Im Interview mit SPOX und GOAL spricht Anton über die Gründe für den herausragenden Saisonstart der Stuttgarter, seine Trainingsduelle mit Torjäger Serhou Guirassy und erklärt, welchen Anteil Trainer Sebastian Hoeneß am Aufschwung des VfB hat.
Der 27-Jährige äußert sich zudem zu seiner einstigen Absetzung als Kapitän bei Hannover 96, einem möglichen Anruf vom DFB und klärt sein Namens-Wirrwarr auf.
Herr Anton, 22 Jahre Ihres Lebens haben Sie in Hannover verbracht, wo sehr feines Hochdeutsch gesprochen wird. Nun sind Sie schon seit 2020 im Schwabenland. Wie groß war anfangs der sprachliche Kulturschock?
Waldemar Anton: Das war ein riesiger Unterschied, den ich so nicht erwartet hatte. Die richtigen Schwaben habe ich so gut wie nicht verstanden. Unser Zeugwart Michael Meusch war damals so etwas wie mein erster Ansprechpartner. Wenn der mal losgelegt hat, das war richtig krass. (lacht) Ich musste mich anfangs schon einige Male ziemlich konzentrieren.
Was ist für Sie mittlerweile typisch schwäbisch?
Anton: Ich bin ein sehr offener Mensch. Der Schwabe braucht ein wenig länger, bis er sich öffnet. Da wird erst abgetastet. Sobald das aber erledigt ist, ist es sehr herzlich.
Sie werden von Menschen aus Ihrem näheren Umfeld als einer der ruhigsten und besonders entspannten Zeitgenossen beschrieben, die es im Fußball gibt. Auf dem Platz jedoch sind Sie ganz anders. Woher kommt das und trifft es in Ihren Augen überhaupt zu?
Anton: Ja, zu hundert Prozent. Ich glaube, das hängt damit zusammen, wie ich aufgewachsen bin. Ich hatte keine Geschwister, mit denen ich über alles sprechen konnte. Meine Eltern waren sehr mit ihren Berufen beschäftigt und als wir nach Deutschland kamen, war auch kaum Verwandtschaft hier. Ich habe schon immer das meiste mit mir selbst ausgemacht. Bevor ich etwas sage, denke ich erst einmal nach.
Waren Sie denn auf dem Fußballplatz dagegen schon immer extrovertiert?
Anton: Komischerweise schon. Egal, ob beim Fußball, beim Kartenspielen oder Völkerball - ich wollte immer gewinnen und war extrem sauer, wenn mir das nicht gelang. Das war ein riesiges Thema in meiner Kindheit und schon auch ein Problem. Nach Niederlagen konnte man ein paar Stunden nicht mit mir sprechen. Bei mir waren dann immer die anderen Schuld. Das habe ich zwar nicht verbal artikuliert, aber meine Gestik und Mimik waren für alle ziemlich eindeutig.
Es heißt auch, dass Sie in der Mannschaft der absolute Chef sein sollen - schon bevor Sie in diesem Sommer das Kapitänsamt übertragen bekommen haben. Sehen Sie das auch so?
Anton: Das war ein Prozess. Ich bin grundsätzlich schon ein Typ, der vorangeht und Siegeswillen verkörpert, aber anfangs habe ich auch in Stuttgart nicht besonders viel geredet. Es klingt plump, aber entscheidend für eine solche Entwicklung ist immer die eigene Leistung. Dazu habe ich leider schon einige Abstiegskämpfe mitmachen müssen, so etwas stählt einen natürlich auch.
Was macht Sie Ihrer Meinung nach als Kapitän aus?
Anton: Ganz wichtig ist in meinen Augen zu verstehen, wie man mit den einzelnen Spielern sprechen muss. Ich glaube, das kann ich sehr gut. Ich weiß, wie man mit wem umzugehen hat. Ich spreche auch Dinge an, die mal wehtun können, aber das vor allem deshalb, weil ich es nicht aushalten kann, wenn alle nur den Mund halten. Diskussionen innerhalb einer Mannschaft sind immer fruchtbar, ob über positive oder negative Themen. Wir haben hier im Team aber glücklicherweise einige Jungs, die vorangehen. Das ist keine One-Man-Show.
