EUROPAPOKALSIEGER, ERDBEEREN UND ENTERTAINERS

Wie Newcastle United zum Kultklub wurde

Seit der Übernahme durch ein Konsortium um einen saudi-arabischen Staatsfonds gilt Newcastle United als reichster Klub der Welt. Mit der Winter-Transferperiode und dem erwarteten Kaufrausch beginnt die Zukunft des englischen Traditionsklubs. Doch wie sieht eigentlich die Vergangenheit aus? Sie handelt von Europapokalsiegern, Erdbeeren, Entertainers - und einem riesengroßen Zerwürfnis wegen Bastian Schweinsteiger.

DIE EUROPAPOKALSIEGER

Newcastle Uniteds letzter Titelgewinn liegt über 52 Jahre zurück. 1969 gewann die Mannschaft von Trainer Joe Harvey den wohl merkwürdigsten aller europäischen Wettbewerbe: den Messestädte-Pokal.

Newcastle verfügte damals über eine absolut durchschnittliche Mannschaft. Wenn sie nicht gerade im Tabellenmittelfeld umherkrebste, war sie ziemlich sicher in der Zweitklassigkeit anzutreffen. Die goldenen Jahre lagen lange zurück. Vor dem zweiten Weltkrieg holte Newcastle vier Meistertitel und dreimal den FA Cup, Anfang der 1950er-Jahre folgten drei weitere Pokalsiege. Anschließend ging es meist bergab, ehe völlig unverhofft die erstmalige Qualifikation für einen Europapokal gelang. 

Warum? Das lag am Konzept des zwischen 1955 und 1971 ausgetragenen Messestädte-Pokals, der ursprünglich der Bewerbung internationaler Handelsmessen dienen sollte. Später wurde aus dem Wettbewerb der UEFA-Cup, noch später die Europa League. England hatte in jener Saison abgesehen von Titelverteidiger Leeds United Anrecht auf drei Startplätze. Aus einer Stadt durfte aber nur maximal ein Klub mitspielen, was das zehntplatzierte Newcastle ins Teilnehmerfeld spülte. Die eigentlich besser platzierten Everton, Tottenham und Arsenal wurden von ihren Lokalrivalen Liverpool und Chelsea blockiert.

Newcastles Weg ins Finale gegen den ungarischen Vertreter Ujpesti Dozsa führte über die durchaus renommierten Gegner Feyenoord Rotterdam, Sporting Lissabon, Real Saragossa, Vitoria Setubal und Glasgow Rangers. "Wir waren in jedem einzelnen Spiel Außenseiter", sagte der schottische Kapitän Bobby Moncur.

Moncur selbst verpasste die erste Runde gegen Feyenoord wegen einer Verletzung. Weil der Klub Geld sparen wollte, durfte Moncur nicht mit dem offiziellen Tross zum Auswärtsspiel nach Rotterdam reisen. Stattdessen tat er es wie rund 2000 Gleichgesinnte als Fan. "Wir waren für zwei Tage unterwegs. Der ganze Trip inklusive Flüge und Hotel kostete 19,10 Pfund", erzählte Moncur später dem Newcastle Chronicle.

Auf das Weiterkommen in Rotterdam folgten knappe Siege gegen Sporting und Saragossa, ehe es im Viertelfinale gegen Setubal ging. Newcastle gewann das Hinspiel im eigenen Stadion mit 5:1, profitierte dabei aber von einem ausgewachsenen Schneesturm, mit dem die Portugiesen so gar nicht zurechtkamen. "Sie hatten ein paar Jungs aus Mosambik, die zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee gesehen haben. Sie trugen Strumpfhosen und Socken über ihren Händen", berichtete Verteidiger Frank Clark. Beim Rückspiel in Portugal konnte sich Newcastle vor den Augen des sechsjährigen Jose Mourinho sogar eine Niederlage erlauben. Der heutige Startrainer feuerte seinen Heimatklub Setubal an, bei dem bis zur Vorsaison sein Vater im Tor gestanden hatte.

Im Halbfinale kam es zu einem innerbritischen Schlagabtausch mit den Glasgow Rangers. Als sich beim Rückspiel im St. James' Park ein Weiterkommen Newcastles abzeichnete, stürmten hunderte schottische Fans den Platz. Nach Auseinandersetzungen mit der Polizei im Stadion und einer längeren Unterbrechung wurde das Spiel zwar fortgesetzt, die Krawalle verlagerten sich anschließend aber auf die Straßen der Stadt.

