Unterhält man sich mit Julian Nagelsmann über Leroy Sane, dann geht es um den nach Meinung des Trainers besten Fußballer seiner Mannschaft. Und das soll was heißen bei dieser Hochbegabten-Auswahl, die sich der FC Bayern München hält. So sehr Nagelsmann aber die fußballerischen Fähigkeiten Sanes begeistern, so unerklärlich sind ihm dessen Leistungsschwankungen. In dieser Hinsicht geht es dem Trainer genau wie den Fans.
Sane umgibt etwas Rätselhaftes. Neben seinen extravaganten, aber zu selten abgerufenen fußballerischen Fähigkeiten liegt das sicherlich auch ein bisschen an seinem extravaganten Auftreten und seiner undurchschaubaren Körpersprache. Wohl kein Spieler des FC Bayern polarisierte, interessierte in der jüngeren Vergangenheit mehr als Sane. Zu niemandem wurde Nagelsmann in seiner ersten Saison als Bayern-Trainer öfter gefragt als über Sane.
Wann wird Sane zum konstanten Leistungsträger, als der er vor zwei Jahren für 60 Millionen Euro von Manchester City verpflichtet wurde? Wird er es bis zu seinem Vertragsende 2025 überhaupt noch? Warum glänzte er vergangenen Herbst wochenlang, nicht nur bei eigenem Ballbesitz übrigens, sondern auch gegen den Ball? Warum wirkte er im Frühling wieder so lethargisch?
Antworten gibt es keine, nur Mutmaßungen. Vielleicht spornten ihn im Spätsommer die Pfiffe der eigenen Fans an, die ihn dem Vernehmen nach emotional berührten. Vielleicht hemmte ihn später die wochenlange Abwesenheit von Alphonso Davies, mit dem er in der Hinrunde auf der linken Seite so gut kombiniert hatte. Außerdem litt er in der Rückrunde unter muskulären Problemen.
Wegen seines sagenhaften Talents wird bei Sane generell ganz besonders genau hingeschaut, von ihm mehr erwartet als von anderen. Rein statistisch ist seine Ausbeute nämlich gut: In bisher 90 Pflichtspielen für den FC Bayern gelangen Sane immerhin 52 Scorerpunkte. Erfolgreicher waren in diesem Zeitraum nur der abgewanderte Robert Lewandowski und Thomas Müller, Serge Gnabry (46) und Kingsley Coman (37) liegen dahinter.
FC Bayern München: Die Offensivspieler seit Sanes Ankunft 2020
Spieler | Pflichtspiele | Tore | Assists |
Leroy Sane | 90 | 25 | 27 |
Serge Gnabry | 87 | 29 | 17 |
Kingsley Coman | 72 | 16 | 21 |
Thomas Müller | 91 | 28 | 49 |
Jamal Musiala | 80 | 16 | 8 |
Robert Lewandowski | 86 | 98 | 16 |
Eric Maxim Choupo-Moting | 58 | 18 | 6 |
FC Bayern und der Konkurrenzkampf in der Offensive
Beim 5:3-Sieg im Supercup gegen RB Leipzig gelang Sane in der Nachspielzeit sein erstes Tor der neuen Saison. Es war eine gute Nachricht bei einem Spiel, das für Sane eher eine schlechte war: Beim ersten ernsthaften Gradmesser saß er zu Beginn nur auf der Bank und kam in der Schlussphase als letzter der prominenten Offensivspieler zum Einsatz.
In Nagelsmanns 4-2-2-2-System begannen Jamal Musiala und Thomas Müller hinter den flexiblen Stürmern Sadio Mane und Serge Gnabry. Der 19-jährige Musiala war an drei Treffern beteiligt, zeigte eine tolle Pirouette und bekam von Nagelsmann anschließend das Prädikat "Weltklasse" verliehen: "Wenn er so spielt, ist er nicht aus der Mannschaft wegzudenken."
