Reservemannschaften von Profiklubs haben in Deutschland einen schweren Stand. Wenn sie von der eigenen Führungsriege nicht gerade abgeschafft werden, dann von der Konkurrenz mindestens ignoriert oder gar verachtet. Was sollen diese besseren Nachwuchsmannschaften im Erwachsenenbereich ohne Fans, Emotionen und echten Ambitionen? Nichts, als den ersten Mannschaften von Traditionsklubs Plätze wegnehmen natürlich. Manchmal, ganz selten aber liefern auch Reservemannschaften wunderbare Geschichten. Frag nach in Lettland!
Der Handyempfang am Trainingsgelände des FC Riga sei leider ziemlich schlecht, kündigt Thorsten Fink gleich zu Beginn des Telefonats entschuldigend an. Aber die Warnungen sollten sich als grundlos entpuppen: Letztlich funktioniert alles tadellos und so ist auch Finks Gesangseinlage bestens zu vernehmen: "Wir brauchen keinen Kuchen, wir brauchen kein' Kaffee. Wir ham' die Amateure, der Sonntag ist okay."
Als SPOX und GOAL Fink im Frühling erreichen, arbeitet er gerade als Trainer in der lettischen Hauptstadt Riga, mittlerweile zog er in die Vereinigten Arabischen Emirate weiter. Fragt man ihn nach seinem allerletzten Titel als aktiver Spieler, dann kommt er ins Schwärmen. Und ins Singen! Fink genießt es sichtlich, vom Gewinn der damals drittklassigen Regionalliga Süd mit den Amateuren des FC Bayern München in der Saison 2003/04 zu erzählen. Dabei fällt ihm auf einmal dieses Lied ein, das die Fans immer gesungen hätten.
Erst fehlt noch das eine oder andere Wort, dann hakt es etwas am Reim - aber am Ende singt Fink so flüssig, wie seine damalige Mannschaft gespielt hat. Besser als Kaffee und Kuchen an einem Sonntag, das soll was heißen!
Es war eine ganz besondere Mischung, die sich bei den FC Bayern Amateuren damals zusammengefunden hatte. Spieler, die davor groß waren und welche, die danach groß werden sollten. Andere, die in jener Saison zwar wichtig waren, aber nie groß wurden. Spieler, die für immer für den FC Bayern stehen werden - und andere, die man eher nicht mit dem FC Bayern in Verbindung bringt.
Ganz groß war beispielsweise mal Fink selbst, immerhin gewann er alle wichtigen Trophäen des Klub-Fußballs. Mit seinen damals 35 Jahren brauchte ihn Trainer Ottmar Hitzfeld aber nicht mehr bei der Profimannschaft, also avancierte er zum Anführer der Amateure. "Ich hatte Anfragen von anderen Klubs, wollte aber in München bleiben und den Trainerschein machen. So kam mir diese Möglichkeit ganz gelegen", erinnert sich Fink.
Während er den Trainerschein begann, bereitete er junge Talente auf eine Profikarriere vor. Als Kapitän, gemeinsam mit dem zweiten Routinier der Truppe: Ralph Hasenhüttl. Gleicher Jahrgang wie Fink und heute ebenfalls Trainer. Der eine in den Vereinigten Arabischen Emiraten, der andere in der Premier League beim FC Southampton.
Anders als Mittelfeldmann Fink war der österreichische Stürmer Hasenhüttl nur Einwechselspieler, in der Offensive kam er am magischen Dreieck nicht vorbei: Zvjezdan Misimovic (damals 21), Paolo Guerrero (19), Piotr Trochowski (19). Wenn sie nicht gerade bei den Profis reinschnuppern durften, dann dominierten sie die Regionalliga Süd wie wohl kein anderes Trio davor oder danach. Alle wurden sie später Nationalspieler ihrer jeweiligen Länder und holten wichtige Titel, beim FC Bayern setzten sie sich aber nicht nachhaltig durch.