Einige Wochen nach der schottischen Zerstörung folgte dort die schwarzweiße Party. Newcastle kehrte als Messestädte-Pokal-Sieger vom Finalrückspiel gegen das favorisierte Ujpesti aus Budapest zurück. "Wir haben dort lange und hart gefeiert, aber die Rückkehr nach Newcastle war unglaublich", sagte Verteidiger Clark. "Die Straße vom Flughafen zum Stadion war voller Menschen. Ich habe keine Ahnung, warum die an einem Werktag zu Mittag alle nicht in der Arbeit oder Schule waren."

Zum entscheidenden Mann im Finale avancierte mit insgesamt drei Treffern Moncur. Newcastles Kapitän, der in der ersten Runde noch als Fan unterwegs gewesen war. "Wir wussten, dass das eine große Leistung ist. Aber mir war damals noch nicht bewusst, wie groß sie ist.'" Newcastle spielte seitdem 52 Jahre lang Fußball und gewann rein gar nichts.

DIE HEIMAT

DER SUPERSTAR

Newcastle United schenkte England seinen wohl verrücktesten Fußballer überhaupt: Paul Gascoigne. Außer Kontrolle, auf dem Platz und abseits davon. Gascoigne führte England bei der WM 1990 und der EM 1996 mit magischen Leistungen ins Halbfinale. Er soff und pöbelte, er trieb sich in Pubs und Gefängnissen und Entzugskliniken herum. Er spielte geniale Pässe, nach Meinung seiner Kollegen aber viel zu selten. Am allerliebsten hatte er den Ball schließlich am eigenen Fuß. Er litt unter Alkoholismus, Zwangsstörungen, Bulimie und Spielsucht. Er wurde verehrt und verlacht und für die ganze Nation war er einfach nur Gazza. Eine absolute Identifikationsfigur, gerade weil er so fehlbar war.

Geboren wurde Gascoigne in Gateshead, von Newcastle nur eine Fahrt über die Millennium Bridge entfernt. Im Alter von 13 Jahren erfüllte er sich seinen großen Traum und wechselte zu seinem Lieblingsklub. Schon im Nachwuchsbereich sorgte Gascoigne für reichlich Wirbel abseits des Platzes, zum Beispiel als er einen Traktor gegen die Außenwände einer Umkleidekabine rammte.

Nach Siegen der Profimannschaft schlich sich der junge Gascoigne in deren Kabine, um vom Geschmack seiner Zukunft zu naschen. Dort wurde nämlich gerne mit dem Likör Harveys Bristol Cream Sherry angestoßen. Gascoigne schüttete die Reste aller Gläser zusammen und trank sie aus, so erzählte er es in seiner Autobiografie. Einen anderen Genuss musste er dagegen zwischenzeitlich aufgeben: Um seine Gewichtsprobleme in den Griff zu bekommen, wies der Klub die Mitarbeiter des Oven Door Tea Room unweit des Stadions an, Gascoigne keinen Kuchen mehr zu verkaufen.

Trotz oder gerade wegen Sherrygenusses und Kuchenentzugs entwickelte sich der Fußballer Gascoigne prächtig: Er führte Newcastle zum FA Youth Cup und debütierte 1985 mit 17 Jahren für die Profimannschaft. In der darauffolgenden Saison erkämpfte er sich einen Stammplatz, den er drei Jahre lang behalten sollte. Newcastle-Legende Jackie Milburn nannte den offensiven Mittelfeldspieler "den besten Fußballer der Welt", der damalige Klubpräsident Stan Seymour Jr. "George Best ohne Gehirn".

Seinen wohl ikonischsten Moment im Trikot von Newcastle erlebte Gascoigne, als ihm der für seine harte Spielweise berüchtigte Vinnie Jones vom AFC Wimbledon während eines Spiels zwischen die Beine griff. In seiner Autobiografie erzählte Gascoigne, wie Jones schon vor dem Anpfiff auf ihn zukam: "Es geht heute nur um dich und mich, fetter Junge. Nur um dich und mich." Und dann? "Er hat mich über den ganzen Platz getreten. Bevor er zu einem Einwurf ging, flüsterte er mir einschüchternd zu: 'Ich bin nur kurz weg einen Einwurf ausführen. Aber ich werde verdammt noch mal zurückkommen.' Irgendwann stand er vor mir und wartete auf einen Freistoß. Dann packte er mich bei den Eiern. Ich habe vor Schmerz geschrien." Gascoigne reagierte auf den Vorfall mit Humor: Er schickte Jones nach dem Spiel eine Rose, zurück bekam er eine Klobürste.

