Der 10. Juli 2016 sollte für alle Franzosen ein Tag des Triumphes werden und den vielkritisierten Trainer Didier Deschamps in eine Reihe mit Aime Jacquet und Roger Lemerre stellen. Mit beiden Trainern holte Deschamps als Spieler jeweils einen Titel und wurde Welt- und Europameister.
Doch die EM im eigenen Land endete mit dem bittersten Moment in Deschamps Karriere. "Ich finde keine Worte. Es wird Zeit brauchen, um das zu verarbeiten", sagte der Trainer der Equipe Tricolore nach der 0:1-Niederlage gegen Portugal im Stade de France: "Wir waren nicht gefährlich, nicht cool genug. In den entscheidenden Momenten hat uns etwas gefehlt."
Es war nicht das erste Mal, dass die bestens besetzte Nationalmannschaft unter Deschamps diesen Eindruck bei einem großen Turnier hinterließ. Bereits bei der WM 2014 war die Equipe Tricolore nah dran, doch auch im Viertelfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland fehlte Frankreich eben das gewisse Etwas.
Vier Jahre später scheint es so, als sei Frankreich nochmal stärker als bei den Turnieren zuvor. Doch Zweifel daran, dass die Mannschaft das "entscheidende Etwas" nun hat, sind durchaus präsent. Das liegt zum einen an der Instabilität der Defensive, zum anderen aber auch daran, dass sich die Frage nach Führungsspielern im Starensemble stellt.
Frankreich bei der WM 2018: Wackelige Defensive
Nach der Niederlage im EM-Finale vollzog Deschamps eine erneute Verjüngungskur des Kaders und sortierte mehr als ein Drittel der Spieler aus, die 2016 noch an Portugal scheiterten. Dem neuen Kurs fielen besonders die älteren Spieler zum Opfer. Frankreich spielte dennoch die beste WM-Qualifikation der Geschichte und qualifizierte sich erstmals seit 2006 wieder als Gruppenerster und ohne den Umweg über die Playoffs für die Endrunde.
Ausnahmetalente wie Ousmane Dembele, Kylian Mbappe und Thomas Lemar, sowie die schon etwas erfahreneren Paul Pogba, Antoine Griezmann und N'Golo Kante prägen mit temporeichem Fußball das Profil der Equipe Tricolore, die den vielleicht besten Kader aller WM-Teilnehmer besitzt. Die Offensive ist jung, dynamisch und zielstrebiger als noch 2016 geworden. Ein torhungriges Monster. Dort hat Deschamps die Qual der Wahl - sowohl taktisch als auch personell.
Die Defensive steht hingegen auf eher wackeligen Beinen. Zwar gewannen die Franzosen drei ihrer letzten fünf Testspiele, kassierten dabei aber auch sieben Gegentore. Mit Samuel Umtiti (FC Barcelona) und Raphael Varane (Real Madrid) ist die Innenverteidigung qualitativ hochwertig besetzt, doch beide können ihre Leistungen in der Nationalmannschaft noch nicht konstant und fehlerfrei abrufen.
Dass sich in das Spiel der Franzosen noch ab und an Leichtsinns- und Stellungsfehler einschleichen, mag durchaus mit dem jungen Durchschnittsalter der gesamten Mannschaft liegen, immerhin stellt Frankreich den zweitjüngsten Kader der WM-Endrunde. Doch nahezu alle Spieler, die potenziell für die erste Elf in Frage kommen, spielen im Verein auf höchstem internationalen Niveau.
WM 2018: Frankreich und die Suche nach dem Leader
Der Kader der Franzosen ist allein ob der Ansammlung an überragenden Individualisten titelreif, allerdings mangelt es an echten Leadern. Deschamps fordert, dass seine Spieler mehr Verantwortung übernehmen und benannte fünf Spieler, um der Mannschaft eine hierarchische Struktur zu geben. Denn seiner Meinung nach muss eine Mannschaft mehrere Leader haben.
"In meinen Augen gibt es drei Sorten von Chefs: den technischen, den körperlichen und den positiven Leader", sagte der 49-Jährige in einem Interview mit dem Sportmagazin Socrates. Technisch Hochbegabte gibt es im französischen Kollektiv zuhauf und N'Golo Kante ist mit seiner Robustheit und Zweikampfstärke prädestiniert für die Rolle als körperlicher Leader.
Doch positive Leader, die das Team führen, wenn es mit dem Rücken zur Wand steht, sind rar gesät. Torhüter Hugo Lloris hat innerhalb der Mannschaft zwar ein hohes Standing, gilt allerdings als zurückhaltend. Die Innenverteidiger Umtiti und Varane nehmen in ihren Vereinen jeweils die Rolle als Nebenmänner neben den eigentlichen Abwehrchefs Sergio Ramos und Gerard Pique ein.