Während das magische Dreieck die weite Fußballwelt eroberte, avancierten Andreas Ottl (18) und Christian Lell (18) zu verlässlichen Ergänzungsspielern der Profimannschaft. Beim Regionalliga-Titel mit den Amateuren waren sie dagegen gesetzt. Genau wie der kamerunische Verteidiger Patrice M'Bock (20), dem eine große Karriere verwehrt blieb. Genau wie die Mittelfeldspieler Christian Hauser (27) und Karsten Oswald (28), die schon etwas älter waren und eine große Karriere längst abgeschrieben hatten.
Keeper Michael Rensing (19) wechselte sich im Tor mit Jan Schlösser (20) und Markus Grünberger (18) ab, ehe er zum designierten Nachfolger von Oliver Kahn hochgehypt wurde. Die großen Erwartungen erfüllte Rensing zwar nicht, legte aber trotzdem eine solide Profilaufbahn hin. Rechtsverteidiger Patrick Ochs (19) spielte lange in der Bundesliga, Linksaußen Erdal Kilicaslan (18) in der türkischen Süper Lig.
Und dann gab es natürlich noch Abwehrchef Christian Saba (24). 13 Jahre lang kickte der Ghanaer insgesamt für die FC Bayern Amateure, bis heute ist er unangefochtener Rekordspieler. Saba, mittlerweile im Betreuerstab der hauseigenen U19, war die Konstante auf dem Platz. Sozusagen das spielende Gegenstück zur Trainerikone Hermann Gerland, dessen Amtszeit sich mit der seines Abwehrchefs ziemlich deckte.
Gerland sah zwar Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm hochschießen und später auch Thomas Müller und David Alaba. Aber eine bessere Mannschaft als die der Saison 2003/04 trainierte er wohl nie. Einen Müller hatte sie übrigens auch. Gerd, die 2021 verstorbene Stürmerlegende, war damals sein Assistent. Er hatte entscheidenden Anteil am Gesamterfolg: Gemeinsam mit Routinier Fink fungierte Müller als Vermittler zwischen einem herausragenden Trainer, der für Härte stand. Und einer herausragenden Mannschaft, die von dessen Härte profitierte, darunter aber gleichzeitig auch litt.
"Wenn ich zu streng zu einem Spieler gewesen bin, hat ihn Gerd Müller in den Arm genommen. Wir beide haben zusammengepasst wie die Faust aufs Auge", erinnert sich Gerland im Gespräch mit SPOX und GOAL. Sie spielten Good Cop, Bad Cop. Aber warum sein 49-jähriges Tiger-Ich eigentlich so bad war, das weiß der heutige Co-Trainer der deutschen U21-Nationalmannschaft selbst nicht mehr. "Zu der Zeit war ich sehr verbissen, fast schon besessen. Wenn ich mir heute Bilder von mir an der Seitenlinie anschaue, dann denke ich, dass ich sie nicht alle auf der Latte gehabt habe damals."
Gerland schrie, Gerland peitschte ein, Gerland forderte. Alles. Und das nicht nur bei den Spielen, sondern auch beim Training. Vor allem beim Training, bei dem es ihm stets nur um das Eine ging: Wer will es mehr? "Hermann Gerland gehört zu einer ganz anderen Generation Trainer. Ihm ging es insbesondere um den puren Willen. Er wollte uns abhärten", erzählt Patrick Ochs im Gespräch mit SPOX und GOAL. 2002 wechselte er von Eintracht Frankfurt nach München, wo er dann zwei Jahre lang für die Amateure spielte.
Vor allem an eine Trainingsform kann sich Ochs bestens erinnern: Runden laufen. "Weil es bekannt war, dass ich lange schnell rennen kann, haben mich die Kollegen manchmal gebeten, es ein bisschen langsamer angehen zu lassen", sagt Ochs und grinst. "Das hat Gerland aber immer sofort gemerkt und von der Seitenlinie geschrien: 'Ochser, lauf' mehr!' Dann lief ich wieder mein eigenes Tempo und die anderen mussten nachziehen. In der Kabine gab es dafür später auf die Mütze."
