Die Fakten sind ja offensichtlich, die Rechnung ist leicht, jetzt, da die Saison langsam überreif wird: Vier Siege aus den letzten vier Spielen und der FC Bayern München ist tatsächlich ganz sicher zum elften Mal hintereinander Deutscher Meister.
Um die Fakten zu untermauern, hätte es Thomas Müllers kurzen Auftritt in der Mixed Zone nach dem 2:0 gegen den Tabellenletzten Hertha BSC also nicht gebraucht.
"Da simmer wieder! Wir holen das Ding! Das könnt ihr schreiben!", exklamierte Müller ohne den Hauch von Ironie.
Zu normaleren Zeiten wären Müllers drei kurze Ausrufezeichensätze natürlich genauso unnötig und komisch gewesen, jedoch aus ganz anderen Gründen. Doch was ist derzeit schon normal beim FC Bayern?
Am Sonntag untermauerte Müllers Auftritt erneut die Frage, wie verunsichert die Mannschaft eines vielleicht bald elfmaligen Serienmeisters sein kann, wenn nun schon ein äußerst mühsames und komplett glanzloses 2:0 gegen einen sehr wahrscheinlichen Absteiger als Brustlöser herhalten muss.
Drei Thesen zum Sieg der Münchner gegen Hertha BSC.
FC Bayern: Die Selbstverzwergung ist besorgniserregend fortgeschritten
Ja, der FC Bayern mag sich durch den Sieg gegen den wahrscheinlichen Absteiger Hertha und dank der freundlichen Mithilfe des BVB und des Schiedsrichtergespanns beim 1:1 von Borussia Dortmund beim VfL Bochum den womöglich entscheidenden Vorteil im Schneckenrennen um die Meisterschale erspielt haben.
Ja, die Bayern taten Hertha nicht den Gefallen, irgendwann den Raum für Konter zu öffnen. Und ja, die Münchner blieben, wie von Trainer Thomas Tuchel vorgegeben und gewünscht, gegen die sehr tief stehenden Berliner "ruhig und diszipliniert" im "absoluten Geduldsspiel", wie Joshua Kimmich sagte. Der Mittelfeldspieler lobte seine Mannschaft gar für eine "reifere Leistung als in den letzten Wochen". Da hätte die Mannschaft irgendwann "eher ein bisschen den Kopf" verloren, hätte angefangen, "ein Risiko zu nehmen, wo kein Risiko angebracht" gewesen wäre und Fehler gemacht.
"Ich fand's spielerisch gar nicht so schlecht heute. Wir haben uns nicht Chance um Chance erspielt, aber die Kontrolle war da, wir haben keine blöden Standards zugelassen, keine Konter kassiert. Ich war eher überrascht, dass wir die Fähigkeit hatten, auch geduldig zu bleiben", ergänzte Kimmich.
Diese Umstände und Verbesserungen lobend zu erwähnen, ist für Trainer und Spieler absolut legitim. Aber natürlich ist das genauso wenig bayernlike wie die aktuelle, oft komplett ideen- und ziellos wirkende Spielweise des deutschen Rekordmeisters.
Hatte man unter Tuchels Vor-Vor-Vorgänger Niko Kovac einst zuweilen den Eindruck, dass der Coach einer intakten Weltklassemannschaft die Freude am Spiel nahm und sie bremste, indem er sie Underdog-Fußball spielen ließ, scheint das Team dieses Kalenderjahr einen bemerkenswerten Prozess der Selbstverzwergung hinter sich gebracht zu haben.
Quasi seit seinem Amtsantritt scheint Tuchel vor allem damit beschäftigt, den Spielern das fußballerische 1x1 beizubringen und Spieler, die viel mehr könnten, irgendwie wieder starkzureden. "Wir strotzen gerade nicht vor Leichtigkeit und Selbstvertrauen. Dafür haben wir es gut gemacht. "Spätestens mit dem zweiten Tor kam der Rhythmus und die Leichtigkeit zurück", meinte Tuchel am Sonntag. Mehr kann man derzeit wohl nicht erwarten.
FC Bayern: Tuchel spielt mit dem Feuer
Das Problem ist nicht, dass Thomas Müller gegen Hertha BSC zunächst nicht gespielt hat oder dass Thomas Müller gegen Manchester City in der Champions League zweimal nur von der Bank kam.
Tuchel ist lange genug im Geschäft und sensibel genug, um richtig einschätzen zu können, ob es wirklich "überhaupt kein Problem" sei, Müller zu händeln, weil der "top, top, top professionell und super emotional" sei. Und doch ließ Tuchels Begründung, wieso er Müller gegen Hertha zunächst auf die Bank setzte, aufhorchen. Deutete sie doch an, dass sich der Angreifer womöglich an die Joker-Rolle gewöhnen muss.
Tuchel schickte zwar vorweg, dass der 33-Jährige "die ganze Zeit" schon Rückenprobleme mitschleppe, am Montag wohl auch nicht trainieren werde und zwei Tage Pflege brauche (übrigens ein Umstand, den weder Tuchel noch Müller zuvor je zum Thema gemacht hatten). Doch Tuchel sagte eben auch: "Ich wollte mir die Möglichkeit offenhalten, mit Thomas die letzten 30 Minuten zu Ende zu spielen, falls wir da jemanden brauchen würden, der die Erfahrung und einen Riecher hat und der das Selbstvertrauen nicht verliert, weil es gerade noch 0:0 steht."
