Andrea Agnelli ist kein Fußballchef wie jeder andere. Er macht sich nicht rar, wenn es nicht läuft. Er macht sich eigentlich gar nicht rar, sondern ist sehr präsent. Mehr als Umberto, Gianni und Edoardo, die Vorgänger in der traditionsreichen Agnelli-Dynastie bei Juventus.
Seine Vorfahren hatten den Vorteil, dass sie seltener über große Krisen sprechen mussten als Andrea, auf dessen Maßnahmen und Lösungen die Millionen Fans von Juventus in den letzten Jahren immer wieder gespannt warten müssen.
Am Dienstagabend musste Agnelli erklären, wie es sein kann, dass Juventus mit Maccabi Haifa gegen einen Verein verliert, der seit über 20 Jahren keinen einzigen Punkt in der Champions League geholt hat. Nachdem Juventus zuletzt schon gegen den AC Monza verlor, der sein erstes Serie-A-Spiel in der Geschichte ausgerechnet gegen die Alte Dame gewann.
Agnelli musste erklären, warum seine Männer-Fußballabteilung in der Serie A mit zehn Punkten Rückstand auf den Spitzenreiter auf Platz acht steht und in der Champions League schon vor dem Aus steht. Warum Juventus vier Auswärtsspiele in Folge verloren hat und in der Ferne diese Saison noch gar keinen Sieg einfahren konnte.
Andrea Agnelli entließ noch nie einen Trainer während der Saison
Das ist für einen Klub wie Juventus eine große Katastrophe, anders kann man das nicht bezeichnen. Und so ist es selbst für einen Agnelli, der nicht nur Juventus-Boss ist, sondern auch dem Vorstand von Weltkonzern Fiat angehört, nicht einfach, eine Erklärung zu finden.
"Ich schäme mich", sagte er am Dienstag: "Ich bin extrem wütend." Viele, die es mit Juventus gut meinen, wollten von ihm eigentlich hören, dass er Trainer Massimiliano Allegri für die Misere verantwortlich macht und ihn für diese Erfolglosigkeit entlässt. Aber Agnelli denkt nicht daran: "Ich weiß, dass Fußball ein Mannschaftssport ist. Man gewinnt und verliert mit elf. Eine Situation wie diese hängt nicht von einer Person ab. Es kommt auf das Kollektiv an, und wir müssen wieder anfangen, als Einheit zu denken."
Es ehrt Agnelli, dass er und das Gremium um ihn herum nicht nur bei Allegri keinen kurzfristigen Aktionismus betreiben, ohne zu wissen, ob es überhaupt was bringen würde. Und es bedeutet eine gewisse Konstanz in den Handlungen, denn seit Andrea Agnelli Chef bei Juventus ist, gab es noch nie eine Trainerentlassung während der Saison.
Weder Luigi Delneri, der erste Coach in der Andrea-Agnelli-Ära, musste gehen, obwohl klar war, dass die Saison so endet, wie sie endete - nämlich mit Platz sieben. Noch mussten Maurizio Sarri oder Andrea Pirlo gehen, obwohl es auch bei ihnen nicht stimmte. Dass Sarri Meister wurde, sollte dennoch erwähnt werden, aber es passte chemisch nicht zusammen.
Juventus hat seine Struktur verloren
Warum also bei Allegri anfangen? Die italienischen Medien schießen sich zwar auf ihn ein und bringen die heute typischen Vorwürfe wie, dass er die Mannschaft verloren habe. Aber vielmehr ist es so, dass sich die Mannschaft selbst verloren hat. Juventus-Mannschaften hatten schon immer eine klare Struktur. Ein sehr guter Torhüter, noch bessere Innenverteidiger (früher auch mal Libero), Balancespieler im Zentrum und vorne immer ein fähiger Stürmer - mindestens einer.
Heute wirkt Juventus wie ein zusammengewürfelter Haufen, den so schnell kein Trainer so zusammenbasteln kann, dass es auf Anhieb funktioniert. Und genau da darf man wieder über Andrea Agnelli reden, denn der Zustand der Mannschaft hat auch viel mit seiner Person zu tun. Als Juventus ab 2012 einfach jeden Meistertitel in der Serie A holte, in der Champions League zweimal im Finale stand, dachte Agnelli, dass das zwar schön ist, aber nicht reicht. Er wollte nicht nur das CL-Finale spielen, er wollte es auch gewinnen.
2018 holte er dann Cristiano Ronaldo, um dieses Ziel zu erreichen. Keine Frage, kein Mensch der Welt braucht sich dafür entschuldigen, einen der besten Fußballer der Welt in sehr gutem Fußball-Alter von Real Madrid zu holen. Aber der Transfer hat mit Juventus etwas angestellt. Es hat etwas mit Beppe Marotta angestellt. Der heute 65 Jahre alte Mann aus Varese kam 2010 von Sampdoria als neuer Geschäftsführer.
Das, was ihm in Genua gelang, mit nachhaltiger Arbeit im Rahmen der Möglichkeiten Erfolg zu haben, war auch sein Auftrag in Turin. Und es gelang ihm mit Bravour. Wenn man lange Zeit darüber sprach, welch Geschick Juventus mit ablösefreien Spielern hat, hat das vor allem viel mit Marotta und seinem Gespür zu tun.
