Nein, diese Story beginnt nicht mit Martina Hingis. Sie startet mit einer mehr als talentierten Spanierin der aktuellen Generation. Garbine Muguruza avancierte mit ihrem French-Open-Titel 2016 mit 22 Jahren nämlich erst zur zweiten Grand-Slam-Siegerin überhaupt, die in den 1990er Jahren geboren wurde. Vorher war das lediglich der momentan an ihrem Comeback feilenden Petra Kvitova 2011 in Wimbledon gelungen - mit damals 21 Lenzen.
Slams in jungen Jahren im Profi-Tennis zu gewinnen, wird nicht nur bei den Männern immer schwieriger. Physis und Konstanz gleichermaßen abzurufen, entwickelt sich bei der fortschreitenden Professionalität mitunter zur Herkulesaufgabe. Qualitäten, die selbstredend noch mehr gefragt sind, um die Weltrangliste bis ganz nach oben empor zu klettern.
Die Schweizerin Martina Hingis, die in diesen Tagen ihre Nachfolgerinnen kritisierte, hatte eben diese Qualitäten bereits mit 16 Jahren, sechs Monaten und einem Tag nachgewiesen. In ihrer dritten (!) Profisaison schnappte sich die Rechtshänderin 1997 zunächst den Australian-Open-Titel mit einem Finalsieg über die Gewinnerin von 1995, Mary Pierce, und trug fortan den Titel der jüngsten Grand-Slam-Siegerin des 20. Jahrhunderts.
Dritte Profisaison mit 16 Jahren
Nach zwei weiteren Turniersiegen in Tokio und Paris eroberte die "Swiss Miss", wie bald ihr Spitzname lautete, mit dem Finalerfolg in Key Biscane über Monica Seles den Nummer-Eins-Status von Steffi Graf, die den Platz an der Sonne 94 Wochen inne gehabt hatte - der deutsche Tennisstar fehlte in diesen Tagen wegen einer Knieverletzung und sollte den Sprung nach oben kein weiteres Mal schaffen.
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Ein Umstand, der die Leistung dieses Wunderkindes - wann, wenn nicht bei Hingis war dieser Ausdruck wirklich mal angebracht - in keinster Weise schmälert. Hingis hatte Graf bereits ein Jahr zuvor auf Sand in Rom mit ihrem variantenreichen, von Rückhandstops und herausragenden Antizipationsvermögen geprägten Spiels entnervt und besiegt und so den Nachweis bereits erbracht, an guten Tagen jede Spielerin schlagen zu können. Am 31. März war sie nun ganz oben angelangt. Von den Rivalinnen anerkannt, von den Medien hochgelobt.
Der Teenie war in diesen Tagen vor exakt 20 Jahren eine bereits etablierte Topspielerin. Zum Vergleich: Wer heute die WTA-Weltrangliste aufruft, muss schon eine ganze Weile scrollen, um die bestplatzierte 16-Jährige zu finden (die Dame heißt Destanee Aiava, kommt aus Australien und steht derzeit auf Platz 210).
Aufgewachsen oder herangezüchtet?
Ihr Profidebüt gab die gebürtige Tschechoslowakin bereits im Herbst 1994 mit gerade einmal 13 Jahren, standesgemäß mit einem Sieg vor Heimpublikum in Zürich gegen die erfahrene Patty Fendick. Zu dieser Zeit lag ihr Juniorentitel bei den French Open schon mehr als ein Jahr zurück: Müßig zu erwähnen, dass sie die jüngste Juniorensiegerin eines Grand Slams aller Zeiten ist.
Damals schwärmten Experten und bald auch immer mehr Fans von einem außerordentlichem Talent, das da in Trübbach im Schweizer Kanton St. Gallen aufwuchs - oder sollte man besser sagen: "herangezüchtet wurde"?