Ob die FC Bayern Amateure die fitteste Mannschaft der Liga hatten? Gut möglich. Zum Saisonauftakt gelang dank Treffern von Guerrero und Misimovic ein 2:0-Sieg gegen Rot-Weiß Erfurt. Rund 10.000 Zuschauer kamen ins Olympiastadion - nur einen Tag, nachdem die Profimannschaft ebendort ihr Saisonauftaktspiel gegen Eintracht Frankfurt gewonnen hatte. Der Einsatz im größten Stadion der Stadt blieb aber eine Ausnahme. Die restlichen Heimspiele bestritten die Amateure stets vor wenigen hundert Fans im Stadion an der Grünwalder Straße, später liebevoll Hermann-Gerland-Kampfbahn getauft. Wie viele exakt kamen, hing davon ab, ob die Profis zeitversetzt spielten oder nicht.
Einer der damals wie heute im Zweifel immer die Amateure vorzieht, ist Marcel Weichelt. In den 1990er-Jahren begann er ins Olympiastadion zu gehen, ehe es ihn irgendwann eher zufällig zu den Amateuren verschlug. "Bei meinem ersten Spiel im Grünwalder war ich geflasht. Da standen etwa 50 Leute, die ganz andere Lieder sangen, als ich sie aus dem Olympiastadion kannte", sagt Weichelt. Sicherlich ging es darin auch um Kaffee und Kuchen und darum, dass die Amateure eh viel besser sind.
Weichelt ließ sich von der Atmosphäre packen, die Amateure wurden seine Mannschaft. Ab 2002 publizierte er das Stadionmagazin Amateure Bladdl, erst kürzlich übergab der heute 42-Jährige diese Rolle an die jüngere Generation. In der Meistersaison reiste Weichelt gemeinsam mit 20 bis 30 anderen Fans zu jedem Auswärtsspiel.
Die damalige Regionalliga Süd bot beste Abwechslung: Der Kontrast reichte von traditionsreichen Profiklubs wie den Kickers Offenbach, dem FC Augsburg oder den Stuttgarter Kickers über andere Zweitvertretungen bis hin zu unbedeutenden Dorfklubs wie dem 1. SC Feucht, dem SC Pfullendorf oder der TSG Hoffenheim. Weichelt und seine Konsorten genossen die Freiheit der Unbedeutsamkeit an der Schwelle zwischen Amateur- und Profifußball.
"Es wurde immer 90 Minuten lang durchsupportet und es hat keinen interessiert, wenn wir einen Rauchtopf gezündet haben oder mal fünf Leute mit Bengalen dagestanden sind. Ein Spiel ohne Pyro hat es damals fast nicht gegeben. Es wurde kein Skandal daraus gemacht und es gab auch keine Strafen", erzählt er. Beste Erinnerungen an die damalige Atmosphäre bei Spielen der FC Bayern Amateure hat auch Fink: "Unser Fanclub hat bei jedem Spiel von Anfang bis Ende gesungen. Die Stimmung war einfach gut."
Die erste Auswärtsreise führte am 2. Spieltag zum 1. FC Schweinfurt 05. Lange bevor es im Norden Bayerns die zwei späten Tore zum 2:0-Sieg zu bejubeln gab, löste Gerland auf den Rängen und dem Platz gleichermaßen Verwunderung aus: Ohne ersichtlichen Grund wechselte er schon in der Anfangsphase seinen Schlüsselspieler Trochowski aus.
"Nach circa zehn Minuten kam ein Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks zu mir an die Seitenlinie und meinte: 'Der FC Bayern hat angerufen. Trochowski muss zum Spiel der Profis nach Hannover, weil Mehmet Scholl ausgefallen ist. Der darf nicht mehr weiterspielen'", erinnert sich Gerland. "Ich habe Piotr sofort ausgewechselt, woraufhin er mich entgeistert gefragt hat: 'War ich wirklich so schlecht?' Dann habe ich ihm alles erklärt."
