Teams haben unterschiedliche Maßstäbe, unterschiedliche Prioritäten, wenn es um das Scouten von Quarterbacks geht. Und bei Murray gilt noch immer für einige: Auf die Größe kommt es an.
Murray ist für NFL-Verhältnisse ein absolutes Novum. Murray misst, wie unter großem Tamtam bei der Combine ermittelt wurde, 1,77 Meter - einen erfolgreichen NFL-Quarterback dieser Größe gibt es schlicht nicht, und es wird zweifellos Teams geben, für die das noch immer ein mögliches Ausschlusskriterium ist.
Doch was zeigt sein Tape? Hier liegt noch immer die Wahrheit, wenn es um das Evaluieren von Draft-Prospects geht. Um vorweg meinen Maßstab offen zu legen, wenn in den nächsten Tagen die Quarterback-Analysen allesamt raus kommen - das sind für mich die wichtigsten Eigenschaften eines Quarterbacks, in dieser Reihenfolge, wenngleich einige natürlich zusammenhängen:
- Accuracy und Antizipation
- Processsing, Reads, Decision-Making
- Pocket-Verhalten
- Mechanics: Füße, Wurfbewegung, Release
- Off-Script Plays, Improvisieren
- Armtalent und Deep Passing
- Athletik
Es ist die mit Abstand wichtigste Position auf dem Feld. Jedes Jahr hoffen mehrere Teams, im Draft hier ihren Franchise-Quarterback für die nächsten 15 Jahre zu finden und vergleichsweise selten gelingt das wirklich.
Deshalb startet die SPOX-Draft-Coverage 2019 auch mit dieser Position: Diese Woche steht ganz im Zeichen der Quarterbacks, mit ausführlichen Analysen zu insgesamt zehn Quarterback-Prospects im diesjährigen Draft sowie Hintergrund-Geschichten und mehr. Los geht's mit dem Prospect, das am kontroversesten diskutiert wird: Sooners-Quarterback Kyler Murray.
NFL Draft 2019 Analyse: Kyler Murray, QB, Oklahoma
Einer der wichtigsten Punkte, mit dem man direkt aufräumen muss, ist die Frage danach, welche Art Quarterback Murray ist. Allzu schnell wird ein athletischer Quarterback, der ein gefährlicher Runner ist - und das ist Murray ohne jede Frage - in eine Schublade gesteckt; bei Murray aber ist das mitnichten angebracht.
Pro Football Focus kommt zu dem Schluss, dass 89 Prozent seiner Pässe 2018 aus der Pocket kamen - ESPN Stats&Infos kommt sogar auf 91 Prozent.
Weiter verzeichnete er im Schnitt 11,8 Yards pro Pass aus der Pocket, was der zweitbeste Wert ist, den PFF in dieser Kategorie jemals ermittelt hat - lediglich sein Vorgänger in Oklahoma war noch besser: Baker Mayfield kam 2017 auf 11,9 Yards pro Pass. Kein anderer QB dieser Klasse kommt dagegen auch nur bis auf 1,5 Yards an Murray ran.
Kyler Murrays College-Statistiken 2018:
Average Depth of Target | Yards/Att | Deep Passing Adj. Comp. | Total TD | Total INT | Adj. Comp. vs. Pressure | TD/INT vs. Pressure |
12 (7) | 11,6 | 51,9% (7) | 42 | 7 | 76,5% (1) | 6/2 |
Anm. d. Red.: Alle Advanced Stats stammen von Pro Football Focus. In Klammern steht für die bessere Einordnung bei einigen Stats der Rang unter allen College-Quarterbacks. "Adj. Comp." steht für "Adjusted Completion Percentage".
Wenn jemand nur eine Stärke bei Murray hervorheben will, dann sind das für mich nicht die elektrisierenden Runs oder die spektakulären Deep Balls.