Die Tochter einer slowakischen Topspielerin wurde, das ist keinesfalls übertrieben, von klein an auf Tennisprofi getrimmt. Mutter Melanie Molitor hatte ihre einzige Tochter stets auf Turnieren dabei, arbeitete später als Trainerin. Mit zwei habe sie Martina, nach der großen tschechoslowakischen (später für die USA aufschlagenden) Martina Navratilowa benannt, erstmals einen Schläger in die Hand gedrückt. "Mit drei, vier erhielt sie von mir täglich eine halbe Stunde Einzeltraining", gab Molitor in einer ESPN-Reportage zu Protokoll.
Hingis über junge Generation: Spielerinnen zu früh zufrieden
Hingis selbst hat an diese Zeit keine wirklichen Erinnerungen mehr. Wohl aber an die vielen harten Sessions mit ihrer Mutter nach dem Umzug mit sieben Jahren in die Schweiz. Sie sei damals, das gab Hingis selbst zu, in der Grundschule zunächst eine Art Außenseiterin gewesen - nicht zuletzt aufgrund der sprachlichen Barriere.
Gewinnen - ein natürlicher Prozess
Selbstvertrauen zog sie durch ihre sportlichen Erfolge. Sie war daran gewöhnt, zu gewinnen - immer. Quasi ein natürlicher Prozess, der aus einem fast abartigem Talent gepaart mit einer hohen Trainingsintensität entstand. Das habe ihr auch später den Start auf der Profitour erleichtert. "Es war normal, dass ich gewinne. Ich kannte das nicht anders", erklärte sie selbst gegenüber ESPN.
Deswegen war es für sie auch keine Überraschung, dass sie schon mit elf in der heimischen Damenmannschaft stand. Keine Überraschung, dass sie ein Jahr später Schweizer Mannschaftsmeister wurde, sich den erwähnten Juniorentitel von Paris sicherte und auf der ITF-Tour erfolgreich war.
In ihrem ersten kompletten Profijahr 1995 präsentierte sich die 14-Jährige bereits mit mehr als soliden Grundschlägen, fest verankerten Rückhandstopps und einem natürlich wirkenden Vorwärtsdrang. Der sichere Umgang am Netz war fortan Trumpf.
Begeisternde Stops und Netzangriffe einer 14-Jährigen
In einer Zeit, in der die meisten Altersgenossinnen ganz sicher ganz andere Sorgen hatten, erreichte Hingis vor großem Publikum das Finale von Hamburg und die zweite Woche der US Open. Zum Ende des Jahres stand nicht nur Weltranglistenplatz 16 zu Buche: Beim Saisonfinale in Flushing Meadows bekam sie ausgerechnet von Navratilova den Preis für die Newcomerin des Jahres überreicht.
Von Rebellion gegen den Sport oder gar die Mutter war da noch keine Spur: Hingis wirkte in den drei Jahren auf dem Weg nach ganz oben seltenst schlecht gelaunt oder pubertär. Der Öffentlichkeit präsentierte sich eine Frohnatur, die eng und in bester Harmonie mit ihrer gleichermaßen ambitionierten Mutter an ihren Zielen arbeitete. Erste Risse und Misstöne folgten erst, als der Platz an der Sonne in Gefahr geriet.
1996: Wimbledontitel im Doppel als Selbstvertrauensbooster
Zunächst eroberte die 15-Jährige 1996 im Einzel wie im Doppel im Sturm. Nach dem Sieg in Rom über Graf war schließlich der Grand-Slam-Erfolg in Wimbledon im Doppel an der Seite von Helena Sukova (im Einzel hatte sich Graf revanchiert) ein Schlüsselmoment: "Dieser Titel vor großem Publikum war eine enorme mentale Hilfe und hat mir viel Selbstvertrauen eingehaucht", verriet Hingis.
Tatsächlich marschierte sie bei den US Open bis in die Vorschlussrunde und ließ mit Erfolgen über die ehemalige Siegerin Arantxa Sanchez Vicario und Jana Novotna aufhorchen. Beim Masters am Ende des Jahres war lediglich Graf stärker, wohlgemerkt damals noch über fünf Sätze
In der Winterpause reifte bei Konkurrentinnen und wohl ihr selbst die Erkenntnis, dass die neue Nummer vier der Welt für den nächsten Schritt bereit war. Nach dem Sieg beim Vorbereitungsturnier in Sydney trumpfte sie bei den Australian Open groß auf, gewann die Einzel- und die Doppelkonkurrenz. Drei weitere Turniere und Turniersiege später grüßte Martina Hingis endlich von Platz eins der Weltrangliste.