Einige Monate später im Sommer 1988 verließ Gascoigne Newcastle, verärgert über die sportliche Stagnation und fehlende Perspektive der Mannschaft. In seinen drei Jahren bei den Profis avancierte Gascoigne dank seiner spektakulären Spielweise und seinen zahlreichen Scorerpunkten zwar zum Publikumsliebling, für die Mannschaft reichte es aber lediglich für das Tabellenmittelfeld.

"Ich will erfolgreich sein und das bedeutet zu wechseln", sagte er damals. "Hier wird so viel von mir erwartet, dass schon Enttäuschung herrscht, wenn ich einmal ein durchschnittliches Spiel mache." Obwohl Gascoigne zunächst Trainer Alex Ferguson und Manchester United sein Wort gegeben hatte, wechselte er letztlich für die damalige Rekordsumme von 5,2 Millionen Euro zu Tottenham Hotspur.

Als er am ersten Spieltag der darauffolgenden Saison mit seinem neuen Klub in den St. James' Park zurückkehrte, wurde er mit einigen von ihm so geliebten Mars-Riegeln beworfen. Newcastle stieg am Ende der Saison ab, bald drohte sogar der Absturz in die Drittklassigkeit. Das Verhältnis zwischen den Fans und ihrem ehemaligen Helden entspannte sich unterdessen. Als Gascoigne bei Tottenham verletzt ausfiel, reiste er schon mal nach Newcastle, um sich auf den Rängen des St. James' Park unter die Massen zu mischen. Und sicherlich auch, um in seinen Heimatpubs vorbeizuschauen.

DIE VERRÜCKTEN

DIE ENTERTAINERS

Nach dem tiefen Fall in Folge von Paul Gascoignes Abschied erlebte Newcastle United Mitte der 1990er-Jahre eine Renaissance. Unter dem ehemaligen Liverpool- und HSV-Stürmer Kevin Keegan als Trainer spielte die Mannschaft spektakulären Fußball und schrammte nur knapp am Meistertitel vorbei. Ihr Spitzname: "The Entertainers". Mit dabei war der Schweizer Rechtsverteidiger Marc Hottiger, heute Nachwuchskoordinator des Schweizer Verbandes.

Herr Hottiger, Sie wechselten 1994 vom FC Sion zu Newcastle United. Wie kam es dazu?

Marc Hottiger: Ich habe in jenem Sommer mit der Schweizer Nationalmannschaft an der WM in den USA teilgenommen. Meine Leistungen gegen Rumänien und die USA sind Newcastles Trainer Kevin Keegan aufgefallen, der damals einen Rechtsverteidiger gesucht hat. Dann hat er mich angerufen und ich bin gewechselt.

Wie war Kevin Keegan als Trainer?

Hottiger: Kevin hat immer für eine super Stimmung gesorgt und viele Witze gemacht. Ich erinnere mich noch genau an sein Lachen. Er hat viel gelacht. Die Trainingseinheiten hat sein Assistent Derek Fazackerley geleitet, Kevin hat aber manchmal selbst mitgespielt. Ich hatte Glück, dass ich diese Zeit in Newcastle miterleben durfte. Wir hatten jeden einzelnen Tag viel Spaß miteinander, auf dem Platz und daneben.

Die Mannschaft hat also auch privat viel miteinander unternommen?

Hottiger: Wir hatten ein junges Team und waren an Samstagen nach den Spielen oft gemeinsam unterwegs. Zum Essen oder in einem Pub, um ein Bier zu trinken. Newcastle ist eine Stadt, in der am Abend viel geht. Bevor Arsene Wenger 1996 zu Arsenal gekommen ist, wurden die Themen Alkohol, Ernährung und Disziplin im englischen Fußball kaum thematisiert. Zwei-, dreimal waren wir während der Saison sogar mit der ganzen Mannschaft samt Trainerstab für drei Tage in Schottland zum Golfen.

Wie lief das ab?

