Im Interview mit SPOX und Goal spricht Rafelt über ein überraschendes Treffen mit dem damaligen Mainz-Coach Thomas Tuchel, den Aspekt Taktik in der Berichterstattung und seinen ersten Trainerjob im Jugendfußball.
Der 30-Jährige äußert sich zudem zu seinem Wechsel in den Profibereich, einer irren Schiedsrichter-Entscheidung in Kroatien und seiner Zukunft.
Herr Rafelt, Sie haben nach dem Abitur begonnen, sich immer mehr mit Fußball zu beschäftigen. 2011, da waren Sie noch Student der Wirtschaftswissenschaften und Statistik, gehörten Sie zu den Gründungsmitgliedern des Taktikblogs spielverlagerung.de. Woher kam dieses besondere Interesse für taktische Zusammenhänge?
Martin Rafelt: Ich habe seit frühester Kindheit immer Fußball gespielt, aber von Taktik hat man damals ja nicht viel mitbekommen. Dann hatte ich zwischen Abitur und Zivildienst ein paar Monate frei und viel Zeit, um mich ausgiebig mit Fußball zu beschäftigen. Aufgrund eines Knorpelschadens konnte ich in dieser Zeit fast ein Jahr lang nicht selbst kicken, daher war das meine Ersatzbeschäftigung. Zeitgleich wechselte Jürgen Klopp zum BVB. Er hat mich schon in Mainz sehr beeindruckt, weil er Fußball so erklärte, dass man hinterher schlauer war. Entsprechend habe ich mich gefreut, als er zu meinem Lieblingsverein kam. Sein Engagement in Dortmund habe ich vom ersten Tag an extrem eng verfolgt und parallel dazu alles aufgesaugt, was mit Fußballtaktik zu tun hatte. Der Blog "Zonal Marking" von Michael Cox war damals beispielsweise im Kommen sowie die Bücher von Christoph Biermann.
Praktischerweise wohnten Sie aufgrund des Studiums bereits in Dortmund, haben dieses aber nicht abgeschlossen. Weil Fußball immer wichtiger für Sie wurde?
Rafelt: Genau. Es war ein fließender Übergang: In meinem zweiten Studienjahr haben wir spielverlagerung.de gegründet und ich habe immer mehr Fußball gemacht, was sehr viel Zeit gefressen hat. Auf diese Leidenschaft habe ich mich schließlich konzentriert und sehr viele Artikel geschrieben. Dabei kam auch ein bisschen Geld herum. Unsere ersten Einnahmequellen waren eigens publizierte Vorschauhefte für die EM und WM und die Arbeit für das ZDF. Wir haben Artikel für deren Website geschrieben und die Champions-League-Berichterstattung auf dem dortigen Second-Screen-Angebot kommentiert. Das war quasi eine statistische und taktische Analyse parallel zum Spiel.
Bereits ein halbes Jahr später folgte die erste ernsthafte Begegnung mit dem Profibereich. Das Mainzer Trainerteam um Thomas Tuchel sichtete nach einem Spiel gegen den FC Bayern, im dem sich der FSV gut geschlagen hatte, die Medien. Man wollte herausfinden, ob verstanden wurde, wie die Mainzer dem Rekordmeister taktisch begegnet sind. Wie überraschend kam das?
Rafelt: Das war definitiv eine große Sache für uns und kam sehr unerwartet. Wir wurden per Mail kontaktiert und da hieß es nur: Kommt doch mal vorbei, wir würden uns gerne mit euch treffen. Wir sind dann zu dritt nach Mainz gefahren. Auch Rene Maric, heute Co-Trainer von Marco Rose bei Borussia Mönchengladbach, war dabei. Was genau passieren würde, war sehr unklar für uns. Man sagte, man müsse mal schauen, ob Tuchel überhaupt Zeit habe. Auf der Hinfahrt dachten wir deshalb, dass wir da nur kurz Videoanalyst Benjamin Weber, der zu uns Kontakt aufnahm, treffen, ein bisschen plaudern und wieder abhauen.
Und wie war's schließlich?
Rafelt: Wir haben einfach über Fußball gequatscht. Sie wollten wissen, was wir selbst im Trainerbereich machen. Rene hat erzählt, welche Übungen er mit seiner U11 in Österreich macht. (lacht) Es ging auch um einen Artikel von mir über Swansea City, den ich mit "Als schwaches Team spielerisch siegen" überschrieben hatte. Darin analysierte ich deren Sieg gegen Manchester City. Swansea war 2011 sensationell in die Premier League aufgestiegen und spielte als kompletter Außenseiter einen 65-Prozent-Ballbesitzfußball mit Leon Britton im Mittelfeld, der die höchste Passquote in Europa aufwies.
Am Ende war das Ergebnis, dass ihr für die Mainzer Gegnerscouting betreiben solltet.
Rafelt: Stimmt, so haben sie uns dann eingebunden. Das haben wir so eineinhalb Jahre gemacht. Sie waren zwar zufrieden und sagten auch, dass sie die Artikel auf unserer Website weiterhin zum Gegnerscouting nutzen werden. Doch sie haben den Fokus dann sehr stark darauf gerichtet, was und wie sie selbst gerne spielen lassen und ihre Mannschaft entwickeln wollen und haben den Gegner quasi innerhalb dieses Prozesses selbst gescoutet.
Tuchel forderte euch auch auf, einen Essay über generelle Ideen, was man im Fußball verändern könnte, zu schreiben. Wie kam das?