Es sind Accuracy und Ball Placement, und wer sich die Liste mit meinen Prioritäten bei der Quarterback-Analyse ins Gedächtnis ruft, kann sich erschließen, dass ihn das alleine zu einem interessanten Prospect macht.
Murrays Accuracy ist seine beste Eigenschaft und über weite Teile seines Tapes absolut spektakulär. Er findet nicht nur Lücken in Zone und Man Coverage, sondern trifft auch engste Fenster, und das kontant. ESPN Stats&Info listet 81,6 Prozent seiner Pässe aus der Pocket als "on Target", also fangbar.
Murrays Pässe kommen mit unheimlich hoher Genauigkeit, er hat einen schnellen, effizienten Release und bringt sehr vieles mit, um ein guter Pocket Passer in der NFL zu werden. Nur sehr wenige Quarterbacks verbessern sich noch nach ihrer College-Karriere was Accuracy angeht, Murray ist hier in dieser Draft-Klasse die klare Nummer 1.
Enge Fenster musste Murray dabei auch regelmäßig treffen, denn zumeist sah er sich vielen Verteidigern in Coverage gegenüber. Teams waren gegen die Sooners sehr zögerlich im Pass-Rush und stellten eher mehr Spieler in Coverage ab: 82 Prozent von Murrays Pässen kamen gegen fünf oder mehr Defensive Backs.
Seine Fähigkeit, den Ball exakt an den Punkt zu bringen, an den er kommen muss, machte sich dann auch im vertikalen Passspiel bemerkbar.
Murray war einer der aggressivsten Quarterbacks und der beste Quarterback letztes Jahr, wenn es darum ging, Defenses tief zu attackieren und war dabei mit einer Adjusted Completion Percentage von 51,9 Prozent ebenfalls sehr akkurat. Auch das sieht man regelmäßig auf Tape.
Insbesondere, wenn die Defense Druck brachte, scheute er vor einem tiefen Pass nicht zurück, wenn dieser sich dadurch öffnete. Murray warf gegen den Blitz 21 Prozent seiner Pässe 20 Yards oder tiefer, eine hohe Quote.
Dabei hilft es ihm fraglos, dass er sich nicht nur in, sondern auch außerhalb der Pocket wohlfühlt und keine Probleme damit hat, "on the Run" - also aus der Bewegung heraus - einen präzisen Pass zu werfen.
Dazu kommt, dass er nicht nur einen starken Arm hat, um enge Fenster zu treffen, sondern er verfügt auch über sehenswerten Touch, um Bälle über Verteidiger in die Arme seines Receivers zu treffen. Außergewöhnliche Pässe wie dieser sieht man bei Murray häufig, und sie sehen leichter aus als bei den allermeisten anderen Quarterbacks.
Kyler Murray Analyse: Was passiert gegen Pressure?
Bei den meisten der bislang aufgeführten Pässe fällt auf, dass Murray ohne Druck zum Wurf kommt. Dieser Eindruck trügt nicht: Über 30 Prozent seiner Dropbacks kamen gegen einen 3-Men-Rush, eine ungewöhnlich hohe Zahl.
Das in Kombination mit der Tatsache, dass Oklahoma eine sehr gute Offensive Line hatte, fällt auf Tape auf. Murray hat auffallend häufig eine saubere Pocket und kann den Ball eine gefühlte Ewigkeit in der Hand halten, um sein Target zu finden oder einem Receiver noch ein, zwei Sekunden mehr Zeit zu verschaffen.
Insgesamt stand er so nur sehr selten unter Druck, das wird in der NFL, auch wenn Teams hier ebenfalls seine Fähigkeiten als Scrambler und Runner berücksichtigen müssen, fraglos anders sein - von den Vorjahres-Rookie-QBs können insbesondere Josh Rosen, Josh Allen und Sam Darnold davon ein Lied singen.