Hottiger: Das war schon komisch. Beim ersten Mal habe ich mich gefragt: 'Was passiert hier eigentlich?' Kevin hat uns Ende der Woche gesagt, dass wir zum Spiel am Samstag unsere Golfschläger mitnehmen sollen. Eineinhalb Stunden vor dem Anpfiff sind wir also mit unseren Fußball- und Golfsachen am Stadion angekommen und haben die Golfausrüstung in den Mannschaftsbus geräumt. Dann haben wir unser Spiel gespielt und sind direkt nach Abpfiff mit dem Bus ins legendäre St. Andrews nach Schottland gefahren. In der Schweiz hätte es dafür viel öffentliche Kritik gegeben. In Newcastle war das den Fans egal, solange wir auf dem Platz alles gegeben haben. Die Fans haben uns sogar dabei zugeschaut, als wir die Golftaschen vor dem Spiel in den Bus geräumt haben.

Wie sah der weitere Reiseverlauf aus?

Hottiger: Wir waren für drei Nächte bis Dienstag in einem Hotel in St. Andrews. Das nächste Fußballtraining war erst wieder am Mittwoch. In unserem Hotel gab es auch Tischtennis- und Billardtische, mindestens den halben Tag lang mussten wir aber Golf spielen.

Wer waren die besten Golfer?

Hottiger: Kevin war der beste. Er hatte damals ein Handicap von 3. Am schlechtesten waren wir Ausländer, vor allem ich und Philippe Albert aus Belgien. Er kam gleichzeitig mit mir nach Newcastle und hatte davor genau wie ich noch nie Golf gespielt. Am ersten Tag mussten wir einen Kurs belegen. Kevin hat uns auch manchmal Tipps gegeben. 

Zurück zum Fußball: Wegen der unterhaltsamen Spielweise wurden Sie und ihre Kollegen damals "The Entertainers" gerufen. Welchen Anteil hatte Keegan daran?

Hottiger: Er wollte, dass wir immer offensiven Fußball spielen. Ein bisschen wie aktuell der FC Bayern. Ausführliche taktische Anweisungen hat er uns aber nicht gegeben. Seine Besprechungen vor den Spielen haben manchmal nur zwei, drei Minuten gedauert. Fertig, Schluss. Einmal haben wir im UEFA-Cup mit 3:0 gegen Athletic Bilbao geführt. Kevin meinte, dass wir weiter angreifen und noch mehr Tore schießen müssen. Sowas habe ich in so einer Situation von keinem anderen Trainer gehört. Dann haben wir noch zwei Gegentore kassiert und sind nach einem 0:1 im Rückspiel wegen der Auswärtstorregel ausgeschieden. 

Haben Sie als Verteidiger versucht, Keegan zu bremsen?

Hottiger: Nein, ich habe auch immer offensiv gedacht. Ich war zufrieden mit der Spielweise - und bei den Fans ist sie auch gut angekommen.

Wie eng war die Beziehung zu den Fans?

Hottiger: Kevin war es sehr wichtig, dass wir eine enge Beziehung zu den Fans haben. Es gab mehrmals pro Woche öffentliche Trainingseinheiten, zu denen immer viele Leute gekommen sind. Heute fahren die Spieler von Newcastle vor den Heimspielen mit ihren Autos direkt in die Tiefgarage. Wir haben damals noch vor dem Stadion geparkt. Weil wir so viele Autogramme schreiben mussten, hat der Weg vom Parkplatz zur Kabine mindestens eine halbe Stunde gedauert.

Wer waren die Schlüsselspieler der Mannschaft?

Hottiger: Peter Beardsley war sehr, sehr wichtig für uns. Er war zwar schon alt, ist aber gerannt wie verrückt. Andy Cole hat viele Tore geschossen. Außerdem muss ich noch Philippe Albert, David Ginola, Les Ferdinand und Rob Lee erwähnen.

In der Saison 1994/95 führten Sie mit Newcastle lange die Tabelle an, landeten am Ende aber nur auf Platz sechs. Im darauffolgenden Jahr musste sich die Mannschaft ganz knapp von Manchester United geschlagen geben und wurde Zweiter. Da hatten Sie den Klub aber schon Richtung Everton verlassen. 

Hottiger: In meiner ersten Saison war ich Stammspieler. Doch dann holte der Klub mit Warren Barton für viel Geld einen neuen Rechtsverteidiger, der meinen Platz einnahm. Kevin wollte mich trotzdem unbedingt behalten. Als im Februar meiner zweiten Saison das Angebot von Everton kam, bin ich dann doch gewechselt. Im Titelkampf habe ich weiterhin mit meiner alten Mannschaft mitgefiebert.