Rafelt: Er hat das in einem Interview vor Jahren auch einmal öffentlich erwähnt. Er hat sich mit uns getroffen, um einen kreativen Blick von außen dafür zu bekommen, was man im Fußball noch entwickeln und weiterspinnen könnte. Ich denke, bei unserem Treffen hat er gemerkt, dass wir viele Gedanken und Ideen haben. Er hat uns daher beauftragt, einfach mal alles aufzuschreiben und ihm zu schicken. Seine Ansage war: Das darf auch gerne komplett abgefahren sein.
Sind Sie seitdem in Kontakt geblieben?
Rafelt: Nicht wirklich, nur vereinzelt hatten wir noch Kontakt. Tuchel habe ich 2016 beim niederländischen Verband wiedergetroffen. Das war eine Trainer-Weiterbildung, bei der ich einen Vortrag gehalten habe, mit so Leuten wie Edwin van der Sar und Bert van Marwijk im Publikum. Tuchel hatte am Ende der Veranstaltung die Keynote. Da haben wir dann ein bisschen gequatscht. Ich hatte in der Woche darauf mit den beiden Mannschaften, die ich damals trainiert habe, zwei entscheidende Saisonspiele: ein Spitzenspiel und ein Abstiegsduell. Er hat mir ein paar kurze Videobotschaften aufgenommen, um meinen Spielern viel Glück zu wünschen.
Haben die Schreiber von spielverlagerung.de versucht, weitere Rückmeldungen aus dem Profibereich zu bekommen, um sozusagen zu überprüfen, ob das alles stimmt, was sie schreiben?
Rafelt: Das Treffen mit den Mainzern war unser Schlüsselmoment, da wir bis dato vollkommen im luftleeren Raum gearbeitet haben. Wir hatten natürlich schon das Gefühl, dass stimmt, was wir schreiben. Für mich waren die Pressekonferenzen von Klopp immer eine gute Referenz, wenn er dann genau davon erzählt hat, was auch mir im Spiel aufgefallen ist. Man darf nicht vergessen: Über Fußballtaktik und Formationen zu reden und zu schreiben war damals überhaupt nicht etabliert. Wir bekamen regelmäßig zu hören, wir würden einen auf wichtig machen, Taktik sei gar nicht wichtig, das wäre alles nur Zufall und nicht so geplant. Wir waren daher schon auf der Suche nach einer Art objektiver Referenz. Aus Mainz quasi von ganz oben gesagt zu bekommen, ihr habt das alles richtig analysiert, was wir gegen Bayern gemacht haben, war eine wichtige Bestätigung.
spielverlagerung.de wurde teils für die umständliche Sprache verlacht, die immer wieder neue und nie gehörte Wortschöpfungen kreierte. Hat man diese Sprache schlicht auch deshalb benutzt, weil eben Taktik zuvor kaum einmal so ausführlich beschrieben wurde?
Rafelt: Teils wurde uns vorgeworfen, wir würden absichtlich so schreiben, um schlau zu wirken. Das war sicher Unsinn. Tatsächlich haben wir meistens versucht, es so verständlich wie möglich zu machen. Das ist uns ganz einfach oft nicht gut gelungen. Die meisten von uns hatten keine journalistische Ausbildung und auch keine journalistische Herangehensweise. Wir wollten Fußball diskutieren. Es gab außerdem keine Referenzpunkte. Neue Wörter wurden deshalb kreiert, weil es kaum eine etablierte Fußballsprache für taktische Zusammenhänge gab. So klangen die Sachen manchmal komplizierter, als sie tatsächlich waren. Außerdem waren wir noch nicht auf dem Verständnislevel, um die Dinge so konkret zu benennen, wie wir es heute könnten. Es wurde immer dann am kompliziertesten, wenn wir nicht detailliert genug waren. Heißt: Je mehr wir zusammengefasst haben, desto komplizierter war es zu verstehen.
Inwiefern nervte einen das auch gewissermaßen persönlich, wie taktische Inhalte in der öffentlichen Berichterstattung meist analysiert wurden?
Rafelt: Das war anfangs schon der Fall. Eigentlich wird ja ziemlich oft über Taktik geredet, aber es wird nicht zu Ende gesprochen. Wenn es heißt, Team A hatte keinen Plan B, dann ist das eine taktische Behauptung - mit der Aussage, Team A hätte seine Taktik wechseln müssen. Doch es geht dann nicht in die Tiefe und bespricht, was überhaupt Plan A war, wieso der nicht funktioniert hat und welcher Plan B funktionieren würde. Behauptungen dieser Art gab und gibt es ständig. Sie werden aber eben nur in den Raum geworfen und nicht weiter diskutiert.
Der Aspekt Taktik ist in der Öffentlichkeit auch deshalb so unterrepräsentiert, weil es oft heißt, Fußball müsse Unterhaltung sein. Jürgen Klopp dagegen zeigte während seiner Arbeit beim ZDF bei der WM 2006 und der EM 2008, dass auch Taktik unterhaltsam aufbereitet werden kann. Wie denken Sie darüber?
Rafelt: Es ist klar, dass sich nicht die gesamte Vorberichterstattung zu einem Länderspiel des DFB-Teams um taktische Aspekte drehen kann. Dennoch gibt es ja genug Möglichkeiten, Informationen unterhaltsam zu präsentieren. In jedem Spiel gibt es dutzende taktische Narrative, die auch für die breite Masse sehr interessant sein können. Die fallen aber unter den Tisch, weil niemand darauf achtet.