Man sieht es derzeit bei der Europameisterschaft in der einen oder anderen Fankurve: Geordnete Anfeuerung der Fans kann schwierig werden, wenn man niemanden hat, der den Ton angibt. Es geht freilich auch anders, selbst ganz ohne Einpeitscher lassen sich gesamte Ränge euphorisieren und sind in der Lage, dieselben Lieder zu singen.
Vorsänger von Ultra-Bewegungen, sogenannte Capos, sind im Kontext von europäischen Nationalmannschaften eher die Ausnahme. Eine noch größere Ausnahme, und nun gehen wir weg von der EM und richten den Blick auf den derzeit ruhenden Klub-Fußball, ist Williane Hocq.
Die ist 16 Jahre alt. Seit August 2022, damals war sie 14, ist Hocq die erste Vorsängerin, also Capa, in Belgien. Ihr Verein ist Sporting Charleroi - und zwar schon immer. "Ich habe meinen Mann bei Sporting kennengelernt. Wir haben sie mit dieser Leidenschaft angesteckt. Die Leidenschaft für das Stadion, die Leidenschaft, seine Mannschaft zu unterstützen", sagte Hocqs Mutter.
Also ging es für Williane früh in die Mambourg, wie das knapp 15.000 Zuschauer fassende Stade du Pays de Charleroi im Volksmund genannt wird. Sieben Jahre war sie alt, als sie erstmals bei einem Spiel dabei war. Auf ihrem Platz auf der Gegengerade blickte sie im Beisein ihrer Eltern fasziniert nach drüben zur T4, der Tribüne der heißblütigen Fans. "Ich rüttelte an meinem Trikot und feuerte mit meiner kindlichen Stimme an. Ich sah die Ultras singen und versuchte, mitzumachen", erinnerte sich Hocq in der französischen Sportzeitung L'Equipe.
Wie Williane Hocq in Charleroi zur ersten Capa Belgiens wurde
Der nächste Schritt in ihrer Fan-Karriere war vermutlich alternativlos. Hocq schloss sich 2018 den Wallon's Girls an, einer drei Jahre zuvor von ihrer Mutter gegründeten Fangruppe. Die steht auch auf T4 und zwar gleichberechtigt inmitten aller anderen Anhänger. Hocq ging in der Folge immer mehr in der Kurve auf, was selbst den härteren Jungs nicht entging.
"Ich bin eigentlich jemand gewesen, der Schwierigkeiten hatte, sich zu behaupten. Ein früherer Capo hatte mich einmal aufgefordert, am Ende eines Spiels auf das Podest zu klettern. Das hat mir Angst gemacht. Allein da rauf zu gehen, war eine monumentale Prüfung", sagte sie über ihr erstes Mal.
Den Test, wenn es denn überhaupt einer gewesen sein sollte, hat sie offenbar mit Bravour bestanden. Als ihr die Ultras schließlich eines der Podeste anboten, schlug Hocq zu - auch, um ihren Vater zu erfreuen: "Ich dachte, das könnte ihn stolz machen. Heute bin ich auch stolz auf mich, weil ich meinen Mut zusammengenommen habe."
Williane Hocq peitscht mit drei Männern die Fans von Sporting ein
Mittlerweile hat Hocq ihre zweite Saison als Capa hinter sich gebracht. Der Klub aus Wallonien schloss in der Jupiler Pro League auf Platz neun und 13 ab, was in etwa dem Leistungsniveau der Mannschaft entspricht. Der Start fiel ihr nicht leicht: "Am Anfang war ich sehr gestresst, weil ich mich vor den Leuten durchsetzen und meine Rolle finden musste. Es war nicht leicht, aber ich habe viel Zuspruch von den anderen Capos und meinen Freunden bekommen, die mir geholfen haben, mich dieser kleinen Angst zu stellen und wirklich alles zu geben."
Von Nervosität ist jetzt nichts mehr bei ihr zu sehen, Routine hat ihren Platz eingenommen. Hocq peitscht mit drei anderen, alles Männer, die Fans auf T4 ein. Ihr Podest ist mit der Aufschrift "Wiwi" markiert, ihrem Spitznamen. "Es ist eine wunderbare Rolle, weil du an dieser Stimmung und dieser Begeisterung teilhaben kannst, die die Menschen teilen, da sie mit der gleichen Leidenschaft und aus Liebe zum Fußball singen", sagte Hocq.
Längst hat sie sich den Respekt der Kurve erarbeitet. Man sei stolz darauf, dass eine junge Dame es wagte, diese Rolle zu übernehmen, heißt es unter Charlerois Fans. Zwar sieht Hocq mit Megafon ausgerüstet und dem Rücken zum Spielfeld gerichtet nur wenig von Sportings Partien, doch für sie gibt es Wichtigeres: "Es ist eine Flucht aus dem Alltag. Ich freue mich auf das Wochenende, um meine Freunde im Stadion zu sehen. Als Fan erlebe ich meine beste Zeit. Es macht mir Spaß, meinem Herzensverein zu dienen."
Capa Williane Hocq: Die Hoffnung auf mehr Frauen im Stadion
Seit sie Capa ist, veränderte sich auch viel an Hocqs Persönlichkeit. Ihre einstige zurückhaltende Art hat sie abgelegt: "Das hat mir mehr Selbstvertrauen und noch mehr Liebe für diese Kurve gegeben. An der Stelle der alten Capos zu stehen, die ich bewundert habe, ist rührend. Ich fühle mich geehrt. Mich in einer Position durchzusetzen, die normalerweise von Männern besetzt wird, ist ein bisschen wie ein Sieg."
Hocq will diesen Erfolg nutzen, um eine noch größere Vermischung von Frauen und Männern in den Fankurven zu bewirken. Sie hat die Hoffnung, dass ihre exponierte Stellung für viele Frauen ein Signal ist, um selbst auch häufiger gemeinsam mit Freundinnen ins Stadion zu gehen.
"Ich finde, das sollte normal werden, es sollte keine Überraschung sein. Es sollte für die Leute einfach alltäglich sein", sagte sie über ihr Dasein als Capa, das ihr naturgemäß einige mediale Aufmerksamkeit brachte. "Ich weiß, dass wir nicht viele sind und hoffe, dass es mehr werden. Wir gehören hier voll und ganz hin. Ich hoffe, dass meine Wenigkeit eine Wirkung hat, auch wenn es nur auf vier Mädchen ist. Das wäre doch schon etwas. Sie würden dann von anderen gesehen und nach und nach wird es sich hoffentlich ändern."