Welche Unterschiede haben Sie zwischen Newcastle und Everton ausgemacht?

Hottiger: Mir hat es in Newcastle mehr gefallen. Dort war die Stimmung in der Mannschaft viel besser. Bei Everton haben wir beispielsweise am Abend nichts gemeinsam unternommen.

DAS ZERWÜRFNIS

Die Übernahme durch die saudi-arabischen Investoren löste im Oktober einen Ausnahmezustand in Newcastle aus. "Viele Fans sind mit Bier zum Stadion geströmt und haben dort eine große Party gefeiert", sagt Jamie Smith vom Newcastle-Fanzine The Mag im Gespräch mit SPOX und GOAL. "Es war eine große Erlösung, Mike Ashley los zu sein. Die neuen Besitzer haben riesigen Optimismus ausgelöst."

Ähnlicher Optimismus herrschte in Newcastle letztmals wohl bei der Übernahme durch eben jenen nun verhassten Mike Ashley 2007. Nach dem Aufschwung unter Trainer Kevin Keegan Mitte der 1990er-Jahre sowie anschließend zwei verlorenen FA-Cup-Finals, zwei Champions-League-Teilnahmen und einem UEFA-Cup-Halbfinale, war Newcastle in die sportliche Belanglosigkeit zurückgekehrt.

Dann kam Ashley, dank seiner Sportartikelfirma Sports Direct einer der reichsten Menschen Englands. "Es wirkte am Anfang so, als wolle er den Klub groß machen. Wir dachten, das sei die Morgendämmerung", erinnert sich Smith. Zunächst ließ Ashley auch tatsächlich die Sonne aufgehen: Er machte alles richtig, holte Ikone Keegan als Trainer zurück und sozialisierte sich mit den Anhängern.

"Er trat auf wie ein Mann des Volkes, mischte sich unter die Fans, ging in Pubs und bestellte dort Runden für alle", sagt Smith. Bei einem Auswärtsspiel gegen den FC Arsenal stand Ashley sogar mit Trikot im Newcastle-Fanblock und trank dort ein Bier, was laut Premier-League-Regularien aber verboten ist. Die Folge war ein kleines Skandälchen, das sein Ansehen bei den Fans selbstredend nur weiter steigerte.

Anschließend zerbrach das Verhältnis zwischen Ashley und den Fans aber in beachtlichem Tempo - und das hat mit Bastian Schweinsteiger zu tun. Kurz vor Ende der sommerlichen Transferphase 2008 verkaufte Newcastle das vielversprechende Talent James Milner für 15 Millionen Euro an Aston Villa. Ashley und dessen Gefolgsleute sollen Trainer Keegan zuvor zugesichert haben, dass der 24-jährige Schweinsteiger, damals noch nicht der bayerische "Fußball-Gott" späterer Zeiten, aber immerhin schon Stammspieler beim FC Bayern München und in der deutschen Nationalmannschaft, als Ersatz bereitstünde.

Als Milners Abgang fixiert war, rief Keegan umgehend Bayerns Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge an. Die beiden kannten sich aus gemeinsamen Bundesligazeiten Ende der 1970er-Jahre. Keegan stürmte damals für den Hamburger SV, Rummenigge für den FC Bayern. Das Telefon war auf Lautsprecher gestellt, Keegans Assistent Terry McDermott hörte mit und berichtete später in seiner Autobiografie von der Konversation.

"Kevin hat die Gründe für seinen Anruf erklärt. Ihm sei von seinem Klub gesagt worden, dass eine Verpflichtung Schweinsteigers möglich wäre. Karl-Heinz hat sofort angefangen zu lachen. Er meinte, dass er am Morgen eine E-Mail von Newcastle mit einem Angebot über fünf Millionen Euro bekommen hätte. 'Kevin, wir konnten gar nicht aufhören zu lachen', sagte er. 'Wir hätten ihn auch bei einem Angebot über 50 Millionen Euro nicht verkauft - aber fünf Millionen?'"

Stattdessen verpflichtete Newcastle gegen Keegans Willen per Leihe einen gewissen Nacho Gonzalez aus Uruguay, der anschließend lediglich 39 Pflichtspielminuten absolvieren sollte. Für Keegan bedeutete dieses Vorgehen den Bruch mit Ashley. Bei seiner Verpflichtung als Trainer war ihm wie in England üblich die volle Verantwortlichkeit für Transfers zugesichert worden. Wie nun offensichtlich wurde, trafen tatsächlich aber Ashleys Gefolgsleute Dennis Wise und Derek Llambias die Entscheidungen. Keegan trat zurück und lieferte sich mit seinem Ex-Klub einen rund einjährigen Rechtsstreit wegen angeblich vereinbarter Kompetenzen, an dessen Ende der Trainer Recht und rund 2,4 Millionen Euro Entschädigung bekam.

