Es war der Running Gag schlechthin während der vergangenen Wochen. Als gleich acht Teams auf die Suche nach neuen Head Coaches gingen, kristallisierte sich ein Muster unweigerlich heraus: der nächste Sean McVay soll es sein!
Ob die Arizona Cardinals, die ein hohes Risiko eingehen und hoffen, in Kliff Kingsbury ihr junges, innovatives, offensives Mastermind gefunden zu haben, die Packers, die Ex-McVay-Assistent Matt LaFleur geholt haben oder die Bengals, die mutmaßlich Rams-QB-Coach Zac Taylor nach dem Super Bowl als neuen Head Coach vorstellen: "der nächste Sean McVay" wurde schon fast eine Redewendung.
Es wurde auch der Inhalt von Memes, Satire-Artikeln und Fragen wie: "wann bekommt eigentlich McVays Gärtner ein Head-Coach-Interview?" Selbst die FOX-Broadcast-Crew um Joe Buck und Troy Aikman wagte einen ähnlichen Scherz während einer Übertragung. Wirklich überraschend allerdings ist diese Tendenz in der Liga nicht.
Die NFL hat eine deutlich sichtbare Entwicklung in Richtung Offense eingeschlagen; auf dem Feld und an der Seitenlinie. Hatten 2010 noch 15 Head Coaches einen offensiven und 17 einen defensiven Hintergrund, so wird sich das Verhältnis 2019 - angenommen Taylor (Cincinnati) und Brian Flores (Miami) werden nach dem Super Bowl wie erwartet vorgestellt - auf 20:12 ändern. Von den acht Teams, die ihren Coach dieses Jahr entlassen haben, wechseln drei (Arizona, Cincinnati, Jets) von einem defensiven auf einen offensiven Coach, nur die Dolphins wählen den umgekehrten Weg.
Als die Rams McVay 2017 zum jüngsten Head Coach seit dem Liga-Zusammenschluss machten - laut ESPN gab es 1938 mit Art Lewis in Cleveland einen noch jüngeren Head Coach, Lewis war damals 27 -, wurde die Situation noch anders wahrgenommen; viele fragten sich, ob der damals 30-jährige McVay nicht noch zu jung für die Aufgabe wäre und wie Spieler auf ihn reagieren, die womöglich vier, fünf und mehr Jahre älter sind als er. Doch die Verpflichtung entpuppte sich als Volltreffer - aber wieso eigentlich?
McVay überstimmt seinen High-School-Coach
Es gibt diese Anekdote aus McVays Tagen als High-School-Quarterback für die Marist War Eagles of Atlanta aus dem Jahr 2003. Zwei Yards fehlten damals mit fünf Punkten im Rückstand zum Touchdown, 20 Sekunden vor dem Ende im Viertelfinale auf dem Weg zur State Championship. Coach Alan Chadwick, der diese Geschichte Jahre später der Wasington Post erzählte, nahm eine Timeout, und als er gerade zum entscheidenden Play-Call angesetzt hatte, unterbrach ihn sein junger Quarterback.
Er wollte, erklärte McVay, die Geschwindigkeit und Aggressivität der gegnerischen Defense gegen sie einsetzen, und bei einem Bootleg-Play-Action-Fake den Ball selbst behalten. Chadwick stimmte zu, McVay behielt Recht und spazierte ungehindert und unberührt zum Game Winner in die Endzone. Marist sollte den Titel einige Wochen später tatsächlich gewinnen.
Was ein wenig klingt wie die von NFL Films nur zu gerne für die ausführlichen Porträts von Football-Legenden effektvoll in Szene gesetzten Anekdoten, beschreibt gut, wie analytisch und fortgeschritten McVay das Spiel schon in jungen Jahren betrachtete. Heute als einer der innovativsten Play-Designer der NFL gefeiert, war er in der High School ein Option-Quarterback, der seine Reads genauso wie die Zuständigkeiten aller Blocker vor sich und die Zuordnungen mit den jeweiligen Verteidigern in der Box lesen und erkennen musste.
"Er hat alles verstanden", berichtete sein späterer College-Coach Shane Montgomery, für den McVay Wide Receiver spielte, der Washington Post. "Er hat die ganze Offense verstanden und war ein großartiger Anführer." McVays Vater Tim, der selbst für Indiana Defensive Back spielte und dessen Vater für die 49ers und Giants als Coach und im Management gearbeitet hatte, fügte hinzu: "Er hat sich in den ganzen intellektuellen Aspekt rein gearbeitet und versucht, sich so einen Vorteil zu verschaffen. Das hat sicher auch die Idee, Coach zu werden, bei ihm weiter gefördert."
Sean McVay - besser als Calvin Johnson?
Wenn man McVay heute auf diese Zeit anspricht, ist er eher zurückhaltend. Vor allem wenn es darum geht, dass der junge, mobile Quarterback Sean McVay 2003 State Player des Jahres in Georgia wurde - vor einem gewissen Calvin "Megatron" Johnson.
"Das war lächerlich", stellte McVay in der L.A. Times klar. "Er war der beste Receiver des Landes, ich war nur jemand, der im State Championship Team alles gegeben hat. Es war eigentlich ein Preis für den Erfolg unseres Teams. Ich glaube niemand hätte damals gesagt: "Sean ist ein besserer Spieler als Calvin Johnson." Aber wir waren das erfolgreichere Team, und dann hat man den Preis eben dem Quarterback gegeben."
In McVays Schule sah man das selbstverständlich anders. Kyle Farmer, inzwischen Profi in der MLB, folgte einige Jahre später auf McVay als Starting-Quarterback für Marist und erinnert sich: "Jeder hat zu ihm aufgesehen. Er war wie ein Gott, wenn er durch die Flure gelaufen ist, einfach weil er so gut war. Aber gleichzeitig blieb er komplett auf dem Boden und war ein ganz normaler Typ."
Sean McVay lernt unter Jon Gruden
McVays High-School-Erfolge übertrugen sich allerdings nicht auf das nächste Level. Für Miami (Ohio) fing er, zum Receiver umgeschult, in drei Jahren 39 Bälle für 312 Yards. Ein College-Touchdown blieb ihm verwehrt, den Football wollte McVay aber auch nach seinem Uni-Abschluss nicht verlassen - und in dieser wegbereitenden Phase profitierte McVay von alten Familienfreunden.
Die McVays waren als Football-Familie über mehrere Generationen gut vernetzt, vor allem mit den Grudens war man seit vielen Jahren befreundet und der junge Sean hatte eine Beziehung zu Jon Gruden aufgebaut. Der war, als McVay 2008 frisch aus dem College seinen nächsten Schritt plante, in den letzten Zügen seiner Amtszeit als Head Coach der Tampa Bay Buccaneers und bot McVay einen Job an.
Es war die Art "Mädchen für alles"-Job, die in der NFL schon für viele den Einstieg bedeutete. Aber es war ein NFL-Job, und wie Seans Vater Tim anmerkte: "Wie viele Kids werden schon direkt aus dem College in der NFL angestellt? Das sind wirklich nicht viele. Plötzlich war er einer der Assistenten von Jon, und er hat sich dieser Aufgabe komplett verschrieben."