Der Regen prasselt gnadenlos nieder in Giesing. Die Farbe des Markers schmiert beim Schreiben, der Hinweis "wasserfest" ist durch die Regentropfen nur schwer zu entziffern. Die Karten mit den Spielerporträts weichen auf, sie kleben zusammen. Doch die Autogrammjäger stört das nicht. Sie erleben gerade ihr persönliches Highlight.
Um die 40 Kids dürften es sein, zwischen etwa acht und zwölf Jahren, die sich um die Profis von 1860 scharen. "Ist das der Sanchez?", ruft einer und sucht eifrig nach dem passenden Kärtchen, den Stift zwischen Unterarm und Bauch geklemmt. "Ich hab' Schindler", freut sich ein anderer Junge neben ihm und hält sein frisch ergattertes Autogramm auf einem Porträt des Löwen-Verteidigers hoch in den Regen.
Die anderen Mitstreiter sind noch auf der Jagd und umringen die vom Training erschöpften Spieler. Die Witterung, die jeden anderen vernünftigen Menschen dazu bewegt hätte, sich irgendwo unterzustellen, ist den Kids aus der 1860-Fußballschule egal.
An diesem Tag schauen sie am Trainingsgelände in der Grünwalder Straße vorbei, wo sie ihren Stars ganz nah sein dürfen. Viele von ihnen teilen den Traum vom Leben als Fußballprofi. Und zwar in seiner romantischsten Form, ohne mögliche Schattenseiten - durch Kinderaugen eben. Und wer weiß: Vielleicht wird einer von ihnen in einigen Jahren tatsächlich selbst zu den Autogrammschreibern gehören.
Nachwuchsförderung nach wie vor erstklassig
Für die Erfüllung dieses Traumes müssen unzählige Faktoren zusammenpassen. Doch bei 1860 München ist man als ambitionierter Nachwuchsspieler zumindest nicht an der falschen Adresse. Sportlich dümpelt 1860 zwar seit nunmehr zehn Jahren mehr schlecht als recht durch die Zweitklassigkeit - doch die Nachwuchsförderung hat in Giesing nach wie vor Premiumformat.
Erst Anfang des Jahres wurde das Nachwuchsleistungszentrum der Löwen erneut mit drei Sternen zertifiziert - mehr geht nicht. Obendrein gab es als besondere Auszeichnung einen Zusatzstern, den Präsident Gerhard Mayrhofer auf die hohe "Durchlässigkeit" und "Effektivität" zurückführte.
Tatsächlich brachten die Löwen in den letzten Jahren haufenweise große Talente hervor, die längst Bundesliga- und teilweise Nationalspieler sind. Lars und Sven Bender, Kevin Volland, Marcel Schäfer, Daniel Baier oder Moritz Leitner wurden allesamt im Nachwuchsleistungszentrum an an der Grünwalder Straße groß.
"Nur ganz wenige Vereine in Deutschland können eine solche Anzahl an Talenten aufweisen, die den Sprung zu den Profis geschafft haben", schwärmt NLZ-Leiter Wolfgang Schellenberg im Gespräch mit SPOX.
Außergewöhnlich hohe Durchlässigkeit
Schellenberg wirkt stolz. Es hat etwas Väterliches, wenn er über den Löwen-Nachwuchs spricht. Er selbst hat schon fast alle Jugendteams in Giesing trainiert, seit 2012 leitet er nun das NLZ.
"Bundesliga-Vereine können sich natürlich einen höheren Standard an Rahmenbedingungen erlauben. Wir müssen das mit unserer Qualität ausgleichen", sagt er und nimmt auf einem Barhocker vor der Sponsorenwand Platz. Ein Blick in den Raum, auf die improvisiert zusammengeschusterte "Pressetribüne" oder den mit vergilbten Medienlogos geschmückten Pressecontainer bestätigen den Eindruck: Erstklassigkeit sieht anders aus.
Die vielen finanziellen und strukturellen Nachteile gelte es mit einer eigenen, besonderen Qualität auszugleichen. Diese "spiegelt sich darin wider, wie viele Jungs den Sprung in den Profibereich schaffen. Das ist ein Riesenfaustpfand, das wir vielen Vereinen voraus haben", freut sich der 42-Jährige.