Trochowski reiste also weiter nach Hannover, wo er 90 Minuten lang auf der Bank saß. Dieser Vorfall steht exemplarisch für das Spannungsfeld, in dem sich Zweitvertretungen von Profiklubs seit jeher bewegen: Sie existieren nicht, um Spiele oder gar Titel zu gewinnen. Sie existieren, um der Profimannschaft in jeglicher Hinsicht zu dienen. Unter Gerland teilweise sogar im wahrsten Sinne des Wortes. "Einmal mussten wir den Schnee vom Platz der Profimannschaft schaufeln", berichtet Ochs. "Die Profis haben währenddessen in den Katakomben gesessen, ihr Käffchen getrunken und gewartet, bis wir fertig sind."
Tatsächlich dient die Reservemannschaft vor allem als Plattform, um Nachwuchstalenten erste Spielpraxis im Erwachsenenfußball zu bieten. Sinnvoll erschien dieses Konzept offenbar schon sehr früh, die zweite Mannschaft des FC Bayern ist schließlich fast genauso alt wie die erste. Der erste Existenznachweis datiert von 1901, also nur einem Jahr nach Klubgründung: Damals verlor die Reserve ein klubinternes Testspiel mit 2:12.
Als die erste Mannschaft zum Profitum konvertierte, etablierte sich für die zweite der Name Amateure. Auf sich aufmerksam machten die FC Bayern Amateure im Laufe der Jahre mit einigen beachtlichen Vorstößen im DFB-Pokal. 1977 gelang der Einzug ins Achtelfinale, wo kurioserweise gegen die klubeigenen Profis Endstation war. 1995 ging es sogar eine Runde weiter bis ins Viertelfinale.
In jener Saison 1994/95 wurde in Deutschland die Regionalliga als neue dritte Leistungsstufe eingeführt, zunächst in vier und dann in zwei Staffeln unterteilt. Die FC Bayern Amateure kickten im Süden von Beginn an mit, bis zum überraschenden Titelgewinn 2004 landeten sie meist im Tabellenmittelfeld.
In der Meistersaison marschierte die Mannschaft dem restlichen Feld von Beginn an davon. Ab dem dritten Spieltag hieß der Tabellenführer FC Bayern Amateure, bis zum letzten sollte sich daran nichts ändern. Ihren besten Fußball spielte die Mannschaft wohl im Herbst, als das magische Dreieck aus Misimovic, Guerrero und Trochowski regelmäßig gemeinsam auf dem Platz stand. Anschließend rückte vor allem Trochowski vermehrt in den Profikader von Cheftrainer Ottmar Hitzfeld auf.
Bis zur Winterpause blieben die FC Bayern Amateure ungeschlagen. Der Vorsprung auf den ersten Verfolger 1. FC Saarbrücken betrug sieben Punkte, im Schnitt gelangen fast 2,5 Tore pro Spiel.
Und was war der Dank für die grandiose Hinrunde? Ein Winter-Trainingslager mit Hermann Gerland. Wie immer ging es auch in jenem Januar ins Hotel Klosterpforte in Marienfeld, unweit von Gerlands nordrhein-westfälischer Heimat. Zwischen den zahlreichen Trainingseinheiten fand sich immerhin Zeit für einen kleinen Ausflug. "Einmal waren wir bei Gerlands Pferden, die ganz in der Nähe stehen", erzählt Ochs und lacht. "Dann hat er uns den Stall ausmisten lassen. Das war sein Verständnis von Oberkörpertraining. Gerland stand aber nicht nur an der Seite herum, sondern hat auch selbst mitangepackt."
