San-Pédro, eine Stadt in der Elfenbeinküste, an einem Mittwochabend Ende Januar. Heimische Fußball-Fans feiern eine Mannschaft, begleiten ihren Bus mit dankbaren Gesängen. Dabei ist es gar nicht die Mannschaft der Elfenbeinküste, der sie da zujubeln, sondern jene Marokkos.
Der 1:0-Sieg des WM-Vierten über Sambia an jenem Abend war gewissermaßen auch ein Sieg für die Elfenbeinküste. Denn es fehlte nur ein Tor von Sambia zum 1:1 und die ivorischen Gastgeber wären nach der Gruppenphase ausgeschieden. Bei ihrem Afrika-Cup, der doch ein großes Fest werden sollte - und es danach auch bekanntlich noch wurde.
Als die Partie zwischen Marokko und Sambia endete, lagen mehr als 48 turbulente Stunden des Zitterns und Bangens hinter Fans und Spielern der Elfenbeinküste. Die Ungewissheit schwang nun in Erleichterung um, die Blamage war abgewendet. Oder zumindest eine noch größere Blamage als das, was das stolze Fußball-Land zwei Tage zuvor erlebt hatte.
Der verrückte Afrika-Cup der Elfenbeinküste: Es endete beinahe früh im Desaster
Begonnen hatte der Heim-Afrika-Cup für die Elfbeinküste noch ordentlich. Als einer der Mitfavoriten auf den Titel ins Turnier gestartet, fuhr man im Eröffnungsspiel gegen Guinea-Bissau Mitte Januar einen 2:0-Sieg ein. Kein Glanzlicht gegen einen sehr limitierten Gegner - aber die Pflicht wurde erledigt, typischer Turnierauftakt irgendwie.
Als das Gipfeltreffen von Gruppe A gegen Nigeria am 2. Spieltag dann mit 0:1 verloren ging, wurde noch niemand panisch. Schließlich gingen die Ivorer als Favorit ins letzte Gruppenspiel gegen Äquatorialguinea. Und da neben dem Erst- und Zweitplatzierten ja auch noch die vier besten Gruppendritten weiter kommen, würde der Einzug ins Achtelfinale voraussichtlich nur Formsache sein, dachte man.
Doch dann kam alles anders. Die Partie gegen Äquatorialguinea, angeführt vom spanischen Drittliga-Kicker Emilio Nsue, endete in einer Blamage. Schon das 0:1 kurz vor der Pause war ein Schock, doch der Gastgeber kämpfte sich zurück ins Spiel - hatte allerdings viel Pech. Zweimal brandete riesiger und erleichterter Jubel in Abidjan auf, zweimal wurde der vermeintliche Ausgleichstreffer aber wegen Abseits wieder zurückgenommen.
Und dann nahm in der Schlussphase das Unheil seinen Lauf. Äquatorialguinea, weit entfernt von einem Schwergewicht im afrikanischen Fußball, schraubte das Ergebnis noch auf 4:0 in die Höhe. Spieler wie Ex-Barcelona-Star Franck Kessié oder Roma-Verteidiger Evan Ndicka wirkten wie paralysiert und auf der Tribüne konnte Elfenbeinküste-Legende Didier Drogba, der sein Land zweimal ins Finale des Afrika-Cups geführt hatte, nicht glauben, was er da sah.
Und scheinbar hatte Drogba nach der blamablen Niederlage jenes 22. Januar dann auch schon abgeschlossen mit dem Heimturnier. "Eine Nation wie die Elfenbeinküste darf nicht so ein Turnier organisieren und dann so früh ausscheiden, wie sie es heute getan hat. Wir haben ein echtes Problem", sagte der frühere Chelsea-Stürmer bei La Nouvelle Chaine Ivorienne.
Da Guinea-Bissau zeitgleich gegen Nigeria verlor, wurde die Elfenbeinküste aber Gruppendritter und hatte damit immerhin noch Chancen auf das Achtelfinale. Bei nur drei Punkten und einem Torverhältnis von 2:5 waren die Aussichten aber tatsächlich sehr düster.
Die Elfenbeinküste beim Afrika-Cup: Tage des Bangens und das Aus für den Trainer
Gefühlt ausgeschieden, begannen für die ivorischen Stars nach dem Debakel gegen Äquatorialguinea seltsame Tage. Bis gut 48 Stunden später die letzten Gruppenspiele beendet sein würden, mussten Kessié und Co. nun darauf hoffen, am Ende zu den vier besten Gruppendritten zu gehören.