Beppe Marotta war der Meister der ablösefreien Spieler
In seiner Ära kamen Kaliber wie Paul Pogba, Andrea Pirlo, Sami Khedira, Dani Alves, Emre Can, Adrien Rabiot und selbst ein Kingsley Coman ablösefrei zu Juventus. Sie und viele andere bereicherten die Mannschaft sportlich enorm und steigerten ihren Marktwert, was Juventus Ablösesummen einbrachte. Juventus war eine in der Basis sehr gut aufgestellte Mannschaft, die national alles abräumte, international Nadelstiche setzte.
Dass man nun Ronaldo für unfassbare Summen holte, passte Marotta von Anfang nicht. Er sah da keine gute Entwicklung auf Juventus zukommen, aber Agnelli vertraute nicht der Expertise seines jahrelang erfolgreichen Geschäftsführers, sondern auf dessen rechte Hand Fabio Paratici, der im Auftrag von Agnelli den Ronaldo-Deal größtenteils klarmachte.
Marotta ging kurze Zeit nach der Ronaldo-Verpflichtung, heuerte bei Inter an, das nun eine erhebliche Entwicklung genommen hat.
Über 101 Tore in 134 Spielen muss man nicht großartig diskutieren, Ronaldo war als Einzelner sehr erfolgreich bei Juventus. Aber in diese Phase fallen auch Abgänge wie João Cancelo, der heute einer der besten Außenverteidiger Europas ist. Juventus musste sich Budget freischaufeln und kam zur Erkenntnis, dass man fähige Spieler abgeben könnte. Ronaldo riss ein finanzielles Loch in das jahrelang penibel durchgeplante Konstrukt.
Juventus: Der Verkauf von Cristiano Ronaldo war keine gute Idee
Als Juventus auf die Idee kam, Ronaldo wieder zu verkaufen, war es keine gute Idee mehr, weil Ronaldo sportlich dann nicht mehr zu ersetzen war und die Mannschaft inzwischen eine Entwicklung nahm, die vom Portugiesen abhängig schien. Nicht gut, wenn es den Spieler eigentlich schon wieder wegzieht und die Alternative im ersten Moment nur Moise Kean heißt.
Etliche Versuche später, die Mannschaft zu verstärken und einen Gesamtimpuls zu geben, versagten, weil die Balance nicht mehr stimmt. Weder finanziell noch sportlich. Sicherlich hat auch Allegri noch keinen erheblichen Beitrag dazu geleistet, dass zumindest ein Kern zusammenwächst und die Alte Dame zumindest wieder einigermaßen salonfähig ist, kann man ankreiden. Aber Allegri ist nicht das Problem und seine Demission wäre auch keine Lösung.
Für Agnelli war es eine persönliche Niederlage, dass er vier Leute, die er nach Marottas Abgang zum neuen Kreis von Chefs berief, schon wieder verlor. Inklusive Paratici sind alle drei Köpfe längst wieder weg: Marco Re (CFO), Giorgio Ricci (Chief Revenue Officer) und Paratici als Chief Football Officer. So muss Agnelli selbst öfter an die Front und als Stimme des Klubs agieren.
Aus der Stimme sollte aber bald auch Positives zu hören sein, sonst wird es auch für ihn ungemütlich. Es gibt durchaus viele Kritiker, die ihm vorwerfen, sich zu sehr um die Gründung der europäischen Liga denn mit seiner eigenen Mannschaft beschäftigt zu haben und er somit gar nicht erkennen kann, dass der Kader einen Trainerwechsel braucht.
Massimiliano Allegri moniert die Verletztenliste
Oder aber, was pikanter erscheint: Agnelli kann Allegri gar nicht entlassen, weil der Chefcoach bis 2025 an den Verein gebunden ist und eine Entlassung bis zu 36 Millionen Euro kosten würde. Als ein Juventus-Vorstandsmitglied zuletzt von einem Fan im TV mit einem "Allegri raus" konfrontiert wurde, sagte dieser: "Wenn ihr Fans das bezahlt, okay."
Es zeigt zumindest die Uneinigkeit in der Chefriege des Klubs, bei dem die oberste Instanz sehr klar formuliert, keinen Trainerwechsel zu machen, während offenbar nicht alle so denken. Und Allegri selbst? Der Italiener wirkt angeschlagen, aber nicht resignierend. Gebetsmühlenartig verwies er immer wieder auf die Personalsituation.
Paul Pogba, Ángel Di María und Federico Chiesa sind verletzt - drei Eckpfeiler, die Allegri gerne in seinem Team sehen würde. Aber der ständige Hinweis auf die Abwesenheit nervt auch das Publikum schon längst. Dass er nun die Mannschaft bis zum Derby am Sonntag gegen den FC Turin auf dem Vereinsgelände "einsperrt", könnte auch ein gutes Omen darstellen.
Schon einmal stand Allegri vor dem Rauswurf - es war die Saison 2015/16 -, als Juventus Ende Oktober in Sassuolo verlor und auf Platz zwölf abrutschte. Agnelli hörte auch damals nicht auf die Forderungen, Allegri zu entlassen und wurde dafür belohnt: Juventus triumphierte im Turiner Derby, der Siegtreffer fiel mit dem Hintern von Juan Cuadrado in der 93. Minute und es war der Beginn einer 15 Spiele andauernden Siegesserie, die mit dem Titelgewinn endete. Ob es diesmal so kommt? Der Glaube daran ist zumindest nicht ausgeprägt.