Sie waren in Ihrer Karriere schon einmal Kapitän: Im August 2018 ernannte Sie André Breitenreiter in Hannover dazu. Damit waren Sie mit 22 der jüngste Spielführer der damaligen Bundesligasaison. Sieben Monate später steckte der Verein tief im Abstiegskampf und Sie waren das Amt wieder los - Thomas Doll berief den 29-jährigen Marvin Bakalorz. Kam es überraschend für Sie, dass Doll das Gespräch gesucht hat?
Anton: Das war für mich im ersten Moment ehrlich gesagt unerklärlich. Ich habe zwar meine Leistung nicht so abgerufen wie erhofft. Das wäre aber auch ohne die Binde nicht anders gewesen. Als ich später auf die Saison zurückblickte, stellte ich fest, dass ich als Kapitän viel zu viel Verantwortung übernehmen wollte. Ich wollte alles selbst regeln. Da war mir noch nicht klar, dass man auch ein paar Aufgaben an andere Wortführer in der Mannschaft delegieren sollte. Ohne diesen Lerneffekt wäre ich heute vielleicht nicht Kapitän beim VfB.
Doll sprach auch vom "Rucksack, den er durch das Kapitänsamt mit sich herumträgt und die vielen Verpflichtungen, die damit verbunden sind". Stimmt es, dass Sie seine Entscheidung als Erleichterung empfunden haben, wie Doll sagte?
Anton: Letztlich war der Rucksack auch danach nicht weg. Ich hatte ja immer noch genügend Verantwortung. Was mich erleichtert hat war die Tatsache, dass man das dann auf mehrere Schultern verteilte und ich weniger im Fokus stand.
Wie blicken Sie auf sich von damals verglichen mit heute?
Anton: Meine Einstellung an sich hat sich nicht verändert, aber ich gehe mittlerweile deutlich gelassener in die Spiele, bin auch im Training lockerer und stelle mir weniger Fragen zum großen Ganzen. Ich gebe jeden Tag im Training alles. Trotzdem ist es unmöglich, in jedem Bereich die hundert Prozent zu erreichen. Das ist auch der falsche Ansatz, habe ich gelernt. Es ist wichtiger, dass man gemeinsam Spaß hat, aber dabei trotzdem jeden Tag alles gibt.
Als Sie in Hannover Kapitän wurden, hatten Sie 35 Bundesligaspiele absolviert. Nun sind es fünfmal mehr und Sie führen mit 27 den VfB Stuttgart aufs Feld, der aktuell unter Trainer Sebastian Hoeneß einen echten Höhenflug erlebt. Wie viel davon ist Trainerarbeit und wie viel einem guten Kader geschuldet?
Anton: Der Trainer hat einen enormen Anteil daran. Bei uns hieß es ja in den Vorjahren auch schon immer, dass die Mannschaft Qualität hat. Das hat sie definitiv, aber erst jetzt kommt das so richtig zum Vorschein - dank des Trainers. Er weiß genau, wie er mit uns Spielern umgehen muss. Wir funken menschlich wirklich auf derselben Wellenlänge. Dazu stellt er uns taktisch sehr gut ein und lässt uns auch unsere eigenen Ideen einbringen.
Dennoch steckt in einer solch erfolgreichen Serie doch auch stets ein gewisses Maß an Unerklärlichkeit, oder?
Anton: Definitiv. Aktuell funktioniert einfach alles. Wenn die Einwechselspieler reinkommen, bringen sie sofort ihre Leistung. Auch im Training ziehen alle mit, ohne eine Miene zu verziehen, weil der Konkurrenzkampf riesig ist und auch hochgehalten wird, was eminent wichtig ist. Was auch gilt, wenngleich die Erklärung simpel erscheint: Harte Arbeit zahlt sich immer aus.
Heißt das dann, das zuvor nicht so hart gearbeitet wurde?
Anton: So will ich das nicht verstanden wissen! (lacht)
Das war zu vermuten.