Während es für die Spieler mit die härteste Zeit des Jahres war, war es für die Fans mit die schönste: Reisten bei Auswärtsspielen meist 20 bis 30 Anhänger hinterher, verschlug es nur die fünf bis zehn enthusiastischsten wie Weichelt auch zu den Trainingslagern. "Sobald uns Gerland gesehen hat, kam er her und meinte: 'Was macht ihr Pappnasen denn schon wieder hier? Habt ihr keine Arbeit zu Hause?'" Trotz Gerlands Verwunderung über ihre Anwesenheit genossen die treuen Unterstützer in diesen Wintertagen einen engen Austausch mit Spielern und Betreuern, Weichelt verstand sich vor allem mit Co-Trainer Gerd Müller bestens: "Wir haben uns oft intensiv unterhalten, weil er aus der gleichen Ecke kommt wie ich. Das hat ihn gefreut."
Teil eines standesgemäßen Wintertrainingslagers war zu diesen längst vergangenen Zeiten natürlich auch der Start bei einem Hallenturnier. Also traten die FC Bayern Amateure im Januar 2004 beim Hallenfußball-Festival der DJK Arminia Ibbenbüren an - und blamierten sich kolossal. Tatsächlich mussten sich die angehenden Bundesligaspieler einer Mannschaft bestehend aus Schauspielern des Films "Das Wunder von Bern" geschlagen geben. In der Endabrechnung landeten sie hinter den Filmstars nur auf Platz vier.
Des Tigers Strafe folgte sofort: "Wie jedes Hallenturnier, habe ich auch das in Ibbenbüren als Trainingseinheit gesehen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir frühzeitig ausscheiden, und schon gar nicht, dass wir gegen eine zusammengewürfelte Mannschaft wie die Filmmannschaft von 'Das Wunder von Bern' verlieren. Weil wir im Vorfeld der Meinung waren, dass wir beim Turnier bis zum Ende dabei sein werden, hatten wir keinen Sportplatz reserviert. Also musste eine Alternative her. Deshalb habe ich die Spieler ein paar Runden um den nahen Aasee laufen lassen." Umfang: knapp drei Kilometer.
Insgesamt drei Monate dauerte die Winterpause, von Mitte November bis Mitte Februar. Mehr als genug Zeit jedenfalls, um mal so richtig außer Form zu geraten. Die Leichtigkeit der Hinrunde war anschließend wie weggeflogen. Aus den ersten fünf Rückrundenspielen holte der Tabellenführer keinen einzigen Sieg, weshalb Verfolger SV Wehen bis auf zwei Punkte heranrückte. Der Befreiungsschlag erfolgte erst Anfang April mit einem 4:1 gegen die Reserve des 1. FC Kaiserslautern. Dreierpack Guerrero.
Weil Trochowski nun regelmäßiger für die Profis zum Einsatz kam, war die Mannschaft in der Offensive ziemlich abhängig von Regisseur Misimovic und Torjäger Guerrero. Bei beiden musste Gerland trotz ihres riesigen Talents aus unterschiedlichen Gründen seine harte Hand anlegen: Ersterer neigte zu Übergewicht, Zweiterer zu Überemotionalität. Und wenn Gerland etwas gar nicht mag, dann ist es vergeudetes Talent wegen sagen wir: Übergewicht oder Überemotionalität.
Gerland liebte Misimovic zwar für seine technischen Fähigkeiten, fußballerisch sei er allen anderen gar "haushoch überlegen" gewesen. Womit der Trainer aber ein Problem hatte, zeigte sich schon beim Spitznamen: Während seine Kollegen Misimovic "Zwetschge" riefen, nannte ihn Gerland gerne "Dicker". "Zwetschge war der qualitativ beste Spieler der Mannschaft, aber ohne Tiger wäre er nichts geworden. Er war immer ein bisschen pummeliger. Gerland hat ihn nur bis zu einer gewissen Anzahl an Kilo auf den Platz gelassen", sagt Fink. Zu einer großen Karriere beim FC Bayern reichte es trotz Gerlands Mühen zwar nicht, Meister wurde Misimovic aber trotzdem: 2009 mit dem VfL Wolfsburg.