Müller als Super-Joker? Klappte gegen Hertha zumindest halb. Als Müller kam, stand es tatsächlich noch 0:0, doch der Ur-Bayer war an keinem der beiden Treffer beteiligt, fand auch sonst relativ schwer ins Spiel.
Wie auch immer: Bisher hat Müller noch jeden Trainer, der an seinem Status als Immerspieler rüttelte, überlebt bei den Bayern. "An Thomas Müller sind schon andere Trainer in München gescheitert", formulierte es Rekordnationalspieler Lothar Matthäus zuletzt etwas drastischer. In der Tat waren weder Carlo Ancelotti, noch Niko Kovac und zuletzt auch Julian Nagelsmann noch lange da, nachdem Müller nicht mehr in jedem Spiel von Beginn an auf dem Rasen gestanden hatte.
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern bezieht Tuchel Müller ganz offen in seine taktischen Überlegungen ein, bittet den Weltmeister von 2014 um Rat und hat auch keine Probleme damit, öffentlich darüber zu reden. Man kann Tuchel ganz sicher nicht vorwerfen, Müller auf irgendeine Art zu demontieren. Und Müller scheint mit der Situation (siehe oben) tatsächlich maximal konstruktiv umzugehen.
Dennoch: Die Personalie ist mindestens ein Politikum beim FC Bayern. Und Tuchel könnte gerade ein Fass aufmachen, das er womöglich nur schwer wieder zubekommen wird.
Zumal Müllers Mitbewerber um die vier Planstellen in der Offensive auch nicht uneingeschränkt auf der Höhe ihrer Schaffenskraft sind. Tuchel hat Recht mit seiner Einschätzung, dass Müller am stärksten ist, wenn er um einen Mittelstürmer herum spielen kann. Allerdings ließ der Coach auch schon mit sehr überschaubarem Erfolg Sadio Mané oder Serge Gnabry im Sturmzentrum spielen, obwohl die beiden in erster Linie Flügelspieler sind.
Dass Tuchel also ausgerechnet Müller, dem unkonventionellsten, aber taktisch dennoch diszipliniertesten Freigeist unter den bayerischen Freigeistern, in dieser Phase der Saison Daumenschrauben anlegt, wirft zumindest Fragen auf. Und wird spätestens dann zum Megathema werden, sollte Bayern die Meisterschaft verpassen.
FCB: Leon Goretzka könnte den Saisonendspurt von der Bank betrachten
Leon Goretzka ist schon seit Wochen mehr Problem als Teil der Lösung beim FC Bayern München, daran konnte der Mittelfeldspieler auch im Spiel gegen Berlin nichts ändern. Im Gegenteil. Nach einem nicht unbedingt nötigen taktischen Foul während einer für seine Verhältnisse wieder schwachen ersten Halbzeit früh gelbbelastet, wechselte Tuchel ihn in der Pause aus.
Sein Vertreter Ryan Gravenberch nutzte die Chance, stabilisierte das Mittelfeld und zeigte, dass er durchaus das Zeug hat, ein Tuchel-Mittelfeldspieler werden zu können. Der 20-Jährige spielte in 30 Minuten mehr und präzisere Pässe als Goretzka in einer Halbzeit, war in allen relevanten Statistiken mindestens gleichwertig und wurde von Tuchel nach dem Spiel explizit gelobt.
Leon Goretzka vs Ryan Gravemberch: Spieldaten gegen Hertha BSC
Daten | Leon Goretzka | Ryan Gravenberch |
Minuten | 45 | 30 |
Gespielte Pässe | 28 | 35 |
Erfolgreiche Pässe % | 78,6 | 94,3 |
Torschüsse (aufs Tor) | 1 (1) | 1 (1) |
Zweikämpfe (gewonnen) | 4 (2) | 1 (1) |
Ballgewinne/Ballverluste | 1/7 | 1/2 |
Es spricht für Goretzka, dass er sich nach jedem Spiel stellt und sich noch nie geweigert hat, in der Mixed Zone auch unbequeme Fragen zu beantworten. Es ehrt ihn, dass er bei seiner Feststellung, dass Spieler "komplett kaputtgemacht werden medial" in erster Linie als Anwalt der angeblichen Medien-Opfer auftrat und sich selbst aus der Opferrolle herausnahm. "Der eine oder andere hat in den letzten Wochen noch ein bisschen mehr abbekommen. Die Antworten geben wir auf dem Platz. Anders bringt es sowieso nichts, das haben wir alle mittlerweile gelernt", sagte er.
Doch Goretzka wird die Antwort auf seine bescheidene Vorstellung gegen Hertha zumindest nicht am 31. Spieltag bei Werder Bremen geben können - da wird er nämlich gelbgesperrt fehlen. Die große Chance für Gravenberch, sich festzuspielen?