"Mit Keegans Rücktritt haben sich die Fans von Ashley abgewandt", sagt Smith von The Mag. Vertreter seines Fanzines gründeten daraufhin gemeinsam mit Kollegen von True Faith sowie der Website NUFC.com den Newcastle United Supporters Trust (NUST), der heute mit über 13.000 Mitgliedern die größte Fanvereinigung Englands ist. Ashley reagierte auf die Opposition mit einem totalen Rückzug aus der Öffentlichkeit, die er zuvor noch so genossen hatte. Er sprach nicht mehr mit Fans und nur mehr vereinzelt mit ausgewählten Journalisten. Sogar die Kommunikation mit den eigenen Trainern kam zum Erliegen.

"Statt zu investieren nutzte er den Klub lediglich als Werbefläche für seine Firma Sports Direct. Es wurden hauptsächlich junge Spieler gekauft mit dem Hintergedanken, dass sich ihr Wiederverkaufswert erhöhen könnte. Es ging ihm nie darum, ein Team aufzubauen", sagt Smith. "Ashley hat den Klub ohne irgendwelche Ambitionen geführt. Und außerdem ohne Plan, wie man einen Fußballklub überhaupt führt." Statt renommierten Trainern wie Rafael Benitez (2016 bis 2019) mehr Entscheidungsgewalt zu überlassen, vertraute Ashley weiterhin seinen in diesen Rollen unerfahrenen Weggefährten. Die Konsequenz: größtenteils Mittelfeldplatzierungen, unterbrochen von zwei Abstiegen.

Trotz dieser Entwicklungen verlor der Klub nicht an Anziehungskraft. Ähnlich wie das zwischenzeitlich ebenfalls abgestürzte Leeds United profitiert auch Newcastle von seinem Dasein als einzige relevante Fußball-Niederlassung einer Großstadt. Unabhängig von der sportlichen Leistungsfähigkeit gilt Newcastle seit jeher als einer der wichtigsten Klubs des Landes. Das zeigt sich auch an der überproportionalen Berücksichtigung für TV-Spiele und der Hauptrolle in der Fußballfilm-Trilogie "Goal!" (2005 bis 2009), in der der junge Protagonist zeitweilig für Newcastle spielt.

Die zahlreichen Fans zehrten während all der ambitionslosen Jahre unterdessen von Erinnerungen an die kurzen Erfolgsphasen und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Bei der bis heute letzten Zweitligasaison 2016/17 kamen im Schnitt 51.106 Zuschauer zu den Heimspielen, nur fünf Premier-League-Klubs überboten damals diese Marke.

All das macht Newcastle für potenzielle Investoren so interessant. Ashley wusste über den Wert des Traditionsklubs in der wichtigsten Fußballliga der Welt bestens Bescheid. Trotz des Fan-Widerstandes harrte er 14 Jahre und etliche Übernahmeversuche lang aus, ehe ein für ihn zufriedenstellendes Kaufangebot eintrudelte. 350 Millionen Euro bekam er vom Konsortium um den saudi-arabischen Staatsfonds PIF und damit mehr als doppelt so viel als er 2007 gezahlt hatte. "Er ist zu 100 Prozent der größte Gewinner dieses Deals", findet Smith.

Das ist ihm und den meisten anderen Fans nun aber ziemlich egal, Hauptsache Ashley ist weg. Wohlwollend in Kauf genommen werden dafür sogar die neuen Besitzer aus dem wegen Menschenrechtsverletzungen kritisierten Saudi-Arabien. Natürlich beschäftigen Smith diese Themen, versichert er, natürlich hoffe er auf Gespräche und Verbesserungen vor Ort. Gleichzeitig verweist er aber auch auf generell enge Beziehungen zwischen England und Saudi-Arabien, auf gegenseitige Besuche von hochrangigen Politikern. "Deshalb ist es ein bisschen drüber, Newcastles Fans zur moralischen Instanz auszurufen", findet Smith. "Es gibt bei diesem Thema kein Schwarz und Weiß, obwohl das wegen unserer Farben ein bisschen ironisch ist."