Eineinhalb Tage nach dem Debakel gegen Äquatorialguinea war noch alles offen: Mit Ghana hatte bis dato ein Gruppendritter schlechter abgeschnitten als die Elfenbeinküste, das Weiterkommen war also weiterhin zumindest realistisch vorstellbar. Dennoch reagierte der Verband bereits vor dem Abschluss der Vorrunde mit der Entlassung von Trainer Jean-Louis Gasset. Der 70-jährige Franzose hatte das Team seit Mai 2022 trainiert, auch sein Co-Trainer Ghislain Printant bekam die Kündigung.
Als wenige Stunden später dann feststand, dass die Elfenbeinküste im Ranking der Gruppendritten vor Ghana und Sambia auf Platz vier landete und damit doch noch auf den allerletzten Drücker den Sprung ins Achtelfinale schaffte, brauchte man natürlich schnell einen neuen Trainer.
Man fragte bei Hervé Renard an, der die Elfenbeinküste schon einmal trainiert und 2015 zum Gewinn des Afrika-Cups geführt hatte. Und der Franzose hätte es auch gerne bis Turnierende gemacht, obwohl er aktuell auch die französische Frauen-Nationalmannschaft trainiert. Doch der französische Verband legte sein Veto ein, ein Einstieg Renards kam daher nicht zustande.
So ging man den machbaren und naheliegenden Weg und es schlug die Stunde eines bisherigen Assistenten von Gasset: Emerse Faé. Der 40-Jährige, einst selbst ivorischer Nationalspieler und unter anderem beim Afrika-Cup-Finaleinzug 2006 dabei, war plötzlich kein Nebendarsteller mehr, sondern stand selbst im Spotlight. Und wie nur wenige Tage später klar ist, im Spotlight einer für sein Land schon jetzt legendären Heldengeschichte.
Die Elfenbeinküste und ihre verrückte Story beim Afrika-Cup 2024: Die Auferstehung und ein Lied, das die Nation vereint
Eine 0:4-Blamage und Tage der quälenden Ungewissheit in den Knochen, ging es für die Elfenbeinküste im Achtelfinale gegen einen der Topfavoriten auf den Titel: Senegal um Superstar Sadio Mané wartete und strotzte nach drei Siegen in der Gruppenphase vor Selbstvertrauen.
Als dann auch noch bereits in der 4. Minute der Führungstreffer für Senegal fiel, hätte wohl kaum jemand noch einen Pfifferling auf die Ivorer gesetzt. Zu verunsichert wirkte die Mannschaft, zu viel schien passiert.
Doch nach einer wilden Anfangsviertelstunde biss sich die Elfenbeinküste nach und nach ins Spiel, bot dem großen Favoriten immer besser Paroli. Auf fünf Positionen hatte Faé die Startelf im Vergleich zur Pleite gegen Äquatorialguinea verändert, unter anderem rückten Leverkusens Odilon Kossounou sowie die Routiniers Serge Aurier, Max Gradel und Jean Michael Seri ins Team.
Auch dank ihnen konnten die Ivorer zunehmend eine sehr leidenschaftliche Atmosphäre im Stadion kreieren, der Glaube an die Wende war stets spürbar. Und man wurde belohnt, erhielt kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit einen Elfmeter, den Kessié verwandelte. In der Verlängerung passierte nichts, im Elfmeterschießen behielten alle fünf Ivorer die Nerven und versetzten das ganze Land in einen unglaublichen Freudentaumel.
"Der Druck vor dem Spiel war enorm", gab Coach Faé danach zu. "Der Spieltag zog sich viel zu lang für mich und ich konnte nicht wie sonst noch ein bisschen schlafen, weil ich über alle möglichen Szenarien nachdachte. Wenn ich sagen würde, ich hätte keinen Druck gehabt, würde ich lügen."
Die Untergangsstimmung nach dem Abschluss der Gruppenphase hatte sich exakt eine Woche später in eine riesige Euphorie verwandelt. Und in den Straßen des Landes war schon nach dem Achtelfinalsieg immer wieder ein Lied zu hören, das sich mittlerweile zu einer Art Hymne dieses Afrika-Cups entwickelt hat und das Underdog-Gefühl transportiert, das den Ivorern nach der nur haarscharf abgewendeten Total-Blamage einen positiven Antrieb verlieh: "On vaut rien, mais on est qualifié", singen die ivorischen Fans, was übersetzt so viel heißt wie: "Wir haben nichts drauf, aber wir sind weiter".