Sein kongenialer Partner von den Amateuren Guerrero schaffte dieses Kunststück nach dem Regionalliga-Titel 2004 sogar zweimal mit dem FC Bayern. Über die Rolle des Ergänzungsspielers kam er dabei aber nie hinaus, weshalb er 2006 zum Hamburger SV weiterzog. Dort traf Guerrero auf seinen Ex-Kollegen Trochowski und regelmäßig ins Tor. In Erinnerung blieben aber auch sein Flaschenwurf in die Zuschauerränge und sein brutales Foul gegen Sven Ulreich an der Eckfahne, für das er acht Spiele gesperrt wurde. Der Peruaner setzt seit jeher auf eine härtere Gangart, in der Meistersaison der Amateure sah kein Spieler mehr Gelbe Karten als er.
"Er hatte es faustdick hinter den Ohren. Er hat sich nichts gefallen lassen. Wenn er gefoult wurde, hat er sich immer gewehrt", sagt Gerland. Spricht sein ehemaliger Trainer über den Typen Guerrero abseits des Platzes, erinnert er sich an "einen bunten Vogel" - und so ein bunter Vogel braucht selbstverständlich Schmuck. "Er hat Wert auf Luxus gelegt, trug gerne teure Ketten und teure Uhren", berichtet Ochs, seines Zeichens eher Typ unauffälliger Arbeiter.
Mit all seinen Extravaganzen und seiner Extrovertiertheit war Guerrero das exakte Gegenteil zu einem Kollegen, mit dem er im April 2004 kurzzeitig die Kabine teilen sollte: Sebastian Deisler, der zuvor rund fünf Monate wegen einer Burnout-Erkrankung ausgefallen war. Die Amateure dienen traditionell nicht nur jungen Talenten als Profilierungs-Plattform, sondern auch angeschlagenen Profis zur Rehabilitierung und als Zwischenschritt zurück nach oben.
In der Meistersaison 2003/04 feierten beispielsweise Alexander Zickler, Mehmet Scholl, Willy Sagnol und Martin Demichelis ihr Comeback nach Verletzungspausen bei den Amateuren, am aufsehenerregendsten war aber die Rückkehr des psychisch erkrankten Deisler. "Wir wollten ihm alle helfen, dass er zurückkommt. Das war schon emotional", sagt Fink. Die Hilfe half, denn Deisler feierte ein traumhaftes Comeback: Beim 3:1-Sieg gegen Offenbach traf der so sagenhaft talentierte Mittelfeldspieler zum zwischenzeitlichen 1:0. Nach drei weiteren Einsätzen kehrte er für die Schlussphase der Saison zur Bundesligamannschaft zurück.
Das Kommen und Gehen der angeschlagenen Profis stellte Gerland selbstredend vor große Herausforderungen, erschwerte es doch das Einspielen seiner Mannschaft. Handhabe hatte er dagegen keine: "Wenn Ottmar Hitzfeld gesagt hat, dass Sebastian Deisler am Wochenende bei den Amateuren spielt, dann hat er auch bei den Amateuren gespielt. Ober sticht Unter."
War Deisler mit seiner psychischen Erkrankung ein Sonderfall, kamen Einsätze anderer Profis vor allem bei den Fans nicht gut an. "Bei denen hat man fast immer gleich gesehen, dass sie nicht 100 Prozent geben", findet Weichelt und klagt ein bisschen empört: "Dafür muss dann ein Nachwuchstalent draußen bleiben!"
Mit Fink und Hasenhüttl hatte die Mannschaft ohnehin eigene Routiniers in ihren Reihen. Sie überzeugten nicht nur mit fußballerischer Klasse, sondern vor allem auch menschlich als Anker für die jungen Talente. Auf das Konzept der eingestreuten Routiniers setzt der FC Bayern bei seiner Zweitvertretung konsequent: Vor Fink und Hasenhüttl übernahm Hans Pflügler diese Rolle, später Thomas Linke, dann Danny Schwarz und zuletzt Nicolas Feldhahn.