Anton: Spaß beiseite: Es ist wie Sie sagen, man kann nicht alles bis in den letzten Winkel plausibel begründen. Es haben in den Vorjahren aber gewiss ein paar der aktuellen Puzzleteile gefehlt.
Der sportliche Erfolg ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass kurz vor Saisonstart mit dem vorherigen Spielführer Wataru Endo, Konstantinos Mavropanos und Borna Sosa drei Leistungsträger den Verein verließen. Wäre es Ihnen lieber, Endo wäre noch da und Sie wären kein Kapitän?
Anton: Ja, weil Wataru ein super Spieler und Mensch ist. Das Gleiche gilt im Übrigen für Angelo Stiller, der nach Watarus Wechsel zu uns kam und seitdem einen überragenden Job macht.
Hand aufs Herz: Wenn Sie ähnlich abrupt wie Endo ein Angebot aus der Premier League bekommen würden, wie würden Sie reagieren?
Anton: Man macht sich über jedes ernsthafte Angebot eines großen Klubs Gedanken, so ehrlich muss man sein. Erst Recht, wenn etwas Unglaubliches kommen sollte. Ich bin aber jemand, der sehr schwer einen Ort verlassen kann, wenn es ihm und seiner Familie gutgeht. Und das tut es hier für uns. Ich bin sehr froh in Stuttgart. Es gab bisher nicht einen einzigen Tag, an dem ich weg wollte.
Was wollen Sie in Ihrer Karriere noch erreichen, reizt Sie vielleicht eine bestimmte Liga?
Anton: Ich will jedes Spiel gewinnen, mit diesem Ziel gehe ich hinein. Mein absoluter Traum ist es, eines Tages die Champions League zu gewinnen. Das ist derzeit natürlich nicht besonders realistisch, aber man muss träumen und sich immer wieder Ziele setzen. Nur so hält es dich als Profi gewissermaßen am Leben, dass du jeden Tag alles für deinen Beruf gibst, vor wie nach dem Training und den Spielen.
Einer der wichtigsten Leistungsträger ist ja auch noch da: Serhou Guirassy, der wie am Fließband trifft und derzeit bei 13 Toren nach sieben Partien steht. Wie sieht es denn bei ihm aktuell im Training aus, haut er da auch jeden Schuss rein?
Anton: Da sieht es sehr ähnlich aus, ja. Seine Form ist momentan echt irre, hoffentlich hält das noch eine Weile an. Was ihn neben den Toren so wertvoll für uns macht, sind die vielen Räume, die er dank seiner Laufwege kreiert. Er ist immer anspielbar. Dazu stets sehr demütig, er arbeitet sehr intensiv an sich und tut viel für seinen Körper. Er macht uns in jedem Training besser.
Wie läuft's bei Ihnen, wenn Sie gegen ihn spielen müssen?
Anton: Gegen mich macht er keinen Stich - aber er ist schon ein guter Gegenspieler! (lacht) Als Verteidiger im Training gegen einen Stürmer mit diesem Lauf zu spielen, das ist überragend. Man zieht sich richtig an der Herausforderung hoch. Wir kennen uns natürlich auch gut, ich kann vieles von seiner Spielweise und er von meiner antizipieren. Es sind ganz ordentliche Duelle zwischen uns derzeit.
Dem VfB sind aufgrund der wirtschaftlichen Lage voraussichtlich die Hände gebunden, sollte ein werthaltiges Angebot für Guirassy eintreffen. Wie realistisch ist es, dass er in der kommenden Saison noch für den VfB spielt?
Anton: Wenn er so weitermacht, wird das Interesse der Top-Klubs an ihm sicherlich immer größer. Am Ende wird er selbst darüber entscheiden, ob er sich bei einem solchen Verein versuchen möchte. Ich kann mir schon vorstellen, dass ihn das vielleicht reizt. Andererseits ist alles offen und es genauso gut möglich, dass er bleibt - weil er ja auch weiß, was er am VfB hat und sich hier sehr wohlfühlt.
Apropos reizen: Die EM in Deutschland steigt im kommenden Jahr. Sie wurden 2017 mit der deutschen U21 Europameister, Ihr letztes Spiel im DFB-Dress datiert vom 30. Juni 2019 - dem verlorenen Finale bei der U21-EM. Wie sehr ist es Ihr Ziel, noch auf den Zug zur EM aufzuspringen?