Der Afrika-Cup der Elfenbeinküste: Ganz viel Drama gegen Mali
Spätestens nach dem neuerlichen Drama im Viertelfinale gegen Mali hat das Lied der Fans auch in der Mannschaft Einzug gehalten. Offensivstar Nicolas Pépé teilte im Anschluss an den 2:1-Sieg nach Verlängerung ein Video aus dem Teambus, in dem auch die Spieler lauthals sangen: "Wir haben nichts drauf, aber wir sind weiter".
Der Traum vom Titel stand für die Elfenbeinküste vergangenen Samstag gegen Mali indes erneut kurz davor, ausgeträumt zu sein. In der ersten Halbzeit trat man zuweilen sehr fahrig auf und Keeper Yahia Fofana musste seine Mannschaft nach gut einer Viertelstunde mit einem herausragend gehaltenen Elfmeter vor einem frühen Rückstand bewahren.
Seit der Gelb-Roten Karte für Kossounou kurz vor der Pause dann in Unterzahl, kassierte der Gastgeber 20 Minuten vor dem Ende das 0:1 gegen ein starkes Mali. Aufgeben war aber natürlich nicht drin. Und das glückliche Händchen Faés tat das Übrige: Kurz vor Schluss wechselte er Simon Adingra ein und der Offensivmann von Brighton fasste sich in der 90. Minute ein Herz, nahm es mit Malis kompletter Abwehr auf, legte ab auf Seko Fofana - und versenkte dessen abgeblockten Schuss geistesgegenwärtig zum Ausgleich im Netz.
Und es kam sogar noch besser. Wieder Last-Minute, natürlich. Als alles sich schon auf ein erneutes Elfmeterschießen einstellte, landete ein abgewehrter Freistoß an der Strafraumgrenze bei Seko Fofana, der zog einfach mal volley durch und der eingewechselte Oumar Diakité fälschte den Ball entscheidend ab. Zweite Minute der Nachspielzeit der Verlängerung, 2:1, Ekstase pur.
"Ich sagte den Spielern, dass wir nach der Niederlage gegen Äquatorialguinea tot waren und nach dem Sieg Marokkos gegen Sambia wiederbelebt wurden", erklärte Trainer Faé hinterher gegenüber Caf Online. "Dieser Abend war wundervoll, wundervoll", frohlockte Rechtsverteidiger Aurier. Und Seko Fofana betonte, dass man aus der bittersten Stunde wichtige Lehren gezogen hat: "Nach dem Spiel gegen Äquatorialguinea haben wir eine mentale Stärke entwickelt, mit der wir nun alle Widerstände überwinden können. Die Senegalesen zum Beispiel hatten all ihre Spiele (in der Gruppenphase, d. Red.) gewonnen, mussten aber nie eine schwierige Phase überstehen."
Der Afrika-Cup der Elfenbeinküste: Der Traum, der immer noch lebt
Beinahe schon langweilig im Vergleich zum restlichen Turnierverlauf wurde dann am vergangenen Mittwochabend das Finale klargemacht. Ein Treffer von BVB-Star Sébastien Haller sorgte für einen 1:0-Sieg über die DR Kongo. Mit einem Volley-Aufsetzer (65.) traf der Stürmer zum verdienten Erfolg.
"Wir sind stolz darauf, dass wir all diese Menschen glücklich gemacht haben", sagte Haller über die spielentscheidende Szene. Als der Dortmunder noch überglücklich nach Worten rang, war auf den Straßen von Abidjan die Party bereits in vollem Gange. Mit Musik, Tanz und lauten Jubelgesängen feierten die Fußballfans der Elfenbeinküste ihre Mannschaft, die eigentlich längst totgesagt war. Nun steht den "Elefanten" im eigenen Wohnzimmer ein Traumfinale gegen Nigeria, welches sich parallel im anderen Halbfiale gegen Südafrika durchsetzte, bevor. Auch der Titelgewinn scheint nun möglich.
Haller, der die Misserfolge zu Turnierbeginn aufgrund einer Knöchelverletzung tatenlos verfolgen musste, fiebert dem spektakulären Duell entgegen. "Es reicht zu wissen, wie wichtig es ist", sagte der 29-Jährige: "Nigeria ist eine sehr, sehr gute Mannschaft, die uns in der Gruppenphase geschlagen hat. Also liegt es an uns, uns zu revanchieren."
Um am Ende eines turbulenten Turniers den dritten Titel des Landes in der Geschichte der Kontinentalmeisterschaft zu feiern.