Wie wichtig so ein erfahrener Nebenmann für einen Jungspund sein kann, weiß Patrick Ochs: 19 Jahre war er damals, fast halb so alt wie die beiden Routiniers Fink und Hasenhüttl also. Vor allem Ersterer wurde für ihn zum Mentor. Ochs erinnert sich an viele gemeinsame Essen, an lange Gespräche, an gute Ratschläge. Einmal habe ihn Fink sogar höchstpersönlich beim Profitrainer Hitzfeld empfohlen, weshalb er bei dem einen oder anderen Freundschaftsspiel mitwirken durfte.
Dass Fink mal Trainer werden würde, vermutete jeder, der damals dabei war. Bei Hasenhüttl kam der Werdegang dagegen eher überraschend. Über den Trainerjob unterhalten hätten sich die beiden zu gemeinsamen Routiniers-Zeiten nicht, erinnert sich Fink: "Mein Ziel war es immer, Trainer zu werden. Bei Ralph hatte ich nicht das Gefühl." Tatsächlich trat Hasenhüttl aber schon ein Jahr nach dem Karriereende seinen ersten Trainerjob bei der SpVgg Unterhaching an, nach Stationen beim VfR Aalen, dem FC Ingolstadt und RB Leipzig ist er seit 2018 in Southampton tätig.
Die Meistersaison war Hasenhüttls letzte als aktiver Spieler. Sein Leistungsnachweis: zwei Tore und reichlich Kritik am Busfahrer. "Wir hatten einen top Busfahrer, aber auf der Autobahn hat er manchmal etwas riskant überholt", erzählt Gerland. "Dann kam Hasi immer nach vorne und meinte: 'Fahr nicht so verrückt, ich habe zwei Kinder.'" All die Gerade-nicht-mehr-Kinder im Bus störte der wilde Fahrstil dagegen eher weniger. "Wir haben dem Busfahrer immer vorgeworfen, dass er jeden Stau findet", sagt Ochs und lacht.
Die Mannschaft heizte nach einem weiteren kleinen Durchhänger im Frühling unterdessen mit fünf Siegen aus den letzten fünf Spielen auf der Überholspur zum Titelgewinn. Fixiert wurde er am vorletzten Spieltag bei der Reserve des FSV Mainz 05. Weil in deren Bruchwegstadion tags zuvor und danach Spiele der U21-Europameisterschaft stattfanden, musste die Partie in die Kleinstadt Ingelheim am Rhein verlegt werden.
Wie ungefähr 500 weitere Münchner Fans reiste selbstverständlich auch Weichelt die rund fünf Stunden nach Rheinland-Pfalz. "Ich bin mit Freunden im Cabrio hingefahren. Es hatte 30 Grad, die Sonne hat geknallt. Das war gigantisch", schwärmt er. Optisch und akustisch übernahmen die Auswärtsfans sofort den kleinen Sportplatz mit seiner Tartanbahn und den zusammengebastelten Zuschauerrängen. Bald waren sie eingehüllt in schwarzen Rauch und das rote Licht der Pyrofackeln. Als sich das Spiel nach Toren von Erdal Kilicaslan, Borut Semler und Guerrero beim Stand von 3:0 dem Ende entgegenneigte und der Titelgewinn somit gewiss war, da brachen alle Dämme.
"Die Leute vor Ort waren völlig überfordert, die hatten zu nullkommanull Prozent mit diesem Zuschauerandrang gerechnet", sagt Weichel. "Kurz vor Abpfiff sind die Banden umgefallen, danach sind wir alle auf den Platz gerannt. Wenn das heute passieren würde, würde es einen Mega-Skandal geben. Aber damals war das kein großes Thema. Die Bayern-Bosse werden schon für die Banden bezahlt haben." Auf dem Platz herrschte pure Ekstase: Fink wurde in die Höhe geworfen, Bier in Rachen geschüttet und auch über Köpfe.