Was passierte also, wenn Murray unter Druck stand? Zwei Sachen fallen auf: Wird die Pocket eng, hat er teilweise kein gutes Gefühl für den Pass-Rush, manchmal verlässt er eine saubere Pocket auch etwas voreilig. Es sind Einzelfälle, aber es kommt vor und muss beobachtet werden, wenn er es in der NFL mit mehr und komplexerem Pressure zu tun bekommt.
Was aber häufiger vorkommt, ist gutes Pocket-Verhalten auch gegen Druck. Murray beherrscht und versteht es, seine Athletik und Agilität innerhalb der Pocket einzusetzen, um Pass-Rusher mit effizienten Bewegungen ins Leere laufen zu lassen und kann dann auch aus einer schwierigen Plattform den Ball loswerden.
Derartige Plays fallen häufiger auf, es sind oft einzelne Schritte zur Seite und eher kleine Bewegungen, mit denen sich Murray in der Pocket Zeit verschafft und so die Struktur des Plays aufrecht erhält.
Dass er es wenn nötig auch anders kann, zeigt exemplarisch diese Szene im College Playoff Halbfinale gegen Alabama. Murray hat durch den Play Action Fake den Rücken zur Line of Scrimmage, als er sich umdreht, läuft ein freier Rusher auf ihn zu.
Mit einer fließenden Bewegung läuft Murray in die aus seinem Winkel einzige mögliche Lücke und wirft aus dem Lauf heraus einen perfekten Pass. Ein tolles Play.
Kyler Murray als Runner: Explosivität pur
Seine Athletik kommt ihm natürlich auch innerhalb der Play-Designs von Coach Lincoln Riley zugute. Mit seinen schnellen Bewegungen kann er sich blitzartig via Design aus der Pocket bewegen, was einerseits Wurf-Fenster öffnet, andererseits aber auch die Defense zum Reagieren zwingt.
Nicht selten sind spektakuläre Plays die Folge daraus.
Stichwort spektakuläre Plays, und nochmals zurück zum Pressure-Thema - denn hier erinnert Murray tatsächlich an Spieler wie Patrick Mahomes oder Russell Wilson.
Dieses Play gegen Kansas war das spektakulärste Beispiel von dem, was er auch in der Pocket anstellen kann, wenn er selbst kreieren muss und sich nicht mehr auf die Struktur des Plays und die Blocking-Designs verlassen kann.
Murray sucht dabei den Pass und nicht den Run, obwohl er um mehrere Verteidiger herumarbeiten muss. Seine Armstärke erlaubt es ihm, den Ball dann während er zurückweicht dennoch anzubringen und das nicht in Form eines blinden Verzweiflungswurfs - auch in der NFL sieht man derartige Plays nur sehr selten.
Das ist eine Qualität, die stilistische Vergleiche auch mit Patrick Mahomes rechtfertigt. Murray ist ein Quarterback, der kreieren kann, der während des Plays je nach dem Verhalten der Defense eine sich plötzlich öffnende Schwachstelle attackieren kann. Murray kann außerhalb der Struktur spielen, wenn es sein muss - er versucht das aber nicht krampfhaft.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Fähigkeiten, die er als Runner mitbringt. Er ist hier nicht ganz auf dem Level von Lamar Jackson im Vorjahr, der über drei Jahre außergewöhnliche Rushing-Production vorweisen konnte. Murray aber bringt diese Dimension fraglos mit, und wird sie vereinzelt auch in der NFL nutzen können. Der Vorteil: Er ist davon weniger abhängig als Jackson.
Der amtierende Heisman-Trophy-Gewinner hatte in der vergangenen Saison - seine einzige College-Saison als Starter - 1001 Rushing-Yards bei einem Schnitt von 7,2 Yards pro Run sowie zwölf Rushing-Touchdowns. Oft fällt dabei auf, dass er sich selbst gut schützt und gegebenenfalls freiwillig zu Boden geht oder ins Aus läuft, statt um jedes Yard zu kämpfen.