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Für Sane dürften diese Worte des Trainers ein Alarmsignal sein: Die von Musiala gegen Leipzig ausgefüllte Position als linker Spielmacher wäre in diesem System eigentlich die, die Sanes Fähigkeiten am meisten entgegenkommt. Auch beim zuletzt vermehrt einstudierten 3-5-2-System befindet sich Sane in einem direkten Konkurrenzkampf mit Musiala (und letztlich auch Müller).
Für die Rolle als Schienenspieler ist Sane anders als Coman zu offensiv gepolt, für die vorderste Reihe fehlt ihm anders als Gnabry oder Mane die Wucht. Die beim FC Bayern über lange Jahre etablierten klassischen Flügelpositionen gäbe es in diesen beiden Formationen nicht mehr. Problematisch wäre das vor allem für den reinen Flügelspieler Coman, aber auch für Sane, der ihm von der Spielweise am nächsten kommt.
FC Bayern: Neuer Umgang mit Leroy Sane
Sane befindet sich seit seinem Leistungsabfall im vergangenen Winter in einer Negativspirale. Erst die enttäuschende Rückrunde, dann eine schwache Länderspielphase im Juni. "Es ist für ihn keine leichte Situation. Wir helfen ihm, aber er muss sich natürlich auch selber helfen", sagte DFB-Direktor Oliver Bierhoff. "Am Ende musst du dich als Spieler da rauskämpfen."
Rauskämpfen ist aber eher nicht so Sanes Sache. Bei ihm scheinen sich Positivität und Negativität gleichermaßen zu multiplizieren, eine Umkehr ist also multipliziert schwierig. Läuft es gut, kann Sane mit seinem Lachen die ganze Mannschaft anstecken. Läuft es schlecht, kann er sie mit seiner Attitüde auch runterziehen. "Manchmal nervt es mich, wenn er im Training die eine oder andere Sache nicht so ernst nimmt", sagte mal sein Teamkollege Joshua Kimmich.
Einem Bericht des kicker zufolge soll Sane beim FC Bayern auch wegen dieser Charakterzüge künftig eine Sonderbehandlung bekommen. Weniger Druck, mehr Freiheiten. Sowohl im Training als auch in der Ansprache. Durch die Ankunft der Superstars Sadio Mane und Matthijs de Ligt dürfte das öffentliche Interesse an Sane gleichzeitig etwas zurückgehen, wovon er durchaus profitieren könnte. Er wolle ohnehin nicht als "Superstar" oder "Glamourfigur" gesehen werden, wie Sane neulich bekundete.
Julian Nagelsmann über Leroy Sane: "Wir kriegen das hin"
Für Sane geht es aktuell nicht nur um einen Stammplatz beim FC Bayern, sondern auch bei der Nationalmannschaft während der Mitte November beginnenden Weltmeisterschaft in Katar. "Wir erwarten alle von ihm, dass es auf dem Platz knallt, dass er explodiert und Gas gibt", forderte Sportvorstand Hasan Salihamidzic für die neue Saison.
Die bisherige Vorbereitung aber verlief eher enttäuschend. Bei den beiden Testspielen gegen DC United (6:2) und Manchester City (0:1) stand Sane zwar jeweils in der Startelf, empfahl sich aber nicht nachhaltig und war an keinem Tor direkt beteiligt. Es folgte der Bankplatz samt später Einwechslung im Supercup gegen Leipzig.
Beim anschließenden Lob-Getöse um Musiala ging etwas unter, dass Sane nicht nur zum späten Endstand traf, sondern generell Schwung brachte. "Genau so sieht sein Spiel gut aus, wenn er so emotional, fast frech und entschlossen auf den Platz kommt", lobte Salihamidzic. Nagelsmann wollte diesmal dagegen "nicht so viel über Leroy sprechen", er sagte nur: "Ich mag ihn unfassbar gern. Er ist ein unfassbarer Fußballer. Wir kriegen das hin."