Für die Spieler ging die Party nach der Heimkehr weiter. Ochs hat die feuchtfröhliche Titelfeier noch in bester Erinnerung: "Wir haben Arm in Arm getanzt und gesungen. So etwas vergisst man nie. Es waren auch einige Profis dabei, an Brazzo kann ich mich beispielsweise erinnern." Hasan Salihamidzic und dessen Profikollegen blieb in jenem Frühsommer nichts anderes übrig, als auf fremden Partys zu feiern. Das Double holte nämlich Werder Bremen.
Der Reservemannschaft diente die Titelfeier unterdessen gleichzeitig auch als Abschiedsfeier. Es ist das altbekannte Schicksal einer Zweitvertretung, dass sie jeden Sommer neu zusammengewürfelt wird. Damals wäre es aber womöglich zu verhindern gewesen, hätte es nicht das Aufstiegsverbot für Reservemannschaften in die 2. Bundesliga gegeben. Großer Profiteur war das drittplatzierte Saarbrücken, das statt den FC Bayern Amateuren neben Vizemeister Erfurt aufsteigen durfte. Die Münchner bekamen nur einen kleinen, grünen Wimpel. Pokal oder gar Meisterschale gab es in der Regionalliga damals nämlich nicht.
"Wären wir aufgestiegen, wären einige Schlüsselspieler vielleicht geblieben. Diese Mannschaft hätte auch in der 2. Bundesliga für Furore gesorgt, den Klassenerhalt hätten wir locker gepackt. Wir waren einfach ein geiles Team", sagt Ochs. Er selbst kehrte nach dem Titelgewinn in seine Heimatstadt Frankfurt zurück. Eintracht-Legende Bernd Hölzenbein war beim entscheidenden Spiel in Ingelheim zufällig vor Ort gewesen. Beeindruckt von Ochs' Leistung setzte er sich anschließend erfolgreich für eine Rückholaktion des Rechtsverteidigers ein.
Trochowski wechselte im darauffolgenden Winter zum Hamburger SV, Hauser schon im Sommer zu Dynamo Dresden und Misimovic auf Empfehlung Gerlands zu dessen Heimatklub VfL Bochum. Am letzten Spieltag verwandelte er einen Freistoß zum 1:0-Sieg gegen Wehen direkt. Es war Misimovics Abschiedsgeschenk und 21. Saisontor, womit er an der Spitze der Torjägerliste mit Guerrero gleichzog.
Der Peruaner spielte in den darauffolgenden beiden Spielzeiten zwischen Bundesliga-Einsätzen noch regelmäßig für die Amateure und erlebte dadurch genau wie Fink, Saba, M'Bock, Rensing und Ottl ein weiteres Highlight mit: Im Jahr nach dem Titelgewinn stürmte die Mannschaft zum zweiten Mal ins DFB-Pokal-Viertelfinale, wo sie am Double-Sieger Werder Bremen scheiterte.
2005 endete die Geschichte der FC Bayern Amateure, aber nur auf dem Papier: Da wurde die Mannschaft nämlich in FC Bayern München II umbenannt, mit Amateurfußball hatte sie sowieso nichts mehr zu tun. Bei der Einführung der eingleisigen, professionellen 3. Liga 2008 war der FC Bayern II dabei, stieg aber bald in die nun viertklassige Regionalliga ab. Von 2019 bis 2021 folgte eine kurzzeitige Rückkehr in die 3. Liga mit dem sensationellen Meistertitel 2020 unter Sebastian Hoeneß.
Umgefallene Banden und wilde Feiern gab es diesmal aber nicht: Wegen der Corona-Pandemie waren in der Schlussphase der Saison keine Fans zugelassen, ansonsten wäre Weichelt selbstverständlich dabei gewesen und zwar mit seinem Lieblingsschal. "Nach dem Titel von 2004 haben wir Allesfahrer uns eigene Regionalliga-Meisterschals designt", sagt er. "Wenn ich einen Schal trage, dann nur den. Für mich ist das die schönste Erinnerung meines Lebens als Fan der FC Bayern Amateure."