Anton: Es wäre natürlich geil und ein nächster Schritt für mich, aber ich gehe sehr entspannt damit um. Ich habe mitbekommen, was der Trainer über mich dazu gesagt hat. Das war sehr schön. Bisher gab es noch keinen Kontakt. Wenn ein Anruf käme, würde ich aber schon abnehmen. (lacht)
Kontakt gab es jedoch bereits mit Russland, als Stanislaw Tschertschessow dort noch Nationaltrainer war. Sie könnten für die Sbornaja spielen, da Ihre Eltern und Großeltern dort lebten.
Anton: Auch in dieser Hinsicht ist noch nichts passiert. Ich habe immer betont, dass ich mich hier wie dort zu Hause fühle. Aktuell stellt sich diese Frage ja aber sowieso nicht.
Ein Großteil Ihrer Familie lebt dort, Russland ist für Sie ein Stück Heimat, wie Sie im SPOX-Interview im Februar 2021 erzählten. Wie blicken Sie daher auf den Krieg gegen die Ukraine?
Anton: Meinen Familienmitgliedern geht es zum Glück gut, aber es ist einfach für jeden belastend. Man hat den Krieg stets im Hinterkopf. Ich wünsche mir, dass er so schnell wie möglich endet.
Sie sind einst im Alter von zwei Jahren mit Ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Auf einmal stand in Ihrem deutschen Pass der Vorname Waldemar - dabei heißen Sie eigentlich Wladimir. Wie kam das zustande?
Anton: Das ist echt eine interessante Frage, die habe ich meinen Eltern so konkret noch gar nicht gestellt. Da muss ich mal nachforschen! Soweit ich aber weiß, hatten meine Eltern wenig damit zu tun. Die konnten ja damals auch kein Wort deutsch. Ich denke, das wurde bei der Einreise und der Ausstellung des deutschen Passes einfach von den Behörden der Einfachheit halber verändert.
Nennt Sie heute noch jemand Wladimir?
Anton: Nein, kein Mensch. Beim VfB sagen alle Waldi zu mir. Die russische Übersetzung von Waldemar ist Wowa - so nennen mich meine gesamte Familie und meine Kumpels.
Warum haben Ihre Eltern denn damals das Land verlassen?
Anton: In unserer Region in Usbekistan gab es unzählige Erdbeben. Die gefährliche Lage vor Ort war letztlich der Hauptgrund für sie. Zudem lebte und arbeitete mein Opa bereits in hier und der hat natürlich schon immer von Deutschland geschwärmt.
Seitdem und bis heute fährt Ihr Vater in Hannover Linienbus. Sie sollen als Kind und Jugendlicher mit ihm mitgefahren sein, um gemeinsam Zeit verbringen zu können. Wie lief das genau ab?
Anton: Er fuhr damals auf drei, vier unterschiedlichen Linien. Ich bin immer für ein paar Haltestellen eingestiegen und saß diagonal rechts von ihm auf dem vorderen Einzelsitz. Wir haben dann einfach geplaudert, über die Schule, den Fußball und so weiter. Manchmal hat es auch gepasst und ich konnte mit ihm direkt zum Training bei 96 fahren.
Vor zwei Jahren haben Sie einmal erzählt, dass Sie Ihre Eltern davon überzeugen wollten, nicht mehr zu arbeiten. Sie würden dann für sie sorgen - das wurde aber abgelehnt. Warum?
Anton: Ich habe meinen Eltern extrem viel zu verdanken. Da empfinde ich es als selbstverständlich, etwas zurückzugeben. Ihnen jedoch das Arbeiten auszureden, ist unmöglich. Sie haben dort jeweils sehr viele ihrer Freunde kennengelernt und befürchten, dass ihnen etwas wegbricht, wenn sie nicht mehr hingehen. Es macht ihnen auch weiterhin Spaß. Ich habe es daher fast schon aufgegeben, sie zu überzeugen. Ein bisschen versuche ich es aber noch, wenngleich ich ihre Gründe natürlich auch verstehen kann.