"Die können jetzt auch mal die Schnauze halten", entgegnete Emre Can nach dem Einzug ins Finale der Champions League all jenen, die im Laufe der Saison Kritik an Borussia Dortmund geübt hatten. Der emotionale Ausbruch des Kapitäns war sicherlich nachvollziehbar.
Schließlich hat der BVB auch trotz der Niederlage gegen Real Madrid allein durch die Teilnahme am Endspiel in Wembley sportlich wie wirtschaftlich einen Meilenstein erreicht. Jedoch, das müsste auch Can so einschätzen: Dieser große Erfolg darf keineswegs die große Diskrepanz zum Alltagsgeschäft Bundesliga übertünchen. Der BVB hat viel Arbeit vor sich, bei der das neue Führungstrio um Sport-Geschäftsführer Lars Ricken, Sportdirektor Sebastian Kehl und Kaderplaner Sven Mislintat direkt einer Belastungsprobe unterzogen wird.
Hinter den Westfalen liegt nun eine abermals in vielerlei Hinsicht - man könnte fast sagen: wie immer - außergewöhnliche Saison, die selbst für die Verantwortlichen schwer zu erklären ist. Auf der Sonnenseite, die lange Zeit während des laufenden Spieljahres kaum erreichbar schien, stehen die weichen und harten Faktoren, die der Lauf in der Königsklasse mit sich bringt.
Zunächst hat Dortmund über die Landesgrenzen hinweg einen großen Imagegewinn verzeichnen können, das Dasein als unbequemer Außenseiter im Konzert der ganz Großen verhalf dem BVB zu hohen Sympathiewerten. Dieses Renommee hat man sich mit leidenschaftlichen Auftritten verdient. Es dürfte schon in Bälde bei Spielerakquise und Kaderumbruch helfen.
BVB könnte die Top-10 der umsatzstärksten Vereine Europas erreichen
Noch dienlicher dafür sind allerdings die hohen Einnahmen, die nach einem Verlust von 151 Millionen Euro während der Corona-Pandemie auch dringend notwendig waren. Es wird erwartet, dass der Klub rund 150 Millionen Euro in der CL eingenommen hat. Nach dem verlorenen Endspiel 2013 gegen den FC Bayern waren es mit insgesamt 70 Millionen weniger als die Hälfte.
Der BVB könnte somit einen Konzernjahresüberschuss von 40 bis 50 Millionen Euro erreichen und selbst ohne Transfers erstmals die 500-Millionen-Marke beim Jahresumsatz knacken. Dies würde den Klub sehr wahrscheinlich in die Top-10 der umsatzstärksten Vereine Europas hieven.
Beendet ist die Spielzeit für die Dortmunder Funktionäre nun aber nicht. Wie immer trifft man sich in Bälde in großem Kreis, um das abgelaufene Jahr zu besprechen. Diese Analyse muss maximal kritisch ausfallen, die Reise bis nach London weitestgehend ausgeblendet werden.
BVB: Fakten sprechen eine deutliche Sprache
Ob das im Vorjahr der Fall gewesen ist, darf angezweifelt werden. Es erweckte vielmehr den Anschein, als habe die Beinahe-Meisterschaft die schwache Hinrunde kaschiert. Diesmal sollte dies anders gehandhabt werden: Zu viel Schotter liegt unter dem Meilenstein, der sich durch regelmäßig enttäuschende Darbietungen der Mannschaft in der Bundesliga angehäuft hat.
"Platz fünf ist nicht unser Anspruch. Wir müssen in der nächsten Saison in der Liga wieder einen Schritt nach vorne machen", hatte Kehl kürzlich bei den Ruhr Nachrichten gesagt. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Aussagen nicht als schnöder Allgemeinplatz entpuppen.
Die Fakten sprechen nämlich eine deutliche Sprache: Dortmund holte acht Punkte weniger als noch in der Saison zuvor, Rang fünf bedeutete zudem die schlechteste Platzierung seit 2015. Der BVB darf sich freilich selbst auf die Schulter klopfen, muss zugleich aber auch einen herzlichen Dank nach München und Leverkusen schicken, dass die internationalen Erfolge der deutschen Teams den fünften Platz für die erneute Teilnahme an der Königsklasse freigemacht haben.
BVB-Kader steht vor einem weiteren größeren Umbruch
Die Verantwortlichen müssen aufarbeiten, weshalb auf internationalem Terrain exzellente (Willens-)Leistungen wie gegen Atlético und Paris in der Liga durchweg ausblieben und man dort so häufig nicht an sein Limit kam. Gerade gegen die vier vor den Dortmundern platzierten Teams (Leverkusen, Stuttgart, Bayern und Leipzig) spielte man unter Niveau und war spielerisch teils deutlich und erschreckend schwächer. Die Bilanz mit nur einem Sieg und fünf Zählern aus diesen acht Partien ist ein Warnsignal.
Hätte es den nun von den Königlichen unterbrochenen Siegeszug in der Champions League nicht gegeben, auch die Zukunft des im Winter kurz vor der Entlassung gestandenen Trainers Edin Terzic wäre wieder hitzig diskutiert worden. Terzic hat sich so natürlich ein weiteres Jahr redlich verdient.
Nun liegt es an ihm, vor allem jedoch an der Arbeit der neuen Führungstroika, mit welcher Mannschaft die notwendigen Kurskorrekturen vorgenommen werden können. Der Kader steht vor einem weiteren größeren Umbruch, der nur gelingen kann, wenn Ricken, Kehl und Mislintat auf dem Transfermarkt in dieselbe Richtung arbeiten.
BVB benötigt in jedem Mannschaftsteil Verstärkung
Dort verlief der vergangene Sommer für den BVB reichlich unharmonisch. Die kontroverse Verpflichtung des in seiner ersten Saison enttäuschenden Felix Nmecha, der kurz vor dem Vollzug geplatzte Wechsel des Sechsers Edson Alvárez, zwischen Kehl und Ex-Amsterdamer Mislintat verhandelt (!), sowie der späte Griff nach Niclas Füllkrug - eine von Einigkeit geprägte Zusammenarbeit aller Beteiligten war dies bei weitem nicht.
Mehr Geld ist nun vorhanden, die Möglichkeiten bei Transfers sind größer geworden. Doch sie müssen auch sitzen, wenn der Besorgnis erregende Trend in der Liga umgekehrt werden will. In jedem Mannschaftsteil wird Verstärkung benötigt.
Muss der BVB in der nächsten Saison auf Mats Hummels verzichten, braucht es einen Innenverteidiger erster Güte. Rechts in der Viererkette besteht wie im defensiven Mittelfeld dringender Handlungsbedarf. Der Abgang von Marco Reus muss kompensiert werden, eventuell auch der des besten Dortmunder Bundesligatorschützen Donyell Malen. Auch im Sturm sollte Füllkrug größere Konkurrenz bekommen.
Dem Team muss in Gänze, also nicht nur innerhalb einer potentiellen Startelf, Qualität hinzugefügt werden. Vor Ricken, Kehl und Mislintat liegt also sofort eine wichtige Mission, die einen ersten Eindruck ihrer Zusammenarbeit geben wird. Die gemeinsame BVB-DNA sollte sie eigentlich dabei zusammenschweißen.
BVB: Die Daten zur Saison 2023/24 von Borussia Dortmund
Wettbewerb | Spiele | Siege | Unentschieden | Niederlagen |
Bundesliga | 34 | 18 | 9 | 7 |
Champions League | 13 | 7 | 3 | 3 |
DFB-Pokal | 3 | 2 | - | 1 |