Unkenrufe, wonach sie diese Bestmarke nur wegen der verletzungsbedingten Abstinenz von Graf erreicht habe, konnte sie nie ganz widerlegen. Verletzungsbedingt kam es nur noch selten zu Duellen, Graf führt im direkten Vergleich (5:2). Unvergessen ist das letzte Aufeinandertreffen im Finale der French Open 1999, als Hingis das Publikum gegen sich aufbrachte. Gleichermaßen muss man festhalten: Weltranglistenplatz eins war für sie im März 1997 nur eine Frage der Zeit - Grafs Verletzung hin oder her.
Besser als Graf?
Martina Hingis lieferte 1997 zweifelsfrei das beste Jahr ihrer Karriere ab:
- Sie siegte bei den Australian Open, in Wimbledon und bei den US Open und holte damit drei der vier Grand-Slam-Titel
- Sie verlor ihr erstes Match überhaupt am 8. Juni: im Finale der French Open gegen Iva Majoli
- Insgesamt triumphierte sie bei 18 Turnieren zwölfmal
- Im ganzen Kalenderjahr gewann sie 82 Matches bei ganzen sechs Niederlagen
Experten philosophierten in der Folge darüber, wie lange die Schweizerin das Damentennis prägen könne. Hingis, so der Tenor, sei das Gegenbeispiel zu einer jungen Jennifer Capriati, die nach anfänglichen Erfolgen mit Burnout und privaten Problemen zu kämpfen hatte. Hingis als Beweis dafür, dass Erfolg in jungen Jahren auch gutgehen kann?
Ein schnelles Ende der Dominanz
Doch der Umgangston wurde rauer, Aroganzvorwürfe kamen nicht von ungefähr. Ein ums andere Mal äußerte sich Hingis abfällig über ihre Konkurrentinnen. Sie sei Graf spielerisch überlegen, Williams und Mauresmo unterstellte sie subtil Dopingvorwürfe. Mauresmo bezeichnete sie gar "als halben Mann."
Zwar blieb Hingis zwischen 1997 und 2001 insgesamt 209 Wochen Weltranglistenerste und tauschte diese Position lediglich mit Lindsay Davenport. Doch das Lager "Powertennis", bestehend aus Venus Williams oder Amelie Mauresmo, aber auch den Arrivierten wie Pierce, Seles und Graf fügten ihr einige schmerzhaften Niederlagen zu. Zweimal konnte sie noch die Australian Open gewinnen, Down Under 1999 war ihr letzter Einzelerfolg.
Als die großen Erfolge ausblieben, feuerte sie sogar ihre Mutter als Trainerin. In der Folge machte der linke Fuß und die Hüfte Probleme. 2003 beendete sie entnervt von Verletzungen und Nebenkriegsschauplätzen zum ersten Mal ihre Karriere, beim Comeback 2006 schaffte sie es immerhin nochmal unter die Top Ten. Im November 2007 wurde bekannt, dass sie in Wimbledon positiv auf Kokain getestet worden war. Angesichts einer zweijährigen Sperre warf sie den Schläger erneut hin.
Mehrere Jahre nach Ablauf der Sperre kehrte Hingis nochmals zurück - diesmal als Doppelspezialistin. Und beschränkt sich nach einer teilweise tumultartigen Vergangenheit auf sportliche Schlagzeilen: Insgesamt hat sie zwölf Doppel- und Mixed-Titel bei Grand Slams gewonnen und war 67 Wochen Nummer eins der Doppelweltrangliste.
Ein Comeback im Einzel kommt für die mittlerweile 36-Jährige nicht mehr in Frage. Sie weiß: So erfolgreich wie damals wird es nicht mehr. Und den Platz in den Geschichtsbüchern wird ihr ohnehin so schnell niemand streitig machen.
Die Weltrangliste der Damen in der Übersicht