunden, um das zu ändern. Sie haben sich neue Lieder überlegt und wollen sie jetzt beim Turnier etablieren", sagt Christian Exner im Gespräch mit SPOX. Exner ist Sprecher der deutschen Fanbotschaft, einer Anlaufstelle für DFB-Anhänger an den jeweiligen EM-Spielorten.
"Auslöser" für die Initiative war laut Exner "die Aufhebung des Monopols des Fanclubs Nationalmannschaft im vergangenen November. Seitdem können Fans eigene Fanclubs gründen und haben einen größeren Gestaltungsspielraum." Der 2003 gegründete "Fan Club Nationalmannschaft" war bis dahin exklusiv für alle Fanbelange rund um das DFB-Team verantwortlich, von der Ticket-Verteilung bis hin zu Choreografien. Was man sich darunter vorstellen kann, lässt schon sein zweiter Vorname vermuten: "Powered by Coca Cola".
"Mit der Öffnung für eigenständige Fanclubs machen wir uns auf den Weg, eine aktivere, authentischere Fankultur zu fördern", sagte DFB-Direktor Steffen Simon beim Kurswechsel im November. "Wir nehmen die Heim-EM 2024 zum Anlass, die Fanarbeit bei den Nationalmannschaften neu auszurichten und für alle zu öffnen." Tatsächlich gründeten sich daraufhin innerhalb kurzer Zeit etliche Fanclubs, rund 150 aus der ganzen Bundesrepublik schlossen sich zur "Stimmungs-Initiative" zusammen.
"Wir haun die Gegner raus": Sechs neue Lieder für Deutschland
Am Tag des Eröffnungsspiels gegen Schottland startete die Initiative ihre große Offensive. "Sie sind sie mit Megaphonen durch München gelaufen, haben die neuen Lieder gesungen und auf Zetteln die Texte verteilt", berichtet Exner. Auch bei der Fanbotschaft am Odeonsplatz lagen die Flyer aus. Zwei Ziele sind darauf vermerkt: Die Etablierung der neuen Fangesänge und einer "Steh- und Stimmungskultur in der Fankurve".
Dazu gibt es die Texte der sechs neuen Fangesänge inklusive eines Verweises auf die eigens eingerichtete Website fan-support-deutschland.de. Um in den Rhythmus zu kommen, werden einem die Lieder dort vorgesungen. Zum Beispiel eine Deutschland-Versionen des Party-Klassikers "Cowboy und Indianer":
Wir haun die Gegner raus,
packt besser schonmal eure Koffer. (Uh, ah!)
Heut lohnt es sich zu kämpfen,
denn nur der Sieg ist unser Ziel.
Hat's erstmal geklingelt,
werden wir euch zerlegen.
Das ist doch ganz normal.
Wir schmeißen alle raus,
und holn uns den Pokal!
"Bei den meisten Fans sind die neuen Lieder auf große Offenheit gestoßen. Schließlich hat jeder Interesse daran, bei den Spielen der Nationalmannschaft eine bessere Stimmung zu erleben", sagt Exner. Abends beim Eröffnungsspiel gegen Schottland wurden die Fangesänge auch im Stadion angestimmt. Am lautesten war es jedoch bei den altbekannten Klassikern - aufgrund ihrer Kürze und Einfachheit aber jeweils nur für einige Momente. Mit mehr Liedgut hätte sich die grandiose Stimmung unter den Fans wohl noch wuchtiger ins Stadion übertragen lassen.
Die Etablierung der Lied-Erfindungen gehe "natürlich nicht von heute auf morgen", weiß Exner. "Es dauert, bis sie bei den Fans ankommen. Aber je länger das Turnier geht, desto mehr könnte das fruchten." Am Mittwoch soll Stuttgart die neuen Lieder für Deutschland lernen.