Umso größer wird der Fokus bei der WM auf Antoine Griezmann liegen. Denn Paul Pogba, der jene Chefrolle jüngst für sich beanspruchte, trägt aktuell mehr zu einem Stimmungstief als zu positiver Stimmung bei.
Frankreichs Abschneiden bei WM-Turnieren
Jahr | Ergebnis | Letzter Gegner |
2014 | Viertelfinale | Deutschland (0:1) |
2010 | Gruppenphase | Südafrika (1:2) |
2006 | Finale | Italien (3:5 i.E.) |
2002 | Gruppenphase | Dänemark (0:2) |
1998 | Weltmeister | Brasilien (3:0) |
1994 | nicht qualifiziert | |
1990 | nicht qualifiziert | |
1986 | Dritter | Belgien (4:2 n.V.) |
1982 | Vierter | Polen (2:3) |
1978 | Gruppenphase | Ungarn (3:1) |
Pogba vor der WM in der Formkrise: "Diese Pfiffe tun weh"
Daran hat der Mittelfeldstar von Manchester United allerdings nur bedingt Schuld. Zwischen seinem Anspruch, die Führungsrolle im französischen Starensemble einzunehmen, und der Wirklichkeit, klafft aktuell dennoch eine große Lücke. Schließlich befindet sich der 25-Jährige aktuell in einem Formtief.
Im Testspiel gegen Italien am vergangenen Freitag lieferte er erneut eine dürftige Leistung ab. Als Reaktion darauf wurde er während des Spiels und bei seiner Auswechslung von den eigenen Fans ausgepfiffen. Einer Umfrage von France Football zufolge wünschen sich 73 Prozent der Franzosen, dass Pogba bei der WM lediglich eine Reservistenrolle bekleidet.
Pogbas Leistungstief ist das große Thema in der Vorbereitung der Franzosen auf die Endrunde in Russland. Doch Mitspieler sprangen dem in die Kritik geratenen Mittelfeldspieler zur Seite. "Solche Dinge sind eine Schande. Wir müssen Spieler wie ihn bewundern und froh sein, dass er für Frankreich spielt", sagte Kylian Mbappe nach dem überzeugenden 3:1-Sieg gegen Italien.
Selbst Corentin Tolisso, der noch um einen Stammplatz im Mittelfeldzentrum kämpft und bei der WM für einen formschwachen Pogba in die Startelf rücken könnte, zeigte sich erbost: "Diese Pfiffe bringen mich wirklich auf die Palme. Wir sind alle französische Spieler und kämpfen für das Land und unsere Fans. Diese Pfiffe tun weh"
Frankreichs Trainer Didier Deschamps: Der, dem alles gelingt
Die Reaktion von Pogbas Mitspielern - so sehr seine aktuelle Formkrise und die Reaktion der Fans auch die Stimmung bei Les Bleus trüben mögen - zeigt jedoch, dass Deschamps sein Ziel, eine Einheit zu bilden, zumindest Stand jetzt erfüllt hat. "Ich muss die Gruppe so führen, dass alle ihre gesamten Kräfte gemeinsam mobilisieren", sagte er gegenüber Socrates.
Das war in der skandalumwitterten Equipe Tricolore nicht immer so, denkt man an die beschämenden Ereignisse während der WM 2010 oder die Sextape-Affäre um Karim Benzema und Mathieu Valbuena zurück. "Deschamps ist einer, dem alles gelingt", adelte Verbandschef Noel le Graet seinen Nationaltrainer: "Unter ihm sind wir wieder eine Fußballnation geworden, die zählt."
In der Tat hat Deschamps nach seinem Amtsantritt 2012 schon jetzt die beste Bilanz aller Nationaltrainer Frankreichs. Zudem hat er es offensichtlich geschafft, aus einer Ansammlung an individuellen Weltklassespielern, eine Einheit zu formen. Diese hinterlässt jedoch vor der WM noch einen fragilen Eindruck.
Frankreichs Nationaltrainer: Deschamps nach Siegen vorne
Trainer | Spiele | Siege | Remis | Niederlagen | Tore | Punkte | Punkte/Spiel |
Diedier Deschamps | 75 | 47 | 13 | 15 | 147:64 | 154 | 2,05 |
Laurent Blanc | 27 | 16 | 7 | 4 | 40:17 | 55 | 2,04 |
Raimond Domenech | 78 | 41 | 23 | 14 | 110:57 | 146 | 1,87 |
Jacques Santini | 27 | 22 | 3 | 2 | 68:12 | 69 | 2,56 |
Roger Lemerre | 35 | 20 | 8 | 7 | 60:31 | 68 | 1,94 |