Auch im aktuellen Kader stehen wieder elf Spieler mit Vergangenheit im 1860-Nachwuchs. Kapitän Christopher Schindler trägt sogar seit 1999 das Trikot der Löwen.
Familienatmosphäre in Giesing
Doch es gibt noch andere Faktoren, die junge Talente zu 1860 locken. Dominik Stahl, seit zehn Jahren ein Löwe, schwärmt gegenüber SPOX von einer "sehr familiären Atmosphäre, die sich durch alle Bereiche zieht. Es gibt wenige Vereine, bei denen man so viel Kontakt zu den Profis hat."
Eine Atmosphäre, die man schon außerhalb der NLZ-Katakomben am Trainingsgelände wahrnimmt. Fans und Nachwuchsspieler kommen ihren Stars außergewöhnlich nah, abgeschottetes Training gibt es nicht.
Für die Anhänger gehört die Nähe zu den Spielern seit jeher dazu. Die alteingesessenen Fans sitzen im "Löwenstüberl" an blau-weißen Tischdecken, bewirtet von der 71-jährigen Christl, die dort längst Kultstatus erreicht hat, und fachsimpeln über die neuesten Probleme. Über den steinernen, lebensgroßen Löwen hinweg blicken sie mürrisch auf Trainingsplatz 1. Dort dreht die erste Mannschaft nur wenige Meter entfernt ihre Runden.
"Emotionale Bindung" als Schlüssel
Was für Fans ein sympathischer Randaspekt ist, hat für die Nachwuchsspieler eine weitaus wichtigere Bedeutung. "Zwischen dem Gebäude der Profiabteilung und dem NLZ liegen zehn Meter. Die Spieler spüren, dass sie hier im Profibereich eine Zukunft haben. Emotionale Bindung ist das alles Entscheidende", erklärt Sportgeschäftsführer Gerhard Poschner.
Allein diese räumliche Nähe kann für Junglöwen ein gewaltiger Ansporn sein. Sie arbeiten darauf hin, eines Tages nach dem Training nicht mehr am Stüberl vorbeimarschieren und links in die NLZ-Katakomben abbiegen zu müssen, sondern nach rechts. In die Kabinen der Profis.
"Die Spieler spüren, dass sie hier im Profibereich eine Zukunft haben. Das ist das alles Entscheidende", so Poschner. Man wolle vielversprechende Talente nicht bloß mit Profiverträgen an den Verein koppeln, sondern mit "emotionaler Bindung" - ermöglicht durch räumliche Nähe zu den Profis, eine familiäre Atmosphäre und eine außergewöhnlich hohe Durchlässigkeit.
Denn, wie auch Poschner klarstellt, "so ein Profivertrag ist am Ende des Tages nur ein Stück Papier". Dass ein Vertrag nicht immer als verpflichtendes Bindemittel taugt, hat nicht zuletzt die Posse um Hakan Calhanoglu im vergangenen Transfersommer bewiesen.
Selbstständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung
Darüber hinaus setzt man im Löwen-NLZ noch eine weitere markante Priorität: "
"Man wird schon früh sehr stark zur Selbstständigkeit erzogen", erzählt Stahl aus seiner Jugend. Er wurde einst von Ernst Tanner entdeckt und zog mit 15 Jahren ins 320 Kilometer entfernte München. "Ich musste mit 15 Jahren mein Leben in die Hand nehmen", so Stahl.
In Zeiten, wo talentierten Nachwuchsstars bereits die Welt zu Füßen gelegt und jeder Handgriff abgenommen wird, ist das keine Selbstverständlichkeit. Dabei sei Selbstständigkeit "ein ganz wichtiger Punkte der Persönlichkeitsentwicklung", mahnt Schellenberg. "Die Jungs müssen lernen, Entscheidungen zu treffen, auf dem Platz und neben dem Platz." Selbstständigkeit und Professionalität seien "entscheidende Faktoren neben Talent", sagt Schellenberg.
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